Beschluss vom 24.08.2023 -
BVerwG 7 B 5.23ECLI:DE:BVerwG:2023:240823B7B5.23.0

  • Zitiervorschlag

    BVerwG, Beschluss vom 24.08.2023 - 7 B 5.23 - [ECLI:DE:BVerwG:2023:240823B7B5.23.0]

Beschluss

BVerwG 7 B 5.23

  • VG Gera - 02.03.2017 - AZ: 5 K 256/16 Ge
  • OVG Weimar - 12.12.2022 - AZ: 1 KO 358/17

In der Verwaltungsstreitsache hat der 7. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
am 24. August 2023
durch den Präsidenten des Bundesverwaltungsgerichts Prof. Dr. Korbmacher, die Richterin am Bundesverwaltungsgericht Bähr und
den Richter am Bundesverwaltungsgericht Dr. Seidel
beschlossen:

  1. Die Beschwerde der Klägerin gegen die Nichtzulassung der Revision in dem Urteil des Thüringer Oberverwaltungsgerichts vom 12. Dezember 2022 wird zurückgewiesen.
  2. Die Klägerin trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.
  3. Der Wert des Streitgegenstandes wird für das Beschwerdeverfahren auf 46 370 € festgesetzt.

Gründe

I

1 Die Klägerin begehrt die Erteilung der immissionsschutzrechtlichen Genehmigung zur Errichtung und zum Betrieb einer Anlage zum Halten und zur Mast von Schweinen mit 4 784 Schweinemastplätzen. Das Verwaltungsgericht hob den Versagungsbescheid vom 24. Februar 2016 auf und verpflichtete den Beklagten, den Antrag der Klägerin auf Genehmigungserteilung unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts erneut zu verbescheiden. Das Oberverwaltungsgericht hat der Berufung des Beklagten stattgegeben und die Klage unter Abänderung des erstinstanzlichen Urteils insgesamt abgewiesen. Die Revision gegen sein Urteil hat das Oberverwaltungsgericht nicht zugelassen. Hiergegen richtet sich die Beschwerde der Klägerin.

II

2 Die auf die Zulassungsgründe des § 132 Abs. 2 Nr. 1 und 2 VwGO gestützte Beschwerde hat keinen Erfolg.

3 1. Die Rechtssache hat nicht die ihr von der Klägerin beigemessene grundsätzliche Bedeutung.

4 Grundsätzlich bedeutsam i. S. v. § 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO ist eine Rechtssache dann, wenn in dem angestrebten Revisionsverfahren die Klärung einer bisher höchstrichterlich ungeklärten, in ihrer Bedeutung über den der Beschwerde zugrundeliegenden Einzelfall hinausgehenden, klärungsbedürftigen und entscheidungserheblichen Rechtsfrage des revisiblen Rechts (§ 137 Abs. 1 VwGO) zu erwarten ist. In der Beschwerdebegründung muss gemäß § 133 Abs. 3 Satz 3 VwGO dargelegt werden, dass und inwiefern diese Voraussetzungen vorliegen (stRspr, vgl. BVerwG, Beschluss vom 28. Juli 2022 - 7 B 15.21 - NVwZ 2022, 1634 Rn. 7).

5 An diesen Voraussetzungen fehlt es hier. Ob die Beschwerde mit Blick auf Nr. 5.4.7.1 Buchst. h der Neufassung der Ersten Allgemeinen Verwaltungsvorschrift zum Bundes-Immissionsschutzgesetz (Technische Anleitung zur Reinhaltung der Luft - TA Luft) vom 18. August 2021 (GMBl. 2021, Nr. 48-54 S. 1050) (im Folgenden TA Luft <n. F.>), die für Stallgebäude der vorliegenden Art nunmehr Abluftreinigungsanlagen vorsieht, auslaufendes Recht betrifft und auch deshalb die grundsätzliche Bedeutung zu verneinen ist (vgl. BVerwG, Beschluss vom 30. Januar 2017 - 10 B 10.16 - Buchholz 355 RDG Nr. 53 Rn. 3), bleibt offen.

6 a) Hinsichtlich der von der Klägerin als rechtsgrundsätzlich angesehenen Frage,
"welche Anforderungen an die wirtschaftliche Eignung einer emissionsbegrenzenden Maßnahme zu stellen sind, damit sie als Stand der Technik im Sinne von § 3 Abs. 6 Satz 1 BImSchG angesehen werden kann",
ist in der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts geklärt, dass der Stand der Technik ein genereller Maßstab ist, für den die Umstände des jeweiligen Einzelfalls keine Rolle spielen. Das gilt auch für die Prüfung der Verhältnismäßigkeit von Aufwand und Nutzen. Maßgebend für die sogenannte wirtschaftliche Eignung ist, ob der wirtschaftliche Aufwand für eine emissionsbegrenzende Maßnahme einem durchschnittlichen Betreiber einer Anlage der bestimmten Art unter in dem betreffenden industriellen Sektor wirtschaftlich und technisch vertretbaren Verhältnissen zugemutet werden kann. Die wirtschaftliche Lage des betroffenen Betreibers und die jeweiligen Gegebenheiten in der Nachbarschaft seiner Anlage sind hierfür ohne Bedeutung (vgl. BVerwG, Urteil vom 23. Juli 2015 - 7 C 10.13 - BVerwGE 152, 319 Rn. 18; Beschluss vom 13. Januar 2021 - 4 B 23.20 - juris Rn. 5).

7 Die aufgeworfene Frage zielt auf eine weitere Konkretisierung der Maßstäbe der wirtschaftlichen Eignung. Insofern entzieht sie sich aufgrund ihrer weiten Ausrichtung einer Beantwortung in verallgemeinerungsfähiger Form und damit einer rechtsgrundsätzlichen Klärung. Sie betrifft eine Vielzahl denkbarer, differenziert zu betrachtender Fallgestaltungen und könnte deshalb nur im Stil eines Kommentars oder Lehrbuchs beantwortet werden. Das ist jedoch nicht Ziel eines Revisionsverfahrens (stRspr, vgl. BVerwG, Beschluss vom 30. Dezember 2021 - 7 BN 2.21 - juris Rn. 21 m. w. N.). Dies gilt auch, soweit es die Beschwerdebegründung für klärungsbedürftig hält, ob, unter welchen Voraussetzungen und in welcher Art und Weise auf die Einschätzung von Fachkreisen abgestellt werden kann.

8 Im Übrigen kommt es auf die gestellte Frage nicht entscheidungserheblich an. Auch wenn das angegriffene Berufungsurteil unter Bezugnahme auf ein Gutachten des Umweltbundesamts aus dem Jahr 2016 dazu tendiert, die wirtschaftliche Eignung einer Abluftreinigungsanlage für das beantragte Vorhaben zu bejahen (UA S. 29 oben), war dies im Ergebnis nicht entscheidungsrelevant. Das Oberverwaltungsgericht stellt ausdrücklich klar, dass es "hier keiner abschließenden Entscheidung darüber" bedürfe, "ob der Annahme des Standes der Technik im vorliegenden Fall entgegenstehen kann, dass der Klägerin der Einbau einer Abluftreinigungsanlage möglicherweise wirtschaftlich nicht zumutbar ist" (UA S. 26). Letztlich war für das Berufungsgericht für die Klageabweisung allein tragend, dass − gerade unabhängig von der wirtschaftlichen Eignung bzw. Zumutbarkeit (hierzu UA S. 26 bis 29 oben) − das (allgemeine) Vorsorgegebot des § 5 Abs. 1 Nr. 2 Bundes-Immissionsschutzgesetz (BImSchG) den vom Beklagten geforderten Einbau der Abluftreinigungsanlage gebietet. Das ergibt sich auch aus der konkreten, fallbezogenen Prüfung der Verhältnismäßigkeit zum (allgemeinen) Vorsorgegebot auf den vorliegenden Fall (UA S. 30 ff.). Unklarheiten darüber, was das Berufungsgericht als tragende Erwägung betrachtet hat, bestehen entgegen der Auffassung der Beschwerde nicht. Eine im Urteil offengelassene Frage, auf die es aus Sicht des entscheidenden Gerichts nicht angekommen ist, trägt eine Entscheidung nicht und vermag mangels Entscheidungserheblichkeit die Zulassung der Revision nicht zu rechtfertigen (BVerwG, Beschluss vom 17. Oktober 2012 - 8 B 47.12 - NVwZ-RR 2013, 97 Rn. 9).

9 b) Auch die weitere Frage,
"ob es gegen Unionsrecht verstößt, wenn in Deutschland der Einbau und Betrieb einer Abluftreinigungsanlage allgemein als Stand der Technik im Sinne von § 3 Abs. 6 BImSchG angesehen und nach § 5 Abs. 1 Nr. 2 und § 6 Abs. 1 Nr. 1 BImSchG zur Genehmigungsvoraussetzung von der IE-Richtlinie unterfallenden Tierhaltungsanlagen gemacht wird, obwohl dies in den einschlägigen BVT-Schlussfolgerungen nicht als allgemein anwendbar vorgesehen ist",
rechtfertigt nicht die Zulassung der Revision wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache.

10 aa) Der Frage fehlt die Klärungsbedürftigkeit, weil sie sich auf der Grundlage der vorhandenen Rechtsprechung mithilfe der üblichen Regeln sachgerechter Gesetzesinterpretation ohne Weiteres beantworten lässt. Nach dem einschlägigen primären und sekundären Gemeinschaftsrecht steht außer Frage, dass die Mitgliedstaaten für Anlagen, die der Richtlinie 2010/75/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 24. November 2010 über Industrieemissionen (integrierte Vermeidung und Verminderung der Umweltverschmutzung) (im Folgenden IE-Richtlinie) unterfallen, allgemein eine Technik zur Genehmigungsvoraussetzung machen können, die in BVT-Schlussfolgerungen über die besten verfügbaren Techniken nicht als allgemein anwendbar ausgewiesen sind. Die unionsrechtlichen Vorgaben sind in diesen Punkten eindeutig, so dass es keiner Vorabentscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Union nach Art. 267 Abs. 3 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) bedarf (vgl. EuGH, Urteil vom 15. September 2005 - C-495/03 [ECLI:​EU:​C:​2005:​552] - Rn. 33).

11 Rechtsakte des sekundären Gemeinschaftsrechts, die − wie die IE-Richtlinie − aufgrund des Art. 192 AEUV erlassen worden sind, hindern die Mitgliedstaaten nicht, verstärkte Schutzmaßnahmen beizubehalten oder zu ergreifen, Art. 193 Satz 1 AEUV. Im Umweltbereich verfolgt primäres Gemeinschaftsrecht keine vollständige Harmonisierung (EuGH, Urteil vom 22. Juni 2000 - C-318/98 [ECLI:​EU:​C:​2000:​337] - NVwZ 2001, 313 Rn. 46). Erwägungsgrund Nr. 10 der IE-Richtlinie bestätigt dies für auf dieser Richtlinie beruhende Schutzmaßnahmen. Durch die Annahme im Berufungsurteil, eine Abluftreinigungsanlage sei für das streitgegenständliche Vorhaben entweder als eine dem Stand der Technik entsprechende Maßnahme oder als eine (allgemeine) Vorsorgemaßnahme gemäß § 5 Abs. 1 Nr. 2 BImSchG (UA S. 29) anzusehen, werden weder unter Verstoß gegen Art. 193 AEUV die Ziele des gemeinschaftsrechtlichen Umweltschutzes qualitativ geändert oder unterwandert noch ansonsten vom Gemeinschaftsrecht abweichende Ziele verfolgt (vgl. EuGH, Urteil vom 14. April 2005 - C-6/03 [ECLI:​EU:​C:​2005:​222] - NVwZ 2005, 794 Rn. 49). Dies folgt schon daraus, dass Art. 14 Abs. 4 Satz 1 IE-Richtlinie, der gemäß Art. 10 IE-Richtlinie i. V. m. Nr. 6.6. Buchst. b Anhang I zur IE-Richtlinie auf die vorliegend streitgegenständliche Anlage Anwendung findet, ausdrücklich vorsieht, dass die zuständige Behörde unbeschadet des Art. 18 IE-Richtlinie strengere Genehmigungsauflagen vorsehen darf, als sie mit der Verwendung der in den BVT-Schlussfolgerungen beschriebenen besten verfügbaren Techniken einzuhalten sind; die Mitgliedstaaten können nach Satz 2 des Art. 14 Abs. 4 IE-Richtlinie Regeln festlegen, nach denen die zuständige Behörde solche strengeren Auflagen vorgeben kann. Damit ergibt sich auch aus dem sekundären Gemeinschaftsrecht eindeutig, dass einschlägige BVT-Schlussfolgerungen nur einen Mindeststandard vorgeben (vgl. auch BT-Drs. 14/4599 S. 126), nicht aber einem Mitgliedstaat verbieten, generelle Vorgaben für den Stand der Technik sowie Vorsorgeanforderungen als Genehmigungsvoraussetzungen zu reglementieren, die über BVT-Schlussfolgerungen hinausgehen. Insofern fordert die IE-Richtlinie keine Kohärenz einzelstaatlicher Vorgaben (vgl. auch EuGH, Urteile vom 29. September 1999 - C-232/97 [ECLI:​EU:​C:​1999:​459] - NVwZ 2000, 541 Rn. 54 ff. sowie vom 15. April 2010 - C-64/09 [ECLI:​EU:​C:​2010:​197] - Rn. 35 f.).

12 Zudem nennen BVT 13 Buchst. d und BVT 30 Buchst. c des Anhangs zum Durchführungsbeschluss (EU) 2017/302 der Kommission vom 15. Februar 2017 über Schlussfolgerungen zu den besten verfügbaren Techniken (BVT) gemäß der Richtlinie 2010/75/EU des Europäischen Parlaments und des Rates in Bezug auf die Intensivhaltung oder -aufzucht von Geflügel und Schweinen (vom 21. Februar 2017 ABl. L 43, S. 231 <246, 257>) zwar den Einsatz eines Abluftreinigungssystems als praktisch geeignete Technik zur Reduzierung von Geruchs- und Ammoniakemissionen. Dies wird aber in der jeweils zugehörigen Tabellenspalte "Anwendbarkeit" dahingehend relativiert, dass diese Technik aufgrund der hohen Umsetzungskosten möglicherweise nicht allgemein anwendbar sei. Mit dieser Einschränkung setzen die BVT-Schlussfolgerungen mit Blick auf das Kosten-Nutzen-Verhältnis und die Frage des wirtschaftlich Vertretbaren (vgl. Art. 3 Nr. 10 Buchst. b IE-Richtlinie) gerade keinen die Mitgliedstaaten bei der Umsetzung und Anwendung ihres nationalen Rechts in irgendeine Richtung bindenden generalisierenden Standard, sondern lassen die Einstufung als beste verfügbare Techniken vielmehr offen.

13 bb) Der speziell auf generalisierende Vorgaben für den Stand der Technik und ihr Verhältnis zu BVT-Schlussfolgerungen zugeschnittenen Frage fehlt zudem die Entscheidungserheblichkeit. Das Oberverwaltungsgericht hat − wie oben ausgeführt − die Klageabweisung entscheidungstragend damit begründet, dass die vom Beklagten geforderte Abluftreinigungsanlage unabhängig vom Vorliegen der Voraussetzungen des Stands der Technik auch nach den allgemeinen Voraussetzungen des Vorsorgegebots Genehmigungsvoraussetzung sei.

14 c) Die Klägerin misst schließlich der Frage,
"wie die Bagatell- bzw. Irrelevanzschwelle, bei deren Unterschreiten in Folge des Grundsatzes der Risikoproportionalität emissionsbegrenzende Maßnahmen aus Vorsorgegründen nicht angeordnet werden dürfen, in Bezug auf Gerüche zu bestimmen ist",
erfolglos grundsätzliche Bedeutung bei.

15 aa) In der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts ist geklärt, dass dem Stand der Technik keine Sperrwirkung für über diesen Stand hinausgehende Vorsorgemaßnahmen zukommt. Gemäß § 5 Abs. 1 Nr. 2 BImSchG ist Vorsorge "insbesondere" durch die dem Stand der Technik entsprechenden Maßnahmen zu treffen. Vorsorge kann im Einzelfall auch über den Stand der Technik hinausgehen. Eine Maßnahme zur Emissionsbegrenzung kann mithin auch dann eine erforderliche und wirtschaftlich zumutbare Vorsorgemaßnahme sein, wenn sie zur Emissionsminderung praktisch geeignet ist, aber aus wirtschaftlichen Gründen noch nicht dem Stand der Technik als "Regelstandard" entspricht. Ist eine über den Stand der Technik hinausgehende emissionsmindernde Maßnahme weder in einer Rechtsverordnung (§ 7 BImSchG) noch in einer normkonkretisierenden Verwaltungsvorschrift (§ 48 BImSchG) vorgegeben, kann in unmittelbarer Anwendung des § 5 Abs. 1 Nr. 2 BImSchG auf den jeweiligen Einzelfall entschieden werden, ob diese verhältnismäßig und damit geboten ist. Vorsorge muss dann nach Umfang und Ausmaß dem Risikopotential der Immissionen, die sie verhindern soll, proportional sein. Der Grundsatz der Risikoproportionalität setzt eine Bagatellgrenze voraus, bei deren Unterschreitung emissionsbegrenzende Maßnahmen nicht angeordnet werden dürfen (vgl. BVerwG, Urteil vom 23. Juli 2015 - 7 C 10.13 - BVerwGE 152, 319 Rn. 16, 21 ff.).

16 bb) Die Klägerin strebt mit ihrer Frage eine Konkretisierung der Bagatellgrenze im Vorsorgebereich an. Sie will geklärt wissen, wie diese für alle denkbaren Fallgestaltungen in Bezug auf Gerüche zu bestimmen ist. Dies kann nicht abstrakt als Rechtsfrage beantwortet werden, sondern hängt von den tatsächlichen Gegebenheiten des Einzelfalls ab. Der Zulassungsgrund des § 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO zielt nicht auf die Gewährung von Einzelfallgerechtigkeit, sondern auf die abstrakte Klärung verallgemeinerungsbedürftiger Rechtsfragen (vgl. BVerwG, Beschluss vom 20. April 2023 - 9 B 10.23 - juris Rn. 7).

17 cc) Soweit die Klägerin der Sache nach geklärt wissen will, ob bei Gerüchen auch im Vorsorgebereich bei der Bestimmung der Bagatell- bzw. Irrelevanzschwelle auf Nr. 3.3 der Geruchsimmissions-Richtlinie vom 29. Februar 2008, ergänzt am 10. September 2008 (GIRL) zurückgegriffen werden kann, kommt auch dem keine grundsätzliche Bedeutung i. S. v. § 132 Abs. 1 Nr. 1 VwGO zu.

18 Die GIRL soll ausschließlich Anforderungen konkretisieren, die sich aus der Schutzpflicht des § 5 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 BImSchG ergeben. Sie soll die Bewertung erleichtern, ob eine Geruchsimmission als erheblich und damit als schädliche Umwelteinwirkung anzusehen ist (vgl. Nr. 1 GIRL). Da der Bereich der Vorsorge gemäß § 5 Abs. 1 Nr. 2 BImSchG über die Anforderungen zum Schutz der Allgemeinheit und der Nachbarschaft vor schädlichen Umwelteinwirkungen i. S. v. § 5 Abs. 1 Nr. 1 BImSchG hinausgeht, ist schon fraglich, ob Nr. 3.3 GIRL überhaupt Aussagekraft für den Inhalt und die Reichweite des Vorsorgegebotes zukommen kann (vgl. BVerwG, Beschluss vom 22. Mai 2014 - 7 B 3.14 - Buchholz 406.25 § 17 BImSchG Nr. 5 Rn. 9). Dies kann offenbleiben. Denn unabhängig hiervon kann die Einschlägigkeit eines bestimmten Kriteriums der GIRL nicht Gegenstand einer zu klärenden Rechtsfrage sein.

19 In die TA Luft <n. F.> sind zwar nunmehr wesentliche Teile der GIRL aufgenommen worden, Nr. 2.1 Buchst. c, Nr. 4.3.2 Abs. 2 TA Luft <n. F.> i. V. m. Anhang 7 TA Luft <n. F.>. Soweit damit den bisherigen Vorgaben der GIRL als Bestandteil der TA Luft die Qualität einer normkonkretisierenden Verwaltungsvorschrift zukommt (vgl. Müggenborg, jurisPR-UmwR 4/2022 Anm. 4; allg. BVerwG, Urteil vom 21. Juni 2001 - 7 C 21.00 - NVwZ 2001, 1165 f.), greift dies für die vorliegende Fallgestaltung wegen Nr. 8 TA Luft <n. F.> nicht, weil nach dem insofern nicht angegriffenen Berufungsurteil (UA S. 19 ff.) vor dem 1. Dezember 2021 ein vollständiger Genehmigungsantrag gestellt wurde (vgl. BVerwG, Urteil vom 15. September 2022 - 4 C 3.21 - NVwZ 2023, 928 Rn. 13). Es ist hier daher von der bisherigen Rechtslage auszugehen, wonach die − nicht in die TA Luft integrierte − GIRL weder Rechtsvorschrift noch Verwaltungsvorschrift ist, sondern als technisches Regelwerk nur als Orientierungshilfe, nicht aber rechtssatzmäßig (schematisch) im Sinne einer Grenzwertregelung angewendet werden darf (BVerwG, Urteile vom 27. Juni 2017 - 4 C 3.16 - BVerwGE 159, 187 Rn. 12 und vom 15. September 2022 - 4 C 3.21 - a. a. O. Rn. 14). Eine solche Anwendung der GIRL im Rahmen einer Würdigung der Umstände des Einzelfalls ist nicht Rechtsanwendung, sondern auf der Grundlage zusammengefassten technischen Wissens Tatsachenfeststellung und daher nicht revisibel (vgl. BVerwG, Beschlüsse vom 4. Dezember 2018 - 4 B 3.18 - BRS 86 Nr. 158 <GIRL> und vom 19. Oktober 2022 - 7 B 19.21 - NVwZ-RR 2023, 95 Rn. 9 <LAI-Leitfaden>).

20 Sollte es der Klägerin (auch) um die Klärung der Frage gehen, ob bei Unterschreiten der (immissionsbezogenen) Relevanzschwelle gemäß Nr. 3.3 GIRL in der Umgebung die Bagatellgrenze für eine Vorsorgemaßnahme i. S. v. § 5 Abs. 1 Nr. 2 BImSchG nicht erreicht sei, fehlte diesbezüglich die Entscheidungserheblichkeit ebenfalls. Denn das Berufungsgericht ist ausdrücklich nur für die Ortschaft G. von irrelevanten Geruchsbelastungen ausgegangen (UA S. 32) und hat mithin in Übereinstimmung mit der im Genehmigungsverfahren vorgelegten, von der Klägerin nicht infrage gestellten Geruchs- und Staubimmissionsprognose vom 21. Dezember 2015 (S. 25, Tabelle 3) implizit eine Überschreitung des Relevanzwerts der GIRL von 0,02 (relative Häufigkeit der Geruchsstunden) an diversen anderen Orten in der Umgebung zugrunde gelegt. Insofern trifft zudem der Vorwurf in der Beschwerdebegründung, das Oberverwaltungsgericht habe auf jegliche Ermittlung und Beurteilung der Geruchsimmissionsbelastung durch das Vorhaben verzichtet, nicht zu.

21 2. Die Revision ist nicht deshalb zuzulassen, weil das Urteil von einer Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts abweicht und auf dieser Abweichung beruht (§ 132 Abs. 2 Nr. 2 VwGO).

22 Eine die Revision eröffnende Divergenz ist nur dann im Sinne von § 133 Abs. 3 Satz 3 VwGO hinreichend bezeichnet, wenn die Beschwerde einen inhaltlich bestimmten, die angefochtene Entscheidung tragenden Rechtssatz benennt, mit dem die Vorinstanz einem in der Rechtsprechung (unter anderem) des Bundesverwaltungsgerichts aufgestellten ebensolchen entscheidungstragenden Rechtssatz in Anwendung derselben Rechtsvorschrift widersprochen hat (BVerwG, Beschluss vom 19. Oktober 2022 - 7 B 19.21 - NVwZ-RR 2023, 95 Rn. 13). Daran fehlt es hier.

23 a) Die Beschwerdebegründung (S. 48) geht zu Unrecht davon aus, dass im angegriffenen Berufungsurteil im Widerspruch zur Rechtsprechung des Senats im Urteil vom 23. Juli 2015 - 7 C 10.13 - (BVerwGE 152, 319) die Rechtsauffassung vertreten werde, die wirtschaftliche Zumutbarkeit einer über den Stand der Technik hinausgehenden emissionsbegrenzenden Vorsorgemaßnahme im Einzelfall sei anhand eines generellen, von den konkreten Umständen losgelösten Maßstabs zu beurteilen.

24 Das Oberverwaltungsgericht hat ausgeführt, dass selbst wenn die vom Beklagten geforderte Abluftreinigungsanlage aufgrund wirtschaftlicher Gründe noch nicht dem Stand der Technik entsprechend anzusehen wäre, sich der Einsatz einer solchen Reinigungsanlage in der geplanten zwangsbelüfteten Schweinemast jedenfalls als erforderliche und zumutbare (allgemeine) Vorsorgemaßnahme i. S. v. § 5 Abs. 1 Nr. 2 BImSchG erweise. Während das Berufungsgericht sodann zunächst zu Recht betont, dass im Anwendungsbereich des § 3 Abs. 6 BImSchG hinsichtlich wirtschaftlicher Zumutbarkeitsfragen ein genereller Maßstab anzulegen ist, kommt es am Absatzende (UA S. 29 unten, 30 oben) ersichtlich wieder auf eine konkrete einzelfallbezogene Betrachtung am Maßstab des allgemeinen Vorsorgegebots außerhalb des Stands der Technik zurück. Dies steht mit den Ausführungen in Randnummer 26 der Entscheidung des Senats vom 23. Juli 2015 - 7 C 10.13 - (BVerwGE 152, 319), die das Oberverwaltungsgericht zitiert (UA S. 30) in Einklang. Danach ist die Entscheidung, ob eine über den Stand der Technik hinausgehende Abluftbehandlung verhältnismäßig und damit geboten ist, eine Entscheidung des Einzelfalles, bei der der wirtschaftliche Aufwand für den Betreiber ins Verhältnis zu den mit den mit der Abluftbehandlung zu erreichenden günstigen Wirkungen für die Nachbarschaft zu setzen ist. Bei der Errichtung einer neuen Anlage kann die Vorsorgepflicht nicht nur dazu zwingen, die Art und Weise des Anlagenbetriebs zu modifizieren; sie kann auch der Genehmigungsfähigkeit der Anlage am gewählten Standort entgegenstehen.

25 b) Entgegen dem Vorbringen in der Beschwerdebegründung (S. 52 f.) ist im angegriffenen Berufungsurteil kein Rechtssatz aufgestellt worden, wonach die für die Forderung einer Vorsorgemaßnahme im Einzelfall erforderliche Abwägung zwischen den konkreten Folgen für den Anlagenbetreiber und den erwarteten positiven Auswirkungen auf die Nachbarschaft der Anlage keine Ermittlung der von der konkreten Anlage ausgehenden Auswirkungen fordere und unabhängig von der Ermittlung der Zusatzbelastung und der Überschreitung einer Bagatellgrenze zugunsten der Emissionsbegrenzung ausfallen könne.

26 Die Beschwerde beanstandet hier unter Rekurs auf die Senatsentscheidung vom 23. Juli 2015 - 7 C 10.13 - (BVerwGE 152, 319 Rn. 24) in der Sache die Würdigung der Einzelfallumstände durch das Oberverwaltungsgericht, das es aus ihrer Sicht bei der Rechtsanwendung rechtswidrig unterlassen habe, zumindest überschlägig zu ermitteln, in welchem Umfang der Betrieb der Anlage zu einer zusätzlichen Immissionsbelastung in der Nachbarschaft führe, um hierauf aufbauend das Besorgnispotential der Zusatzbelastung zu beurteilen. Das Infragestellen der rechtlichen Richtigkeit des Rechtsanwendungsprozesses und -ergebnisses eröffnet die revisionsgerichtliche Prüfung über § 132 Abs. 2 Nr. 2 VwGO nicht (BVerwG, Beschluss vom 8. Dezember 2022 - 7 B 20.22 - juris Rn. 4). Im Übrigen trifft der Vorwurf in der Beschwerdebegründung, das Oberverwaltungsgericht habe auf jegliche Ermittlung und Bewertung der durch das klägerische Vorhaben verursachten Geruchsimmissionsbelastung verzichtet, nicht zu, siehe oben 1. c) cc).

27 c) Die Voraussetzungen der Divergenzzulassung gemäß § 132 Abs. 2 Nr. 2 VwGO sind schließlich nicht erfüllt, soweit die Beschwerdebegründung (S. 44 ff.) dem Oberverwaltungsgericht vorwirft, es habe in Abweichung von der Entscheidung des Senats vom 23. Juli 2015 - 7 C 10.13 - (BVerwGE 152, 319) den Stand der Technik unabhängig von der wirtschaftlichen Zumutbarkeit bestimmt.

28 Unabhängig davon, ob das Oberverwaltungsgericht tatsächlich − implizit − einen konträren Rechtssatz aufgestellt oder einen in der Entscheidung vom 23. Juli 2015 aufgestellten Rechtssatz lediglich falsch angewendet bzw. sich lediglich − wie der Beklagte im Beschwerdeverfahren vorträgt − sprachlich ungeschickt ausgedrückt hat, betrifft der von der Klägerin geltend gemachte Einwand jedenfalls nicht den sich in den Entscheidungsgründen des Berufungsurteils unmittelbar anschließenden, weiteren Begründungsstrang, wonach sich der Einsatz der geforderten Reinigungsanlage − selbst wenn die Abluftbehandlung in der Schweinemast aus wirtschaftlichen Gründen noch nicht Stand der Technik wäre − jedenfalls als erforderliche und zumutbare (allgemeine) Vorsorgemaßnahme i. S. v. § 5 Abs. 1 Nr. 2 BImSchG erweise.

29 Die beiden Begründungsstränge − vgl. auch oben 2. a) − schließen sich denklogisch nicht gegeneinander aus (vgl. Buchheister, in: Schoch/Schneider, Verwaltungsrecht, Stand: März 2023, § 132 VwGO Rn. 80). Eine dem Stand der Technik entsprechende Maßnahme ist, wie der Gesetzeswortlaut ("insbesondere") zeigt, lediglich ein Unterfall einer Vorsorgemaßnahme − vgl. auch oben 1. c) aa). Ist die Berufungsentscheidung aber auf mehrere selbstständig tragende Begründungen gestützt worden (sog. kumulative Mehrfachbegründung), kann die Revision nur zugelassen werden, wenn hinsichtlich jeder dieser Begründungen ein Revisionszulassungsgrund aufgezeigt wird und vorliegt (vgl. BVerwG, Beschluss vom 19. Oktober 2022 - 7 B 19.21 - NVwZ-RR 2023, 95 Rn. 11). Die Klägerin vermochte mit ihrer Beschwerdebegründung indes hinsichtlich des − von der Rechtsanwendung des Begriffs des Stands der Technik unabhängigen, allein auf das allgemeine Vorsorgegebot bezogenen − weiteren Begründungsstrangs keinen Revisionszulassungsgrund darzulegen, siehe oben 1. c) und 2. a) und b).

30 Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO. Die Festsetzung des Streitwerts beruht auf § 47 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 3 i. V. m. § 52 Abs. 1 GKG.