Historisches Foto der Reichsgerichtsbibliothek

Reichsgerichtsbibliothek

Das Reichsgericht übernahm bei seiner Gründung im Jahre 1879 als bibliothekarische Grundausstattung die Bibliothek des ehemaligen Reichsoberhandelsgerichts. Der Bestand belief sich auf 20.000 Bände.

Bestandsausbau

Unter der engagierten Leitung des ersten Bibliotheksdirektors Karl Schulz entwickelte sich die Reichsgerichtsbibliothek zur größten und bedeutendsten juristischen Bibliothek Deutschlands. Die zeitgenössische Fachliteratur wurde vollständig gekauft. Darüber hinaus erwarb Karl Schulz, u. a. auf zahlreichen Reisen nach Italien, in großem Umfang antiquarische Literatur. Darunter waren auch 500 oberitalienische Stadtstatuten; keine Bibliothek außerhalb Italiens weist eine solch wertvolle Sammlung italienischer Stadtrechte auf. Die seit 1800 erschienene juristische Literatur war fast vollständig vorhanden. Vor 1800 erschienene Titel lagen in größerer und repräsentativer Auswahl vor. Darunter waren auch handgeschriebene Werke und 238 Wiegendrucke.

Karl Schulz als „Gründungsvater“ und Gestalter der Reichsgerichtsbibliothek

Portrait von Karl Schulz

Karl Schulz, geboren 1844 in Salzungen, studierte Rechtswissenschaften in Heidelberg, Berlin und Jena. 1867 schloss er das Studium mit dem Referendarexamen und einer Dissertation ab und arbeitete an verschiedenen Thüringer Gerichten. Nach seinem Assessorexamen 1872 habilitierte er sich mit einer Arbeit über den Sachsenspiegel. Im Folgenden hielt er Vorlesungen über Deutsche Rechtsgeschichte, Deutsches Privatrecht, Wechselrecht und den Sachsenspiegel. Nach einer bibliothekarischen Unterweisung in der Universitätsbibliothek Jena nahm Karl Schulz am 1. Oktober 1879 seine Tätigkeit als erster Bibliothekar des Reichsgerichts auf. Er übte dieses Amt 38 Jahre lang aus. Neben seiner bibliothekarisch-juristischen Tätigkeit galt seine Leidenschaft dem Bergsteigen im alpinen Hochgebirge. Er nahm an der ersten führerlosen Überschreitung des Matterhorns sowie an der Erstbegehung der Bietschhorn-Südwand teil. Seine Erfahrungen, Beobachtungen und Tourenbeschreibungen veröffentlichte er in alpinen Fachzeitschriften. Am 1. April 1917 trat Karl Schulz im Alter von 73 Jahren in den Ruhestand und zog nach München, wo er 1929 verstarb.

Das Schicksal der Bibliothek während der beiden Weltkriege

Die Bibliothek des Reichsgerichts verfügte zu Beginn des Erstens Weltkriegs über einen Bestand von 170.000 Bänden. Während und nach dem Ersten Weltkrieg musste sie einen rigorosen Sparkurs steuern. Der Erwerb nichtjuristischer Literatur wurde stark eingeschränkt. Erstmals wurde überflüssig erscheinender Bestand verkauft. Die Mitglieder des Reichsgerichts sollten der Bibliothek kostenlos eigene wissenschaftliche Publikationen sowie ihnen überlassene Rezensionsexemplare zukommen lassen. Verleger gewährten Preisermäßigungen.

Im Zweiten Weltkrieg war die Stadt Leipzig wiederholt schweren Luftangriffen ausgesetzt. Schon nach den ersten Angriffen ließ der damalige Bibliotheksleiter Paul Güntzel einen Großteil der Bibliothek in die Kellergewölbe des Reichsgerichts, den Keller des Völkerschlachtdenkmals sowie in ein Bergwerk in Anhalt auslagern. Nach einem Luftangriff am 6. April 1945 war das viergeschossige Bibliotheksmagazin im Nordflügel des Gebäudes nicht mehr benutzbar; der Katalograum brannte völlig aus. Von dem Gesamtbestand der Bibliothek von rund 300.000 Bänden wurden etwa 20.000 zerstört.

Die Bibliothek in der Nachkriegszeit

Seit Oktober 1945 unterstand die Reichsgerichtsbibliothek dem Leipziger Landgerichtspräsidenten und war in die Verwaltung des Landes Sachsen eingegliedert. In den ersten Nachkriegsjahren wurde der Bestand nicht nur von Richtern, Anwälten und wissenschaftlich arbeitenden Juristen, sondern auch von den Professoren und Studenten der juristischen Fakultät der Leipziger Universität genutzt. Der Ausbau erfolgte mit dem Ziel, die Bibliothek wieder bei einem höchsten deutschen Gericht anzusiedeln.

Die Reichsgerichtsbibliothek als Teil der Bibliothek des Obersten Gerichts der DDR

Im Herbst 1950 wurde die Bibliothek von Leipzig nach Berlin in das Gebäude des Obersten Gerichts der DDR transportiert. In den Folgejahren führte sie ein Schattendasein, juristisches Schrifttum vor 1945 benötigte das Oberste Gericht nicht. Als es 1974 in neue Räume umzog, war für die Reichgerichtsbibliothek bis auf 10.000 Bände kein Platz. Große Teile des nichtjuristischen Bestandes erhielt die Deutsche Staatsbibliothek, andere Teile wurden vernichtet oder zur Devisenbeschaffung verkauft. Den als erhaltenswert angesehenen Teil der Bibliothek lagerte man in die Staatsreserve nach Oranienburg aus. Zwei Jahre später kehrten 100.000 Bände nach Berlin in ein Fabrikgebäude zurück, während der historisch wertvollere Bestand in eine Staatsreserve nach Forst gebracht wurde.

Nach der Wiedervereinigung

Nach dem Beitritt der DDR zur Bundesrepublik wies das Bundesministerium der Justiz den Bundesgerichtshof als Funktionsnachfolger des Reichsgerichts an, die Bibliothek des ehemaligen Obersten Gerichts der DDR zu übernehmen. Die teilweise stark vom Verfall bedrohten Bücher in der Staatsreserve wurden daraufhin nach Karlsruhe transportiert, dort gesichtet, buchpflegerisch behandelt und teilweise katalogisiert. Gleichzeitig setzten die Vorbereitungen für eine künftige umfangreiche Restaurierungstätigkeit ein.

Die Standortfrage

Nachdem sich im Frühjahr 1992 herauskristallisierte, dass der Bundesgerichtshof seinen Sitz nicht von Karlsruhe nach Leipzig verlegen, sondern stattdessen das Bundesverwaltungsgericht aus Berlin dorthin ziehen würde, stellte sich die Frage nach dem zukünftigen Standort der ehemaligen Reichsgerichtsbibliothek. Auch die rechtshistorische Fachwelt beteiligte sich an der Debatte. Die einen wollten die ehemalige Reichsgerichtsbibliothek an ihren Ursprungsort im Reichsgerichtsgebäude zurückführen. Die anderen betrachteten sie als historischen Komplementärbestand der seit Kriegsende aufgebauten Bibliothek des Bundesgerichtshofes. Schließlich einigte man sich auf einen Kompromiss: Die Bibliothek des Obersten Gerichts der DDR – und darin eingeschlossen die Reichsgerichtsbibliothek – wurde geteilt.

Der „Leipziger“ Bestand der Reichsgerichtsbibliothek

Nach Leipzig kam der historisch wertvolle Bestand (ca. 10.000 vor dem Jahr 1800 erschienene Werke der Sachgruppen A - X). Dieser umfasst die europäische Rechtsgeschichte ab den Werken der Rechtsgelehrten Bolognas im 12. Jahrhundert. Den Schwerpunkt des Bestandes bilden allgemeine Werke (u. a. Entscheidungen und Rechtswörterbücher) sowie Publikationen zum Römischen Recht (u. a. glossierte Ausgaben des Corpus Iuris Civilis), zum Kirchenrecht (u. a. glossierte Ausgaben des Decretum Gratiani) sowie zu italienischen Stadtstatuten. Außergewöhnlich ist auch die Sammlung der verschiedenen Ausgaben der Sachsenspiegel und der Schwabenspiegel.

Darüber hinaus erhielt das Bundesverwaltungsgericht einen Teil des im Zeitraum von 1800 bis 1945 erschienenen Bestands der Reichsgerichtsbibliothek. Hierbei handelt es sich um rund 54.000 Bände der Sachgruppen A (Allgemeines), G (Staatsrecht), H (Kirchenrecht), J (Internationales Recht außer internationalem Privatrecht), K (Partikularrecht: Restbestand der historischen Länder auf dem ehemaligen Territorium der DDR), L (Österreich), M (Schweiz), TA-TD (Russland etc.), U (Außereuropäische Länder) und Gesch (Geschichte).

DFG-Projekt zur Erschließung mittelalterlicher Handschriften (2010 - 2015)

Im Handschriftenzentrum der Universitätsbibliothek Leipzig wurden 43 mittelalterliche Handschriften aus der Reichsgerichtsbibliothek erschlossen und digitalisiert. Dies geschah im Rahmen eines Projekts zur Erschließung von Kleinsammlungen mittelalterlicher Handschriften in Sachsen und dem Leipziger Umland. Das Projekt wurde durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) finanziert. Die erfassten Handschriften der Reichsgerichtsbibliothek können Sie sich auf der Website der Manuscripta Mediaevalia ansehen.

Bereits im Vorfeld hatte Professor Gero Rudolf Dolezalek 2005 alle im Bundesverwaltungsgericht vorhandenen Handschriften gesichtet und inhaltliche Kurzbeschreibungen erstellt.