Verfahrensinformation
Einvernehmen des Bundesinnenministeriums zur humanitären Aufnahme von Personen aus dem Flüchtlingslager Moria/Lesbos durch das Land Berlin
Das Land Berlin begehrt im verwaltungsrechtlichen Bund-Länder-Streit die Erteilung, hilfsweise die Feststellung der Rechtswidrigkeit der Verweigerung des Einvernehmens des Bundesinnenministeriums nach § 23 Abs. 1 Satz 3 AufenthG zur Durchführung seiner auf § 23 Abs. 1 Satz 1 AufenthG gestützten humanitären Anordnung vom Juni 2020 über die Aufnahme von 300 besonders schutzwürdigen Personen aus dem (ehemaligen) Flüchtlingslager Moria auf der griechischen Insel Lesbos.
Das Bundesinnenministerium lehnte die Erteilung des Einvernehmens im Juli 2020 ab, weil die Voraussetzungen für eine Landesaufnahmeanordnung nicht erfüllt seien und die Bundeseinheitlichkeit nicht gewahrt werde. § 23 Abs. 1 AufenthG bilde keine Rechtsgrundlage für Kontingentaufnahmen aus anderen Mitgliedstaaten der Europäischen Union. Diese Regelung setze die Feststellung des humanitären Schutzbedarfs vor der Einreise voraus. Hielten sich Geflüchtete bereits in einem anderen Mitgliedstaat auf, komme dem unionsrechtlichen Aufnahmeinstrument der Dublin III-VO gegenüber nationalen Aufnahmen einzelner deutscher Länder der Vorrang zu. Die beabsichtigte humanitäre Aufnahme durch ein Land sei auch nicht kohärent mit den vom Bund selbst getroffenen Maßnahmen. Dieser habe im Rahmen eines europäisch abgestimmten Vorgehens u.a. für eine bestimmte Anzahl kranker Kinder und ihrer Familien die Zuständigkeit für die Durchführung der Asylverfahren übernommen. Es widerspreche einer bundeseinheitlichen Behandlung, wenn ein Land einem vergleichbaren Personenkreis ohne Durchführung eines ergebnisoffenen Asylverfahrens direkt eine Aufenthaltserlaubnis erteile. Im Bereich der Außen- und Europapolitik komme dem Bund, der sich für ein auf europäischer Ebene koordiniertes Vorgehen entschieden habe, die alleinige Zuständigkeit zu.
Mit seiner Klage, über die das Bundesverwaltungsgericht erst- und letztinstanzlich entscheidet, macht das Land Berlin geltend, die humanitäre Aufnahme werde von den unionsrechtlichen Regelungen zum Asylrecht und der Zuständigkeit für Asylverfahren nicht erfasst und damit nicht ausgeschlossen. § 23 Abs. 1 AufenthG räume den Ländern als Ausdruck der ihnen grundgesetzlich zugewiesenen Zuständigkeit zur Ausführung des Aufenthaltsgesetzes als eigene Angelegenheit im Bereich der humanitären Aufnahme einen weiten politischen Gestaltungsspielraum ein. Die Befugnis des Bundes, sein Einvernehmen zu versagen, sei auf Gründe der (mangelnden) Bundeseinheitlichkeit beschränkt und eng auszulegen. Der beabsichtigten Aufnahmeanordnung stünden die vom Bundesinnenministerium benannten Gesichtspunkte der Bundeseinheitlichkeit, der Gesetzgebungs- und außen- sowie europarechtspolitischen Kompetenzen des Bundes nicht durchgreifend entgegen.
Pressemitteilung Nr. 18/2022 vom 15.03.2022
Bundesinnenministerium durfte Einvernehmen zu Berliner Aufnahmeanordnung für zusätzliche "Moria-Flüchtlinge" versagen
Das Bundesministerium des Innern und für Heimat (BMI) hat das nach § 23 Abs. 1 Satz 3 AufenthG zur Wahrung der Bundeseinheitlichkeit erforderliche Einvernehmen zu einer humanitären Anordnung des Landes Berlin vom Juni 2020 über die Aufnahme von 300 besonders schutzbedürftigen Personen aus dem (ehemaligen) Flüchtlingslager Moria auf der griechischen Insel Lesbos rechtmäßig versagt. Dies hat das Bundesverwaltungsgericht mit Urteil vom heutigen Tage entschieden.
Die Aufnahmeanordnung des Klägers vom Juni 2020 zielte auf eine zusätzliche Linderung der humanitären Notlage für Schutzsuchende in dem überfüllten (später durch einen Brand zerstörten) griechischen Aufnahmelager. Das BMI lehnte die Erteilung des Einvernehmens im Juli 2020 ab, weil schon die Voraussetzungen für eine Landesaufnahmeanordnung nicht erfüllt seien und zudem die Bundeseinheitlichkeit nicht gewahrt werde. § 23 Abs. 1 AufenthG bilde keine Rechtsgrundlage für Kontingentaufnahmen aus anderen Mitgliedstaaten der Europäischen Union. Diese Regelung setze die Feststellung des humanitären Schutzbedarfs vor der Einreise voraus. Hielten sich Geflüchtete bereits in einem anderen Mitgliedstaat auf, komme dem unionsrechtlichen Aufnahmeinstrument der Dublin III-VO gegenüber nationalen Aufnahmen einzelner deutscher Länder der Vorrang zu. Die beabsichtigte humanitäre Aufnahme durch ein Land sei auch nicht kohärent mit den vom Bund selbst getroffenen Maßnahmen. Dieser habe im Rahmen eines europäisch abgestimmten Vorgehens u.a. für eine bestimmte Anzahl kranker Kinder und ihrer Familien die Zuständigkeit für die Durchführung der Asylverfahren übernommen, ohne diesen sofort eine Aufenthaltserlaubnis zu erteilen. Im Bereich der Außen- und Europapolitik komme dem Bund, der sich für ein auf europäischer Ebene koordiniertes Vorgehen entschieden habe, die alleinige Zuständigkeit zu.
Das bei verwaltungsrechtlichen Bund-Länder-Streitigkeiten in erster und letzter Instanz zuständige Bundesverwaltungsgericht hat die Klage des Landes Berlin abgewiesen. Die Versagung des Einvernehmens zu der Anordnung war rechtmäßig. Das Aufenthaltsgesetz eröffnet der obersten Landesbehörde mit der Befugnis zur gruppenbezogenen Aufnahme von Ausländern aus humanitären Gründen ein weites politisches Ermessen. Eine Aufnahmeanordnung bedarf nach der mit dem Grundgesetz vereinbaren Regelung des § 23 Abs. 1 Satz 3 AufenthG indes zu ihrer Wirksamkeit des Einvernehmens des BMI. Die Entscheidung über das Einvernehmen dient der Wahrung der Bundeseinheitlichkeit und ist an diesem Zweck auszurichten. Bundeseinheitlichkeit bezieht sich auf eine im Grundsatz einheitliche Behandlung der fraglichen Personengruppe im Bundesgebiet und zielt unter anderem auf die Verhinderung negativer Auswirkungen auf die anderen Länder oder den Bund. Dies berechtigt das BMI im Grundsatz auch, ein koordiniertes Vorgehen aller oder mehrerer durch das Gemeinsame Europäische Asylsystem zusammengeschlossenen Mitgliedstaaten durch eine kohärente und einheitliche Vertretung der Bundesrepublik Deutschland zu befördern. Hat der Bund in eigener Zuständigkeit Ausländer aus der fraglichen Gruppe aus denselben humanitären Gründen aufgenommen, darf er einem Landesaufnahmeprogramm zudem bei fehlender Kohärenz mit den eigenen, auf dieselbe Personengruppe bezogenen Maßnahmen das Einvernehmen verweigern. Bei der Bewertung der Erheblichkeit von Uneinheitlichkeiten im Einzelfall hat das BMI einen Beurteilungsspielraum.
Nach diesen Grundsätzen war eine Rechtswidrigkeit der Versagung des Einvernehmens hier nicht festzustellen, selbst wenn die unionsrechtlichen Vorschriften über Asylverfahren einschließlich der Zuständigkeitsregeln für deren Durchführung einer humanitären Landesaufnahme nicht von vornherein entgegenstanden. Das BMI hat rechtsfehlerfrei auch darauf abgestellt, dass die Aufnahmeanordnung Berlins zu einer - grundlegend - unterschiedlichen Rechtsstellung von Personen aus demselben griechischen Flüchtlingslager im Bundesgebiet geführt hätte. Denn die vom Bund aufgenommenen Personen haben lediglich eine Aufenthaltsgestattung zur Durchführung eines ergebnisoffenen Asylverfahrens erhalten. Die vom Kläger beabsichtigte humanitäre Aufnahme hätte hingegen zur sofortigen Erteilung von längerfristigen, zunächst auf drei Jahre befristeten Aufenthaltserlaubnissen geführt, ohne dass der Schutzbedarf auch in Bezug auf das jeweilige Herkunftsland zuvor geprüft worden wäre.
BVerwG 1 A 1.21 - Urteil vom 15. März 2022
Urteil vom 15.03.2022 -
BVerwG 1 A 1.21ECLI:DE:BVerwG:2022:150322U1A1.21.0
Versagung des Einvernehmens des BMI zu Berliner Aufnahmeanordnung für zusätzliche "Moria-Flüchtlinge"
Leitsätze:
1. Die Anordnung der obersten Landesbehörde nach § 23 Abs. 1 Satz 1 AufenthG, einer bestimmten Ausländergruppe aus humanitären Gründen eine Aufenthaltserlaubnis zu erteilen, ist eine politische Leitentscheidung, die gemäß § 23 Abs. 1 Satz 3 AufenthG zur Wahrung der Bundeseinheitlichkeit des Einvernehmens mit dem Bundesministerium des Innern und für Heimat (BMI) bedarf.
2. Das Land kann eine Versagung des - zweckgebundenen - Einvernehmens im verwaltungsrechtlichen Bund-Länder-Streit überprüfen lassen; dafür fehlt es nicht von vornherein an der Klagebefugnis.
3. Das gesetzliche Erfordernis des Einvernehmens ist eine im Einklang mit Art. 84 Abs. 1 Satz 5 und 6 GG stehende Regelung des Verwaltungsverfahrens durch den Bund, von der die Länder gemäß § 105a AufenthG nicht abweichen dürfen.
4. Das BMI muss seine Entscheidung über die Erteilung des Einvernehmens an dem ihm (allein) zugewiesenen Belang der Bundeseinheitlichkeit ausrichten. Bei der Konkretisierung des Begriffs der Bundeseinheitlichkeit ist ihm ein gerichtlich nur eingeschränkt überprüfbarer Beurteilungsspielraum eingeräumt.
5. Bundeseinheitlichkeit bezieht sich auf eine im Grundsatz einheitliche Behandlung der fraglichen Personengruppe im Bundesgebiet und zielt unter anderem auf die Verhinderung negativer Auswirkungen auf die anderen Länder oder den Bund.
6. Hat der Bund in eigener Zuständigkeit Ausländer aus der fraglichen Gruppe aus denselben humanitären Gründen aufgenommen, darf das BMI einer Landesaufnahmeanordnung auch bei fehlender Kohärenz mit den eigenen, auf dieselbe Personengruppe zielenden Maßnahmen das Einvernehmen verweigern.
7. Das BMI ist im Grundsatz auch berechtigt, ein koordiniertes Vorgehen aller oder mehrerer durch das Gemeinsame Europäische Asylsystem zusammengeschlossener Mitgliedstaaten durch eine kohärente und einheitliche Vertretung der Bundesrepublik Deutschland zu befördern.
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Rechtsquellen
AufenthG § 23 Abs. 1, § 26 Abs. 2, § 105a GG Art. 72 Abs. 2, Art. 73 Abs. 1 Nr. 3, Art. 74 Abs. 1 Nr. 4 und Nr. 6, Art. 83, 84 Abs. 1 und 5 Dublin III-VO Art. 17 Abs. 2 -
Zitiervorschlag
BVerwG, Urteil vom 15.03.2022 - 1 A 1.21 - [ECLI:DE:BVerwG:2022:150322U1A1.21.0]
Urteil
BVerwG 1 A 1.21
In der Verwaltungsstreitsache hat der 1. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
auf die mündliche Verhandlung vom 15. März 2022
durch den Vorsitzenden Richter am Bundesverwaltungsgericht Prof. Dr. Berlit, die Richter am Bundesverwaltungsgericht Prof. Dr. Fleuß und Böhmann und die Richterinnen am Bundesverwaltungsgericht Dr. Wittkopp und Fenzl
für Recht erkannt:
- Die Klage wird abgewiesen.
- Der Kläger trägt die Kosten des Rechtsstreits.
Gründe
I
1 Das klagende Land Berlin begehrt die Feststellung, dass die Versagung des Einvernehmens durch das Bundesministerium des Innern, für Bau und Heimat (seit 8. Dezember 2021: Bundesministerium des Innern und für Heimat; im Folgenden: BMI) zu einer nach § 23 Abs. 1 AufenthG beabsichtigten Anordnung über die Erteilung humanitärer Aufenthaltserlaubnisse für 300 als besonders schutzbedürftig definierte Personen aus dem (ehemaligen) Flüchtlingslager Moria auf der griechischen Insel Lesbos rechtswidrig war.
2 Im Laufe des Jahres 2019 verschlechterten sich die Lebensbedingungen in den - zunehmend überfüllten - Flüchtlingslagern auf den griechischen Inseln. In Reaktion darauf beschloss im März 2020 der Koalitionsausschuss der Bundesregierung, Griechenland im Rahmen einer europäischen Lösung bei der schwierigen humanitären Lage von etwa 1 000 bis 1 500 dringend behandlungsbedürftigen oder unbegleiteten Kindern auf den griechischen Inseln zu unterstützen und einen angemessenen Anteil dieser Kinder zu übernehmen. Parallel stimmten mehrere EU-Mitgliedstaaten unter Federführung der Europäischen Kommission Verfahrensregeln (Standard Operating Procedures, SOP) ab, nach denen die freiwilligen Übernahmen durch die sich beteiligenden Mitgliedstaaten erfolgen sollten. Darin war vorgesehen, dass der jeweilige Mitgliedstaat die Zuständigkeit für das Asylverfahren der ausgewählten Personen nach Art. 17 Abs. 2 Dublin III-VO übernimmt. In Umsetzung dieser Vorhaben nahm die Beklagte rund 50 unbegleitete Minderjährige sowie 243 kranke Kinder mit ihren Kernfamilien (insgesamt rund 930 Personen) in Deutschland auf und verteilte diese auf die Länder.
3 Der Kläger bekräftigte im April 2020 seine Bereitschaft, weitere mindestens 70 unbegleitete Minderjährige aufzunehmen, sofern das BMI das Einvernehmen zu einer entsprechenden Aufnahmeanordnung des Landes erteile. Das BMI kündigte mit Schreiben vom 7. Mai 2020 die Ablehnung des Einvernehmens an.
4 In der Folge legte der Kläger dem BMI eine vom 9. Juni 2020 datierende humanitäre Aufnahmeanordnung mit der Bitte um Erteilung des Einvernehmens vor. Diese sah die Erteilung von Visa und Aufenthaltserlaubnissen für zunächst drei Jahre an bis zu 300 Personen vor, die sich zum Zeitpunkt des Erlasses dieser Anordnung im Aufnahmelager Moria auf der Insel Lesbos in Griechenland aufhalten und (nach bestimmten, im Einzelnen aufgeführten Kriterien) besonders schutzbedürftig sind. Die Aufnahmeanordnung sollte bis zum 30. Juni 2021 gelten. Die begünstigten Personen waren bis zum 31. Juli 2020 auszuwählen. Der Kläger wies darauf hin, die nur vulnerable Personen betreffende Anordnung widerspreche nicht den Regeln der Dublin III-VO, den Bemühungen um eine europäische Lösung oder dem Vorgehen anderer Länder. Die Bundeseinheitlichkeit fehle nicht deshalb, weil nicht alle, sondern nur einige Länder Interesse an einer Aufnahme bekundet und Anordnungen ausgearbeitet hätten.
5 Mit Schreiben vom 8. Juli 2020 lehnte das BMI die Erteilung des Einvernehmens ab. Es führte zur Begründung aus, die rechtlichen Voraussetzungen des § 23 Abs. 1 AufenthG seien nicht erfüllt, und die Bundeseinheitlichkeit werde nicht gewahrt. Die Aufnahmeanordnung stehe unvermeidbar im Widerspruch zu den Zielen der Dublin III-VO. Die Beklagte habe zur Unterstützung Griechenlands bei der Bewältigung der humanitären Lage und zur Verbesserung der Situation von Kindern in "Hotspotlagern" bereits die Übernahme eines angemessenen Anteils im Rahmen europäischer Maßnahmen beschlossen. Das Übernahmeverfahren finde freiwillig und europäisch koordiniert auf der Grundlage des Selbsteintrittsrechts nach der Dublin III-VO statt. Ziel sei die Durchführung eines ergebnisoffenen Asylverfahrens. Demgegenüber führe die vom Kläger beabsichtigte humanitäre Aufnahme unmittelbar zur Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis. Mit Blick auf die bundeseinheitliche Behandlung gelte es zu vermeiden, dass für denselben Personenkreis aufgrund zweier Rechtsgrundlagen verschiedene Rechtsfolgen getroffen werden. Auch aus operativer Sicht sei es nicht sinnvoll, wenn einzelne Länder von den zwischenstaatlichen Vereinbarungen abweichende eigene Verfahren und Auswahlkriterien für die Aufnahme Geflüchteter aus denselben Lagern implementierten. Im Übrigen spiegele das Einvernehmenserfordernis die Alleinzuständigkeit des Bundes für die Außen- und Europapolitik wider. Eine eigenständige politische Gestaltungsbefugnis der Länder laufe einer europäischen Lösung zuwider.
6 Am 8./9. September 2020 wurde das Flüchtlingslager Moria durch mehrere Brände nahezu vollständig zerstört und sodann geräumt. Die Schutzsuchenden wurden überwiegend in umliegend neu errichteten Flüchtlingslagern untergebracht. Daraufhin beteiligte sich die Beklagte an der - mit weiteren EU-Mitgliedstaaten abgestimmten - Aufnahme von 400 weiteren unbegleiteten Minderjährigen, indem sie 150 dieser Minderjährigen in Deutschland aufnahm. Zur Linderung der humanitären Notlage erließ das BMI zudem eine Anordnung gemäß § 23 Abs. 2 AufenthG zur Aufnahme von 1 553 Personen, die von der griechischen Asylbehörde als international schutzberechtigt anerkannt worden waren.
7 Nach einem weiteren Schriftwechsel der Beteiligten hat der Kläger am 13. Januar 2021 Klage beim Bundesverwaltungsgericht erhoben. Er macht geltend, das Rechtsschutzinteresse sei weiterhin gegeben. Werde gleichwohl von einer Erledigung der Aufnahmeanordnung ausgegangen, sei das Begehren als Feststellungsklage statthaft. Die Versagung des Einvernehmens hält der Kläger für rechtswidrig. Der Anwendungsvorrang der Dublin III-VO stehe einer Aufnahmeanordnung nach § 23 Abs. 1 AufenthG nicht entgegen. Die humanitäre Landesaufnahme sei ein die Dublin III-VO und das Asylverfahren ergänzendes Aufnahmeinstrument. Die rechtlichen Voraussetzungen für eine Aufnahmeanordnung der obersten Landesbehörde seien erfüllt. Die Anordnung sei unstreitig durch humanitäre Gründe motiviert und ziele auf einen temporären Schutz. Das Gesetz weise den Ländern die zentrale politische Gestaltungsbefugnis zu. Demgegenüber sei die Entscheidung des BMI über die Erteilung des Einvernehmens an den Zweck der "Wahrung der Bundeseinheitlichkeit" gebunden. Der Begriff der "Bundeseinheitlichkeit" sei einschränkend auszulegen. Dies ergebe sich aus der grundgesetzlichen Verteilung der Verwaltungskompetenzen zwischen Bund und Ländern, aus dem Grundsatz der Bundestreue und aus der hier betroffenen konkurrierenden Gesetzgebungskompetenz des Bundes für das Aufenthaltsrecht, deren Inanspruchnahme an die Erforderlichkeitsklausel des Art. 72 Abs. 2 GG gebunden sei. Nur unter diesen Voraussetzungen dürfe dann auch das Einvernehmen versagt werden. Eine Versagung komme nur in Betracht, wenn sich einzelne Länder zulasten anderer Länder oder des Bundes allzu weit von einer bundeseinheitlichen Rechtsanwendung entfernten, also eine Rechtszersplitterung drohe. Diese hohe Schwelle sei hier nicht erreicht. Aufgrund der vorgesehenen Kostentragungspflicht des Klägers seien nachteilige Auswirkungen der Aufnahme auf die Haushalte anderer Länder oder des Bundes ausgeschlossen. Weiteren Nachteilen beuge die Wohnsitzauflage vor. Die vom BMI angeführten außen-, europa- oder migrationspolitischen Gründe hätten keinen Bezug zur Bundeseinheitlichkeit.
8
Der Kläger beantragt
festzustellen, dass die Beklagte ihr Einvernehmen gemäß § 23 Abs. 1 Satz 3 AufenthG zur Durchführung des Erlasses des Klägers vom 9. Juni 2020 über die Erteilung von Aufenthaltserlaubnissen für 300 besonders schutzbedürftige Personen aus Griechenland rechtswidrig verweigert hat.
9
Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
10 Sie verteidigt die Versagung des Einvernehmens durch das BMI.
11 Die Vertreterin des Bundesinteresses beim Bundesverwaltungsgericht beteiligt sich nicht an dem Verfahren.
12 Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstands wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und des beigezogenen Verwaltungsvorgangs der Beklagten Bezug genommen.
II
13 Die Klage ist zulässig, aber unbegründet.
14 1. Die Klage ist zulässig.
15 1.1 Der Rechtsweg zu den Verwaltungsgerichten und die sachliche Zuständigkeit des Bundesverwaltungsgerichts sind gegeben. Es handelt sich um eine öffentlich-rechtliche Streitigkeit nichtverfassungsrechtlicher Art zwischen einem Land und dem Bund (§ 50 Abs. 1 Nr. 1, § 40 Abs. 1 Satz 1 VwGO). Grundlage für den mit der Klage geltend gemachten Anspruch auf Erteilung des Einvernehmens zu einer gruppenbezogenen Anordnung der Aufnahme von Ausländern durch die oberste Landesbehörde ist § 23 Abs. 1 AufenthG, eine einfach-rechtliche Norm. Kern des Rechtsstreits ist nicht die - weder substantiiert in Frage gestellte noch im Ergebnis zweifelhafte (s.u.) - Vereinbarkeit des gesetzlichen Einvernehmenserfordernisses mit dem Grundgesetz, sondern die Rechtmäßigkeit der Versagung des Einvernehmens durch das Bundesministerium des Innern und für Heimat (BMI) im konkreten Einzelfall. Das streitige Rechtsverhältnis wurzelt damit nicht primär im verfassungsrechtlichen Grundverhältnis von Bund und Land. Der Annahme eines Verwaltungsrechtsstreits steht es in diesem Fall nicht entgegen, wenn der Ausgang des Rechtsstreits zugleich durch verfassungsrechtliche Aspekte beeinflusst wird (vgl. BVerwG, Urteile vom 6. März 2002 - 9 A 16.01 - BVerwGE 116, 92 <93> und vom 24. Januar 2007 - 3 A 2.05 - BVerwGE 128, 99 Rn. 15 und Beschlüsse vom 13. August 1999 - 2 VR 1.99 - BVerwGE 109, 258 <260> m.w.N. und vom 10. August 2011 - 6 A 1.11 - Buchholz 310 § 40 VwGO Nr. 305 Rn. 6).
16 Das Bundesverwaltungsgericht hat im ersten und letzten Rechtszug über die Klage zu entscheiden (§ 50 Abs. 1 Nr. 1 VwGO). Diese Zuständigkeitsvorschrift ist einschränkend auszulegen und nur auf Streitigkeiten anzuwenden, die in ihrer Eigenart gerade durch die Beziehungen zwischen dem Bund und den Ländern geprägt sind und sich ihrem Gegenstand nach einem Vergleich mit landläufigen Streitigkeiten entziehen. Das trifft aber jedenfalls für Streitigkeiten zu, bei denen über die Abgrenzung der beiderseitigen Hoheitsbefugnisse und Kompetenzbereiche zu entscheiden ist (vgl. BVerwG, Urteil vom 18. Mai 1994 - 11 A 1.92 - BVerwGE 96, 45 <49>; Beschlüsse vom 13. August 1999 - 2 VR 1.99 - BVerwGE 109, 258 <260 f.> und vom 9. Mai 2019 - 4 VR 1.19 - Buchholz 310 § 44a VwGO Nr. 17 Rn. 8). Ein solcher Fall ist hier gegeben. Das klagende Land und die beklagte Bundesrepublik streiten über die Reichweite der Befugnis des BMI, zu der humanitären Aufnahmeanordnung des Klägers nach § 23 Abs. 1 Satz 1 AufenthG vom 9. Juni 2020 das Einvernehmen nach § 23 Abs. 1 Satz 3 AufenthG zu verweigern; es geht somit um die Abgrenzung der jeweiligen Kompetenzbereiche von Bund und Land bei der Anwendung des § 23 Abs. 1 AufenthG.
17 1.2 Zu Recht hat der Kläger zuletzt einen Feststellungsantrag gestellt und nicht (mehr) die Verpflichtung oder Verurteilung zur Erteilung des Einvernehmens begehrt. Denn das Begehren auf Erteilung des Einvernehmens hatte sich bereits vor Klageerhebung dadurch erledigt, dass die in der Aufnahmeanordnung vom 9. Juni 2020 vorgesehene Frist für die Auswahl der begünstigten Personen am 31. Juli 2020 abgelaufen war; darauf, dass die Aufnahmeanordnung zwischenzeitlich auch außer Kraft getreten wäre, kommt es daher nicht mehr an. Eine Verpflichtungsklage, die einschlägig wäre, wenn es sich bei dem Einvernehmen des BMI um einen Verwaltungsakt handelte, ist nach Erledigung des Verpflichtungsbegehrens nicht mehr statthaft (vgl. Sodan, in: Sodan/Ziekow, VwGO, 5. Aufl. 2018, § 42 Rn. 69 und 350; Wolff, ebenda, § 113 Rn. 303). Für eine allgemeine Leistungsklage fehlte es jedenfalls am Rechtsschutzinteresse, wenn und weil die begehrte Leistung dem Kläger zweifelsfrei keinen Nutzen mehr bringen kann (vgl. BVerwG, Urteile vom 1. Oktober 2015 - 7 C 8.14 - BVerwGE 153, 99 Rn. 19 m.w.N. und vom 10. Oktober 2019 - 10 C 2.19 - Buchholz 442.43 BADV Nr. 1 Rn. 18).
18 1.3 Ob das in § 23 Abs. 1 Satz 3 AufenthG vorgesehene Einvernehmen des BMI die Rechtsqualität eines Verwaltungsakts hat, kann der Senat auch mit Blick auf das zur Entscheidung gestellte Feststellungsbegehren offenlassen, weil dessen Zulässigkeit (und Begründetheit) hiervon nicht abhängt. Der Antrag des Klägers ist entweder als - nachträgliche - Feststellungsklage (§ 43 VwGO) oder als Fortsetzungsfeststellungsklage analog § 113 Abs. 1 Satz 4 VwGO statthaft (dazu a)). In beiden Fällen ist die Klage auch im Übrigen zulässig (dazu b) bis e)).
19 a) Ist das Einvernehmen ein durch das adressierte Land grundsätzlich mit der Leistungsklage zu erstreitendes Internum (in diese Richtung etwa BVerwG, Urteil vom 17. April 2002 - 9 A 24.01 - BVerwGE 116, 175 <186 f.>), so ist der Klageantrag als allgemeine Feststellungsklage gemäß § 43 Abs. 1 VwGO statthaft. Bei dem Streit um die Frage, ob der Kläger gegen die Beklagte einen Anspruch auf Erteilung des Einvernehmens zu seiner Aufnahmeanordnung vom 9. Juni 2020 hatte oder ob das BMI die Erteilung des Einvernehmens rechtmäßig versagt hat, handelt es sich um ein feststellungsfähiges Rechtsverhältnis im dort genannten Sinne. Gegenstand der Feststellungsklage kann auch ein - wie hier - vergangenes Rechtsverhältnis sein (vgl. Sodan, in: Sodan/Ziekow, VwGO, 5. Aufl. 2018, § 43 Rn. 16). Sofern es sich bei dem Einvernehmen des BMI hingegen - mit Blick auf die Rechtswirkung im Verhältnis zum Land als selbstständigem Rechtsträger - um einen Verwaltungsakt handelt, ist der Antrag als Fortsetzungsfeststellungsklage statthaft. § 113 Abs. 1 Satz 4 VwGO ist auf die Fallgestaltung eines vor Klageerhebung erledigten Verpflichtungsbegehrens (doppelt) analog anzuwenden (vgl. BVerwG, Urteil vom 18. Dezember 2007 - 6 C 47.06 - Buchholz 442.066 § 42 TKG Nr. 3 Rn. 11 und 12; Schübel-Pfister, in: Eyermann, VwGO, 15. Aufl. 2019, § 113 Rn. 90, Bamberger, in: Wysk, VwGO, 3. Aufl. 2020, § 113 Rn. 73 f.).
20 b) Der Kläger hat unter den hier gegebenen Umständen ein sowohl bei der Feststellungsklage (vgl. § 43 Abs. 1 VwGO) als auch bei der Fortsetzungsfeststellungsklage erforderliches berechtigtes, schutzwürdiges Interesse an der Feststellung, dass die Weigerung der Beklagten, das Einvernehmen zu erteilen, rechtswidrig war. Ein solches Interesse, das bis zum Schluss der mündlichen Verhandlung vorliegen muss (BVerwG, Urteil vom 14. Juni 2017 - 10 C 2.16 - Buchholz 415.10 KommWahlR Nr. 11 Rn. 13), ist wegen Wiederholungsgefahr gegeben, wenn die hinreichend bestimmte Gefahr besteht, dass unter im Wesentlichen unveränderten tatsächlichen und rechtlichen Umständen eine gleichartige Verwaltungsentscheidung oder Maßnahme ergehen wird (stRspr, zur Fortsetzungsfeststellungsklage vgl. BVerwG, Urteil vom 18. Dezember 2007 - 6 C 47.06 - Buchholz 442.066 § 42 TKG Nr. 3 Rn. 13 m.w.N.; Sodan, in: Sodan/Ziekow, VwGO, 5. Aufl. 2018, § 43 Rn. 90 f. <zur Übertragbarkeit auf die Feststellungsklage>). In Anbetracht des Gebots, effektiven Rechtsschutz zu gewährleisten, ist dabei nicht die Prognose erforderlich, dass einem zukünftigen behördlichen Vorgehen in allen Einzelheiten die gleichen Umstände zugrunde liegen werden, wie dies vor Erledigung des Verwaltungsakts der Fall war. Für das Feststellungsinteresse ist vielmehr entscheidend, ob die rechtlichen und tatsächlichen Voraussetzungen künftigen Verwaltungshandelns unter Anwendung der dafür maßgeblichen Rechtsvorschriften geklärt werden können (BVerwG, Urteil vom 18. Dezember 2007 - 6 C 47.06 - Buchholz 442.066 § 42 TKG Nr. 3 Rn. 13).
21 Das ist hier der Fall. Der Kläger hat glaubhaft angekündigt, auch in Zukunft aus humanitären Gründen zugunsten von Drittstaatsangehörigen, die sich etwa in Griechenland unter problematischen Lebensbedingungen aufhalten, Aufnahmeanordnungen nach § 23 Abs. 1 AufenthG erlassen zu wollen. Er hat auch hinreichend dargetan, dass es sich bei den die Aufnahmeanordnung motivierenden Verhältnissen im (ehemaligen) griechischen Aufnahmelager Moria nicht um ein einmaliges und vorübergehendes, sondern ein nach den Erfahrungen der Vergangenheit längerfristiges oder jedenfalls wiederholt auftretendes Problem handelt. Bei den vorausgesetzten vergleichbaren Umständen ist erneut mit einer Versagung des Einvernehmens durch das BMI zu rechnen, denn dieses hält an seiner Rechtsauffassung fest.
22 c) Der Kläger ist auch klagebefugt (§ 42 Abs. 2 VwGO).
23 Er stützt sich mit § 23 Abs. 1 Satz 1 und Satz 3 AufenthG auf Rechtsnormen, die zumindest auch seinen rechtlich geschützten Interessen zu dienen bestimmt sind. Zwar dienen die genannten Regelungen der Kompetenzabgrenzung im Bund-Länder-Verhältnis und begründen kein subjektives Recht im klassischen Sinne. Auch zwischen Hoheitsträgern können aber wehrfähige Kompetenzen oder Wahrnehmungszuständigkeiten bestehen, die der Gesetzgeber mit einer subjektiv-öffentlichen Rechten vergleichbaren Rechtsdurchsetzungsmacht ausgestattet hat (vgl. Wahl/Schütz, in: Schoch/Schneider, Verwaltungsrecht, 41. EL, Stand Juli 2021, § 42 Abs. 2 VwGO Rn. 95 ff.).
24 § 23 Abs. 1 AufenthG ist - auch unter Berücksichtigung der verfassungsrechtlichen Kompetenzverteilung von Bund und Ländern - dahin auszulegen, dass dem Land grundsätzlich ein durchsetzbarer Anspruch auf Erteilung des Einvernehmens zustehen kann. Einfach-rechtlich vermittelt § 23 Abs. 1 Satz 1 AufenthG den Ländern im Bereich der humanitären Aufnahme von Ausländergruppen einen Raum für eigene politische Entscheidungsbefugnisse. Diese Rechtsstellung ist durch die Notwendigkeit des Einvernehmens zwar beschränkt, wird dadurch aber nicht aufgehoben. Denn das Einvernehmen dient nach Wortlaut, Entstehungsgeschichte und Sinn und Zweck der Regelung der Wahrung der Bundeseinheitlichkeit und ist an diesem Zweck auszurichten (siehe näher unter 2.3 a)). Es darf also jedenfalls nicht aus beliebigen Gründen verweigert werden (vgl. zu einer umgekehrten Konstellation BVerwG, Urteil vom 17. April 2002 - 9 A 24.01 - BVerwGE 116, 175 <187>). Die Einhaltung der an diese Begrenzung zu stellenden Anforderungen - wie weit diese auch immer reichen mögen - müssen die Länder verwaltungsgerichtlich überprüfen lassen können.
25 Dies findet seine Bestätigung in der zugrundeliegenden verfassungsrechtlichen Verteilung der Verwaltungskompetenzen. Die der obersten Landesbehörde in § 23 Abs. 1 AufenthG zugewiesene Anordnungskompetenz ist Ausdruck der Befugnis der Länder zur Ausführung des Aufenthaltsgesetzes als eigene Angelegenheit (Art. 83 und 84 GG). Die in diesem Rahmen vorgesehene Kompetenzaufteilung dient dazu, die Länder vor einem Eindringen des Bundes in den ihnen vorbehaltenen Bereich der Verwaltung zu schützen (BVerfG, Urteil vom 20. Dezember 2007 - 2 BvR 2433, 2434/04 - BVerfGE 119, 331 <364>). Anders als bei der Bundesauftragsverwaltung gemäß Art. 85 GG (dazu BVerfG, Urteil vom 19. Februar 2002 - 2 BvG 2/00 - BVerfGE 104, 249 <264 f.> m.w.N.; F. Kirchhof, in: Dürig/Herzog/Scholz, Grundgesetz-Kommentar, 95. EL, Stand Juli 2021, Art. 85 Rn. 84) besteht hier mithin keine funktionelle Hierarchie zwischen Bund und Ländern, die die Annahme einer Eigenständigkeit der Länder mit eigenen wehrfähigen Rechten aus Art. 30 GG ausschließt.
26 Ausgehend davon ist hier nicht von vornherein nach jeder Betrachtungsweise auszuschließen, dass die Versagung des Einvernehmens nicht zur Wahrung der Bundeseinheitlichkeit erfolgt ist und damit rechtswidrig war.
27 d) Der Durchführung eines Vorverfahrens hätte es hier auch vor Erhebung einer - möglicherweise ursprünglich statthaft gewesenen - Verpflichtungsklage nicht bedurft, weil die ablehnende Entscheidung von einer obersten Bundesbehörde getroffen worden ist (§ 68 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 i.V.m. Abs. 2 VwGO). Zudem hat sich das (etwaige) Verpflichtungsbegehren bereits vor Klageerhebung erledigt (vgl. BVerwG, Urteil vom 9. Februar 1967 - 1 C 49.64 - BVerwGE 26, 161 <166>).
28 e) Der Zulässigkeit einer Fortsetzungsfeststellungsklage stünde auch nicht entgegen, dass die Versagungsentscheidung im Zeitpunkt der Erledigung etwa bereits bestandskräftig gewesen wäre. Eine (spätere) Erledigung kann nicht zur Wiedereröffnung der Klagemöglichkeit über § 113 Abs. 1 Satz 4 VwGO führen, wenn der Kläger die bis zur Erledigung zwingend einzuhaltende Klagefrist für eine Anfechtungs- oder Verpflichtungsklage ungenutzt hat verstreichen lassen (BVerwG, Urteile vom 9. Februar 1967 - 1 C 49.64 - BVerwGE 26, 161 <167> und vom 30. Mai 2018 - 6 A 3.16 - BVerwGE 162, 179 Rn. 18). Dies war hier indes nicht der Fall, denn die ablehnende Entscheidung des BMI vom 8. Juli 2020 war nicht mit einer Rechtsbehelfsbelehrung versehen und konnte deshalb binnen eines Jahres ab Bekanntgabe angefochten werden (§ 58 Abs. 2 VwGO). Diese Frist war bei Eintritt der Erledigung Ende Juli 2020 noch nicht abgelaufen.
29 2. Die Klage ist nicht begründet. Dem Kläger stand gegen die Beklagte kein Anspruch auf Erteilung des Einvernehmens zu seiner Aufnahmeanordnung vom 9. Juni 2020 zu; die Weigerung des BMI, das Einvernehmen zu erteilen, war rechtmäßig.
30 Für die rechtliche Beurteilung des Klagebegehrens ist auf die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt (unmittelbar vor) der Erledigung des Begehrens auf Erteilung des Einvernehmens abzustellen, das heißt auf den 31. Juli 2020. Der Senat versteht den in der mündlichen Verhandlung nur noch gestellten Feststellungsantrag dahin, dass der zur Entscheidung gestellte Streitgegenstand von demjenigen eines - ursprünglich angekündigten - Leistungs- bzw. Verpflichtungsbegehrens umfasst gewesen sein soll. Im Rahmen einer Leistungs- oder Verpflichtungsklage wäre es nicht auf den Zeitpunkt des Ergehens der ablehnenden Entscheidung angekommen, sondern auf den Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung. Dieser Streitgegenstand umfasst den Streitgegenstand eines auf den Zeitpunkt des erledigenden Ereignisses bezogenen Feststellungsantrags (vgl. näher BVerwG, Urteil vom 4. Dezember 2014 - 4 C 33.13 - BVerwGE 151, 36 Rn. 17 bis 21 m.w.N.).
31 § 23 Abs. 1 Satz 1 AufenthG verleiht der obersten Landesbehörde die Befugnis, aus völkerrechtlichen oder humanitären Gründen oder zur Wahrung politischer Interessen der Bundesrepublik Deutschland die Erteilung von Aufenthaltserlaubnissen an Ausländer aus bestimmten Staaten oder in sonstiger Weise bestimmten Ausländergruppen anzuordnen. Zur Wahrung der Bundeseinheitlichkeit bedarf eine solche Anordnung nach § 23 Abs. 1 Satz 3 AufenthG des Einvernehmens mit dem BMI. Dieses Einvernehmen ist zwingende Voraussetzung für die Wirksamkeit der Anordnung (BVerwG, Urteil vom 27. Januar 2009 - 1 C 40.07 - BVerwGE 133, 72 Rn. 11; Hailbronner, Ausländerrecht, Stand Dezember 2021, § 23 AufenthG Rn. 17; Röcker, in: Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 13. Aufl. 2020, § 23 AufenthG Rn. 10).
32 Der Senat kann im Ergebnis offenlassen, ob die oberste Landesbehörde von der ihr nach § 23 Abs. 1 AufenthG eröffneten Anordnungsbefugnis in jeder Hinsicht rechtsfehlerfrei Gebrauch gemacht hat (2.1). Das BMI hat jedenfalls das im Einklang mit dem Grundgesetz (2.2) zur Wahrung der Bundeseinheitlichkeit vorgesehene Einvernehmen bis zum Zeitpunkt der Erledigung der Aufnahmeanordnung rechtmäßig verweigert (2.3).
33 2.1 Ob die Aufnahmeanordnung des Klägers vom 9. Juni 2020 insgesamt von § 23 Abs. 1 AufenthG gedeckt gewesen ist, bedarf keiner abschließenden Entscheidung. Zweifel könnten hier daraus erwachsen, dass sich die Aufnahmeanordnung auf drittstaatsangehörige Asylsuchende bezog (a)), die sich bereits in einem Mitgliedstaat der Europäischen Union aufhielten (b)), ohne dass die Feststellung eines - auch - herkunftslandbezogenen Schutzbedarfs vorgesehen war (c)). Die tatbestandlichen Voraussetzungen des § 23 Abs. 1 AufenthG im Übrigen lagen, soweit dies gerichtlicher Überprüfung unterliegt, jedenfalls vor (d)).
34 a) Die Aufnahmeanordnung vom 9. Juni 2020 war - wie in der mündlichen Verhandlung erörtert - bei verständiger Würdigung unter Berücksichtigung der darin verwendeten Formulierungen, der tatsächlichen Sachlage im Juni 2020 und der diesbezüglichen Korrespondenz der Beteiligten dahin zu verstehen, dass sie drittstaatsangehörige Personen mit Aufenthalt im Lager Moria begünstigen sollte, die einen noch nicht bestandskräftig beschiedenen Asylantrag gestellt hatten oder dies jedenfalls beabsichtigten. Für eine vom Kläger beabsichtigte Erfassung auch von Personen mit bereits - positiv oder negativ - abgeschlossenem Asylverfahren bestanden aus dem objektiven Empfängerhorizont des BMI bis zur Erledigung keine konkreten Anhaltspunkte.
35 Zwar war der Umschreibung des begünstigten Personenkreises unter Nr. I. 1. 1.1. der Aufnahmeanordnung eine Differenzierung nach dem Stand des Asylverfahrens nicht ausdrücklich zu entnehmen. Der bezeichnete Personenkreis ist jedoch im Kontext mit der in der Anordnung einleitend beschriebenen Ausgangslage zu sehen, in der von 22 000 im überfüllten griechischen Aufnahmelager Moria lebenden "Schutzsuchenden" die Rede ist. Auch wenn dieser Begriff es bei einem materiellen Schutzverständnis noch nicht ausschließt, dass auch Personen gemeint gewesen sein könnten, die in Griechenland bereits formal schutzberechtigt waren, war dieser Personenkreis indes seinerzeit noch nicht im Blickfeld der Aufnahmeüberlegungen von Bund und (einigen) Ländern. So nimmt die Aufnahmeanordnung Bezug auf die Erklärung des Bundesinnenministers, Deutschland sei bereit, bis zu einem Viertel der in Europa ankommenden "Schutzsuchenden" aufzunehmen, sowie auf die nachfolgend am 9. März 2020 vom Koalitionsausschuss der Bundesregierung beschlossene Aufnahme von Kindern (und teilweise deren Familienangehörigen) aus Moria. Diese Aufnahmen erfolgten im Wege der Ausübung des Selbsteintrittsrechts nach Art. 17 Abs. 2 Dublin III-VO und betrafen somit Personen mit noch laufendem Asylverfahren. Hieran hat sich der Kläger nach seinen in der mündlichen Verhandlung bekräftigten Angaben orientiert; er wollte erklärtermaßen denselben Personenkreis begünstigen wie seinerzeit der Bund. Eine Aufnahme auch von bereits in Griechenland als international schutzberechtigt anerkannten Personen durch den Bund stand bis zum Zeitpunkt der Erledigung der klägerischen Aufnahmeanordnung indes noch nicht in Rede; dazu ist es erst im Oktober 2020 nach der brandbedingten Zerstörung des Lagers Moria gekommen.
36 Auch dem zwischen den Beteiligten geführten Schriftwechsel war nicht zu entnehmen, dass der Kläger darüberhinausgehend bereits im Juni/Juli 2020 die Einbeziehung von in Griechenland anerkannten Schutzberechtigten beabsichtigte. Das BMI hatte mit Schreiben vom 7. Mai 2020 die Versagung des Einvernehmens angekündigt. Zur Begründung hatte es den Anwendungsvorrang der Dublin III-VO und die unterschiedlichen Rechtsfolgen der beabsichtigten Landesaufnahme einerseits und der - mit weiteren Mitgliedstaaten konsentierten und durch den Bund praktizierten - Aufnahme im Wege der Ausübung des Selbsteintrittsrechts zur Durchführung eines ergebnisoffenen Asylverfahrens andererseits angeführt. Diesen Einwänden hat der Kläger mit seiner Bitte um Erteilung des Einvernehmens vom 12. Juni 2020 lediglich in der Sache widersprochen. Er hat dabei indes nicht erkennen lassen, dass er auch Personen von der Anordnung hätte erfasst wissen wollen, auf die die Einwände von vornherein nicht zutreffen konnten (etwa Schutzberechtigte). Vor diesem Hintergrund konnte vom BMI nicht erwartet werden, in seine Entscheidung über das Einvernehmen eine Personengruppe bereits anerkannter Schutzberechtigter (oder gar bestandskräftig abgelehnter Asylbewerber) ausdrücklich mit gesonderten Überlegungen einzubeziehen oder durch Rückfrage beim Kläger eine weitergehende Klärung herbeizuführen.
37 Ob sich im Aufnahmelager Moria im maßgeblichen Zeitpunkt überhaupt anerkannte Schutzberechtigte befanden oder ob dieser Personenkreis nach einer Schutzzuerkennung ausnahmslos unmittelbar auf das Festland transferiert worden ist, bedarf damit keiner weiteren Aufklärung. Nicht zu vertiefen ist nach alledem auch die - im Falle einer Einbeziehung von Personen mit abgeschlossenem Asylverfahren - aufgeworfene Frage, ob die Aufnahmeanordnung hinsichtlich der dann möglicherweise unterschiedlich zu behandelnden verschiedenen Personengruppen teilbar sowie hinreichend bestimmt gewesen wäre.
38 b) Einer Landesaufnahmeanordnung für den hier erfassten Personenkreis steht rechtlich nicht schon entgegen, dass sich die begünstigte Ausländergruppe bereits in einem ersten Zufluchtsstaat aufhält (aa)). Das dürfte auch dann gelten, wenn es sich bei diesem - wie hier - um einen Mitgliedstaat der Europäischen Union handelt und die Betroffenen dort ein Asylverfahren betreiben (bb)).
39 aa) Der Wortlaut des § 23 Abs. 1 Satz 1 AufenthG regelt die Erteilung humanitärer Aufenthaltserlaubnisse an Ausländer aus "bestimmten" Staaten oder in sonstiger Weise bestimmte Ausländergruppen, ohne eine Einschränkung in Bezug auf den aktuellen Aufenthaltsstaat vorzunehmen. Nach dem Willen des Gesetzgebers kann sich die Anordnung sowohl auf Personen beziehen, die sich noch nicht im Bundesgebiet aufhalten, als auch auf bereits Aufhältige (BT-Drs. 15/420 S. 77). Dies schließt im Grundsatz auch Personen ein, die sich zwar nicht mehr im Herkunftsland, aber auch noch nicht in Deutschland, sondern in einem ersten Zufluchtsland aufhalten. Im Rahmen (vergleichbarer) humanitärer Aufnahmeprogramme des Bundes nach § 23 Abs. 2 AufenthG sind Aufnahmen aus Erstzufluchtsländern auch bereits mehrfach praktiziert worden. Dies gilt etwa für die Aufnahmeprogramme für syrische Flüchtlinge aus der Türkei oder die Aufnahme von anerkannten international Schutzberechtigten aus Malta im Jahr 2010 (vgl. Verwaltungsvorgang Bl. 58 sowie Heuser, Rechtsgutachten zur Zulässigkeit der Aufnahme von Schutzsuchenden durch die Bundesländer aus EU-Mitgliedstaaten, S. 24 und 28). Für Landesaufnahmeprogramme kann insoweit nichts Anderes gelten.
40 bb) Der Senat neigt zu der Annahme, dass die auf § 23 Abs. 1 AufenthG gestützte humanitäre Aufnahme von Drittstaatsangehörigen auch dann nicht von vornherein rechtlich unzulässig ist, wenn sich diese - wie hier - in einem Mitgliedstaat der Europäischen Union als Asylsuchende aufhalten. Vorrangiges Unionsrecht schließt dies nicht aus.
41 Für den Hauptbereich "Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts", dem auch die Art. 77 bis 80 AEUV unterfallen, ist der Union eine mit den Mitgliedstaaten geteilte Zuständigkeit übertragen (Art. 4 Abs. 2 Buchst. j AEUV). Hier können die Mitgliedstaaten gesetzgeberisch tätig werden und verbindliche Rechtsakte erlassen, "sofern und soweit die Union ihre Zuständigkeit nicht ausgeübt hat" (Art. 2 Abs. 2 AEUV). Es bestehen keine konkreten Anhaltspunkte dafür, dass die der Union übertragenen Zuständigkeiten im Bereich Asyl, subsidiärer Schutz und vorübergehender Schutz (Art. 78 AEUV) sowie der gemeinsamen Einwanderungspolitik (Art. 79 AEUV) und die auf diesen Grundlagen erlassenen Rechtsakte des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems jedwede humanitären Aufenthalte insgesamt abschließend regeln sollen und damit zusätzliche Aufnahmen einzelner Mitgliedstaaten aus - anders gearteten oder zumindest weiter gefassten - humanitären Gründen sperren. Die hier beabsichtigte Aufnahme nach § 23 Abs. 1 AufenthG aus humanitären Gründen ist nicht an die engen Voraussetzungen des internationalen oder des vorübergehenden Schutzes nach der sogenannten Massenzustromrichtlinie (Richtlinie 2001/55/EG; siehe dazu auch § 24 AufenthG, sowie Röcker, in: Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 13. Aufl. 2020, § 23 AufenthG Rn. 2) gebunden. Der internationale Schutz nach der Richtlinie 2011/95/EU schließt weitere humanitäre Schutzformen nicht aus (vgl. den 15. Erwägungsgrund der RL 2011/95/EU sowie O'Brien, in: Dörig <Hrsg.>, Handbuch Migrations- und Integrationsrecht, 2. Aufl. 2020, § 18 Rn. 11). Von seiner Kompetenz zur Regelung von Normen für die Erteilung von Visa und Aufenthaltstiteln für einen langfristigen Aufenthalt (Art. 79 Abs. 2 Buchst. a AEUV) hat der Unionsgesetzgeber hinsichtlich humanitärer Aufenthalte bislang keinen Gebrauch gemacht (vgl. EuGH, Urteil vom 7. März 2017 - C-638/16 PPU [ECLI:EU:C:2017:173], X und X - Rn. 44 und 51).
42 Soweit das Unionsrecht für das Problem der Überforderung einzelner Mitgliedstaaten mit Asylsuchenden und eines dadurch bedingten systemischen Versagens der allgemeinen Zuständigkeits- und Verteilungsregeln bestimmte Bewältigungsmechanismen bereithält (vgl. etwa Art. 78 Abs. 3 AEUV oder die im hiesigen Kontext zur Anwendung gekommene Zuständigkeitsübernahme nach dem Rechtsgedanken des Art. 17 Abs. 2 Dublin III-VO), dürften auch diese nicht abschließend sein und namentlich einen außerhalb des Asylverfahrens gewährten humanitären Schutz nicht von vornherein sperren.
43 c) Nicht abschließend zu entscheiden ist die Frage, ob es in derartigen Fällen ausreicht, dass humanitäre Gründe in Bezug auf den Mitgliedstaat vorliegen, in dem sich die Ausländergruppe aufhält, oder ob es auch in Bezug auf den jeweiligen Herkunftsstaat der vorherigen Feststellung eines Schutzbedarfs bedarf, der über das - nur kurzfristige - rein asylverfahrensbedingte Bleiberecht hinausgeht. Humanitärer Schutz nach dem Abschnitt 5 des Kapitels 2 des Aufenthaltsgesetzes ist - von Ausnahmen etwa nach § 23 Abs. 2 und 4 AufenthG abgesehen - grundsätzlich zeitlich begrenzt; er endet mit dem Wegfall der humanitären Gründe. § 26 Abs. 2 AufenthG, der namentlich auch auf § 23 Abs. 1 AufenthG Anwendung findet (BVerwG, Urteil vom 27. Januar 2009 - 1 C 40.07 - BVerwGE 133, 72 Rn. 12), schließt eine Verlängerung der humanitären Aufenthaltserlaubnis ausdrücklich aus, wenn das Ausreisehindernis oder die sonstigen einer Aufenthaltsbeendigung entgegenstehenden Gründe entfallen sind. Dies impliziert, dass schon die Aufenthaltsgewährung voraussetzt, dass der Aufenthalt aus rechtlichen oder humanitären Gründen nicht beendet werden kann oder soll. Bezugspunkt einer solchen Feststellung ist stets - primär oder zumindest auch - der Herkunftsstaat, der typischerweise am ehesten für eine Rückkehr in Betracht kommt (vgl. Art. 3 Nr. 3 RL 2008/115/EG). Humanitäre Gründe für die Aufenthaltsgewährung in Deutschland müssen deshalb jedenfalls auch in Bezug auf diesen Staat vorliegen.
44 Dies war in der Aufnahmeanordnung des Klägers vom 9. Juni 2020, die den begünstigten Personenkreis auch nicht nach Herkunftsstaaten weiter eingegrenzt hat, nicht besonders vorgesehen. Diese knüpfte vielmehr allein an die desolaten humanitären Bedingungen im griechischen Lager Moria an und definierte Personen als besonders schutzbedürftig, die hiervon als besonders hart betroffen angesehen wurden. So wurden bestimmte Personengruppen wie unbegleitete Minderjährige, Schwangere, Alleinerziehende mit jüngeren Kindern oder Personen, die etwa altersbedingt einer COVID-19 Hochrisikogruppe angehören, allein deshalb als besonders schutzbedürftig eingeordnet. Aus der vorgesehenen Beteiligung von UNHCR bei der Auswahl (Nr. 1.3 der Aufnahmeanordnung) ergibt sich hier nicht hinreichend deutlich etwas Anderes, denn dessen Vorschläge sollten sich ihrerseits auf Empfehlungen von Ärzten (anerkannter Nichtregierungsorganisationen) stützen.
45 Der auf die griechischen Aufnahmebedingungen bezogene humanitäre Grund wäre indes bereits mit der Einreise im Wege des Visumverfahrens entfallen und hätte die Erteilung der vorgesehenen Aufenthaltserlaubnis für drei Jahre jedenfalls für sich allein nicht mehr tragen können. Denn schon in diesem Zeitpunkt hätten die betroffenen Drittstaatsangehörigen in keiner Beziehung mehr zu Griechenland gestanden; eine Rückführung dorthin wäre selbst bei einer Verbesserung der dortigen Bedingungen nicht in Betracht gekommen.
46 Allerdings konnten die von der Aufnahmeanordnung erfassten schutzsuchenden Drittstaatsangehörigen im Moment der (gedachten) Einreise in die Bundesrepublik auf eine Rückkehr in den Herkunftsstaat nicht verwiesen werden, soweit sie (noch) über ein asylverfahrensbedingtes Bleiberecht verfügten (vgl. dazu EuGH, Urteil vom 19. Juni 2018 - C-181/16 [ECLI:EU:C:2018:465], Gnandi -, sowie Beschluss vom 5. Juli 2018 - C-269/18 PPU [ECLI:EU:C:2018:544], C u.a. -). Ob dieses rein verfahrensbedingte und für sich genommen eher kurzfristige Rückkehrhindernis in das Herkunftsland, das bewirkte, dass den Betroffenen zunächst keine alternative und vorrangige Möglichkeit zur Verfügung stand, der in Griechenland bestehenden Notlage zu entkommen, vor dem Hintergrund des § 26 Abs. 2 AufenthG die Erteilung einer für drei Jahre gültigen Aufenthaltserlaubnis in Deutschland rechtfertigen konnte, lässt der Senat offen. Denn die Klage hat jedenfalls aus anderen Gründen keinen Erfolg (siehe unten 2.3).
47 d) Im Übrigen sind gegen die Aufnahmeanordnung vom 9. Juni 2020 allerdings rechtliche Bedenken nicht ersichtlich.
48 Ob die oberste Landesbehörde eine Anordnung nach § 23 Abs. 1 AufenthG trifft, steht in ihrem Ermessen, das lediglich durch die im Gesetz genannten Motive ("aus völkerrechtlichen oder humanitären Gründen oder zur Wahrung politischer Interessen der Bundesrepublik Deutschland") dahin begrenzt ist, dass eine Anordnung nicht aus anderen Gründen erlassen werden darf. Humanitäre Gründe in diesem Sinne liegen vor, wenn die Aufnahmeanordnung durch einen nicht auf rechtlicher Verpflichtung, sondern auf moralischen oder menschlichen Überlegungen beruhenden Einsatz zugunsten anderer Menschen motiviert ist, die sich in Not oder Bedrängnis befinden. Eine besondere Qualifizierung oder Schwere ist nicht erforderlich; es genügen Nachteile und Rechtsgutsbeeinträchtigungen von Gewicht (vgl. Funke-Kaiser, in: GK-AufenthG, Stand Dezember 2015, § 23 Rn. 16 f.). Aus der begrifflichen Weite humanitärer Gründe, der Binnensystematik der Vorschrift, die humanitäre Gründe in eine Reihe mit politischen Interessen der Bundesrepublik Deutschland stellt, sowie der Zuweisung der Entscheidungskompetenz an die höchste politische Ebene der Landesverwaltung ergibt sich, dass die oberste Landesbehörde bei der Annahme der Voraussetzungen für eine Landesaufnahmeanordnung über einen weiten Beurteilungsspielraum verfügt. Es handelt sich um eine politische Leitentscheidung, die sowohl hinsichtlich der tatbestandlichen Voraussetzungen als auch auf der Rechtsfolgenseite allenfalls einer begrenzten gerichtlichen Überprüfung unterliegt. Die oberste Landesbehörde kann im Rahmen ihres Entschließungs- und Auswahlermessens den von einer Anordnung erfassten Personenkreis bestimmen. Sie kann dabei positive Kriterien (Erteilungsvoraussetzungen) und negative Kriterien (Ausschlussgründe) aufstellen (vgl. BVerwG, Urteile vom 19. September 2000 - 1 C 19.99 - BVerwGE 112, 63 <66> und - zu § 23 Abs. 2 AufenthG - vom 15. November 2011 - 1 C 21.10 - BVerwGE 141, 151 Rn. 12).
49 Dies zugrunde gelegt, bestanden gegen die Aufnahmeanordnung des Klägers - vorbehaltlich der Frage eines hinreichenden Herkunftslandbezugs und des noch zu thematisierenden Einvernehmens des BMI - keine rechtlichen Bedenken. Es liegt auf der Hand und wird von der Beklagten nicht bestritten, dass die in der Aufnahmeanordnung beschriebenen, zudem allgemeinkundigen desolaten humanitären Bedingungen im überfüllten griechischen Aufnahmelager Moria humanitäre Gründe darstellen, die eine Aufnahmeanordnung nach § 23 Abs. 1 AufenthG grundsätzlich rechtfertigen können. An dieser Situation hatte sich jedenfalls bis zum Zeitpunkt der Erledigung der Aufnahmeanordnung auch nichts geändert. Die Aufnahmeanordnung begünstigte bei sachgerechter Auslegung eine "in sonstiger Weise bestimmte Ausländergruppe" (§ 23 Abs. 1 AufenthG); nämlich bis zu 300 asylsuchende (s.o.) Drittstaatsangehörige, die im Zeitpunkt des Erlasses der Anordnung im Aufnahmelager Moria aufhältig und nach näher bezeichneten Kriterien als besonders schutzbedürftig anzusehen waren. Die Auswahl sollte durch den Kläger erfolgen und sich im Einvernehmen mit den zuständigen griechischen Behörden auf Vorschläge von Vertretern des UNHCR stützen, die sich ihrerseits auf Empfehlungen von Ärzten anerkannter Nichtregierungsorganisationen stützen sollten.
50 2.2 Nach § 23 Abs. 1 Satz 3 AufenthG bedarf die Anordnung zur Wahrung der Bundeseinheitlichkeit des Einvernehmens mit dem BMI. Dieses zwingende Erfordernis des Einvernehmens zu Aufnahmeanordnungen der obersten Landesbehörden findet seine verfassungsrechtliche Grundlage in Art. 84 Abs. 1 Satz 2 und 5 GG. Es handelt sich um eine verfassungsmäßige, nach Art. 84 Abs. 1 Satz 5 GG einer Abweichung durch die Länder unzugängliche (das heißt abweichungsfeste) Regelung des Verwaltungsverfahrens. Keiner Vertiefung bedarf daher die Frage, ob ein derartiges generelles Erfordernis des Einvernehmens mit einem einzelnen Bundesministerium (auch) als "abgeschwächte Form" der Einzelweisung von Art. 84 Abs. 5 GG gedeckt wäre, wie es eine ältere Rechtsprechung angenommen hat (BVerwG, Urteile vom 20. Juni 1973 - 8 C 141.72 - BVerwGE 42, 279 <283 f.> und vom 16. Mai 1983 - 1 C 56.79 - BVerwGE 67, 173 <175 f.>; siehe aber BT-Drs. 15/420 S. 94, wonach Art. 84 Abs. 5 GG nur die Bundesregierung als Kollegium ermächtigt).
51 a) Gemäß Art. 84 Abs. 1 Satz 1 GG regeln die Länder, wenn sie - wie grundsätzlich beim Aufenthaltsgesetz - Bundesrecht als eigene Angelegenheit ausführen, die Einrichtung der Behörden und das Verwaltungsverfahren. Art. 84 GG eröffnet dem Bund indes verschiedene Einwirkungsmöglichkeiten auf den Verwaltungsvollzug, die es ihm ermöglichen, einen möglichst wirksamen und gleichmäßigen Verwaltungsvollzug des Bundesrechts zu gewährleisten (vgl. F. Kirchhof, in: Dürig/Herzog/Scholz, Grundgesetz-Kommentar 95. EL, Stand Juli 2021, Art. 84 GG Rn. 2). Wie sich aus Art. 84 Abs. 1 Satz 2 und 5 GG ergibt, hat er insbesondere ein Zugriffsrecht auf das Regelungsgebiet des Verwaltungsverfahrens (BVerwG, Urteil vom 26. Juni 2014 - 3 CN 1.13 - BVerwGE 150, 129 Rn. 11).
52 b) Regelungen des Bundes zum Verwaltungsverfahren setzen voraus, dass dem Bund in dem jeweiligen Sachbereich auch die materiell-rechtliche Normsetzungskompetenz nach den Art. 70 ff. GG zukommt (BVerwG, Urteil vom 26. Juni 2014 - 3 CN 1.13 - BVerwGE 150, 129 Rn. 12). Das ist hier der Fall. Dabei bedarf keiner Vertiefung, ob die humanitäre Aufnahme von Schutzsuchenden aus dem Ausland der ausschließlichen Gesetzgebungskompetenz des Bundes für die Einwanderung (Art. 73 Abs. 1 Nr. 3 GG) oder der konkurrierenden Gesetzgebungskompetenz auf dem Sachgebiet des Aufenthaltsrechts der Ausländer (Art. 74 Abs. 1 Nr. 4 GG) oder der Angelegenheiten der Flüchtlinge (Art. 74 Abs. 1 Nr. 6 GG) zuzuordnen ist. Selbst wenn mit Blick auf den temporären Charakter der Aufnahme "nur" der Kompetenztitel des Art. 74 Abs. 1 Nr. 4 GG einschlägig sein sollte, wofür einiges spricht, stünde der Bundeskompetenz für die Regelung des § 23 Abs. 1 AufenthG die dann zu beachtende zusätzliche Kompetenzausübungsschranke des Art. 72 Abs. 2 GG nicht entgegen.
53 Nach Art. 72 Abs. 2 GG hat der Bund das Gesetzgebungsrecht, wenn und soweit die Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse im Bundesgebiet oder die Wahrung der Rechts- oder Wirtschaftseinheit im gesamtstaatlichen Interesse eine bundesgesetzliche Regelung erforderlich macht. Diese Voraussetzungen sind angesichts der potentiell erheblichen Auswirkungen von Gruppenaufnahmen auf die anderen Länder und den Bund (vgl. zur Vorläuferregelung BT-Drs. 11/6321 S. 48 f.) hier erfüllt (siehe auch BT-Drs. 15/420 S. 66). Nur eine bundesrechtliche Regelung der landesbehördlichen Aufnahme von Ausländergruppen stellt einheitliche rechtliche Voraussetzungen sicher und ermöglicht es, die Aufnahmeanordnung vom Einvernehmen des BMI abhängig zu machen; und nur mittels einer solchen Einvernehmensregelung kann verhindert werden, dass sich einzelne Bundesländer zu weit von einer bundeseinheitlichen Rechtsanwendung entfernen (siehe auch BVerwG, Urteil vom 19. September 2000 - 1 C 19.99 - BVerwGE 112, 63 <69>).
54 c) Das durch § 23 Abs. 1 Satz 3 AufenthG begründete Erfordernis des Einvernehmens des BMI ist eine Regelung des Verwaltungsverfahrens im Sinne von Art. 84 Abs. 1 Satz 2 und 5 GG. Der dort verwendete Begriff des Verwaltungsverfahrens ist weiter als derjenige des Verwaltungsverfahrensgesetzes. Er umfasst jegliches Verfahren der Verwaltung im Sinne eines administrativen Erkenntnis- und Entschließungsprozesses, nicht nur das, welches auf Verwaltungsakte oder Verwaltungsverträge klassischer Behörden nach § 9 VwVfG gerichtet ist (vgl. F. Kirchhof, in: Dürig/Herzog/Scholz, Grundgesetz-Kommentar 95. EL, Stand Juli 2021, Art. 84 Rn. 96). Zum Verwaltungsverfahren in diesem Sinne gehören das "Wie" des Verwaltungshandelns, die Einzelheiten des Verfahrensablaufs, nämlich die Art und Weise der Ausführung eines Gesetzes einschließlich der dabei zur Verfügung stehenden Handlungsformen, die Form der behördlichen Willensbildung, die Art der Prüfung und Vorbereitung der Entscheidung, deren Zustandekommen und Durchsetzung sowie verwaltungsinterne Mitwirkungs- und Kontrollvorgänge (BVerfG, Beschluss vom 13. September 2005 - 2 BvF 2/03 - BVerfGE 114, 196 <224>). Darunter fällt auch eine Regelung, die die nach außen zuständige Landesbehörde hinsichtlich bestimmter Anordnungen oder Verwaltungsakte an die Zustimmung des sachlich zuständigen Bundesministers bindet (vgl. BVerfG <Plenum>, Gutachten vom 22. November 1951 - PBvV 1/51 - BVerfGE 1, 76 <79>; Heitsch, Die Ausführung der Bundesgesetze durch die Länder, 2001, S. 187, 189, 246; Blümel, in: Isensee/Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts, Bd. IV, 1990, § 101 Rn. 35; a.A. Oebbecke, in: Isensee/Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts, Bd. VI, 3. Aufl. 2008, § 136 Rn. 42).
55 d) Von der vorstehenden Einordnung als Regelung des Verwaltungsverfahrens ist auch der Gesetzgeber selbst ausgegangen, wie aus § 105a AufenthG deutlich wird. Nach dieser Vorschrift, die durch das Gesetz zur Umsetzung aufenthalts- und asylrechtlicher Richtlinien der Europäischen Union vom 19. August 2007 (BGBl. I 1970) in das Aufenthaltsgesetz eingefügt worden ist, kann von den in § 23 Abs. 1 Satz 3 AufenthG und weiteren Normen getroffenen Regelungen des Verwaltungsverfahrens nicht abgewichen werden. Art. 84 GG war zuvor dahin geändert worden, dass einerseits bundesrechtliche Regelungen zum Verwaltungsverfahren im Sinne von Art. 84 Abs. 1 Satz 2 GG als solche keine Zustimmungspflicht des Bundesrates zu dem Gesetz (mehr) begründen, andererseits aber Art. 84 Abs. 1 Satz 5 GG es dem Bund ermöglicht, in Ausnahmefällen wegen eines besonderen Bedürfnisses nach bundeseinheitlicher Regelung das Verwaltungsverfahren ohne Abweichungsmöglichkeit für die Länder zu regeln; erst ein solches Gesetz bedarf nach Art. 84 Abs. 1 Satz 6 GG der Zustimmung des Bundesrats (vgl. Gesetz zur Änderung des Grundgesetzes vom 28. August 2006, BGBl. I S. 2034).
56 In Anwendung dieser Regelungen ist das Recht der Länder, von dem Einvernehmensvorbehalt des § 23 Abs. 1 Satz 3 AufenthG abzuweichen, durch § 105a AufenthG zulässigerweise ausgeschlossen worden. Das Gesetz zur Umsetzung aufenthalts- und asylrechtlicher Richtlinien der Europäischen Union vom 19. August 2007 (BGBl. I 1970) ist - wie nach Art. 84 Abs. 1 Satz 6 GG erforderlich - mit Zustimmung des Bundesrats ergangen. Auch die weiteren Voraussetzungen des Art. 84 Abs. 1 Satz 5 GG - Ausnahmefall und besonderes Bedürfnis nach bundeseinheitlicher Regelung - unterliegen keinen durchgreifenden Bedenken. In der Begründung des Gesetzentwurfs ist hierzu ausgeführt, bereits die Notwendigkeit der besonderen Anordnung (an die Ausländerbehörden, bestimmten Ausländergruppen eine Aufenthaltserlaubnis zu erteilen) mache den Ausnahmecharakter der Regelung deutlich. Um eine Einheitlichkeit der Anwendung dieser Ausnahmeregelung sicherzustellen, sei die Herstellung des Einvernehmens mit dem BMI unverzichtbar (BT-Drs. 16/5065 S. 205). Dies ist im Ergebnis nicht zu beanstanden.
57 2.3 Die Weigerung des BMI, das gemäß § 23 Abs. 1 Satz 3 AufenthG erforderliche Einvernehmen zu erteilen, war im maßgeblichen Zeitpunkt der Erledigung der Aufnahmeanordnung rechtmäßig. Die hierfür in erster Linie angeführte Begründung, dass die Aufnahmeanordnung zu einer - grundlegend - unterschiedlichen Rechtsstellung von Personen aus demselben griechischen Flüchtlingslager im Bundesgebiet führen würde, ist vom Zweck des Einvernehmens gedeckt.
58 a) Das Erfordernis des Einvernehmens des BMI dient nach Wortlaut, Entstehungsgeschichte und Sinn und Zweck der Norm der Wahrung der Bundeseinheitlichkeit.
59 § 32 AuslG 1990 führte erstmals eine spezielle Regelung über die humanitäre Aufnahme von bestimmten Ausländergruppen durch die oberste Landesbehörde ein, die - noch ohne ausdrücklichen erläuternden Zusatz - an das Einvernehmen des BMI geknüpft war. Dem lag ausweislich der Entwurfsbegründung die Annahme zugrunde, dass eine solche Entscheidung erhebliche Auswirkungen auf die anderen Länder und auch den Bund habe. Wegen ihrer grundsätzlichen und weittragenden Bedeutung gewinne bei einer solchen Entscheidung der Gesichtspunkt der Wahrung der Bundeseinheitlichkeit besonderes Gewicht (BT-Drs. 11/6321 S. 67). 1993 wurde im Zusammenhang mit der Schaffung einer zusätzlichen Rechtsgrundlage für die vorübergehende Aufnahme von Kriegs- und Bürgerkriegsflüchtlingen (§ 32a AuslG) auch in § 32 AuslG der Zweck des Einvernehmens nunmehr im Gesetzestext ausdrücklich benannt. Hierzu wurde der - bereits mit § 23 Abs. 1 Satz 3 AufenthG identische - Satz angefügt: "Zur Wahrung der Bundeseinheitlichkeit bedarf die Anordnung des Einvernehmens mit dem Bundesminister des Innern" (siehe auch BT-Drs. 12/4450 S. 29 f.). Die Entwurfsbegründung zum heute geltenden § 23 Abs. 1 AufenthG enthält erneut den Hinweis, dass die Entscheidung über die Gruppenaufnahme erhebliche Auswirkungen auch auf die anderen Länder habe und deshalb zur Wahrung der Bundeseinheitlichkeit des Einvernehmens des Bundesministeriums des Innern bedürfe (BT-Drs. 15/420 S. 77). An anderer Stelle wird dort bemerkt, die "Wahrung der Bundesinteressen" erfolge in den Fällen der Gruppenaufnahme durch die Einholung des Einvernehmens des Bundesministeriums des Innern (Satz 3). Diese Hinweise aus den verschiedenen Gesetzgebungsverfahren sprechen zusammenfassend dafür, dass die Bedeutung der Zweckbeschreibung des Einvernehmens ("zur Wahrung der Bundeseinheitlichkeit") einerseits nicht auf die bloße Beschreibung eines Ausgangsbefundes reduziert werden kann, sondern auch handlungsbegrenzende Bedeutung für die Entscheidung des BMI haben sollte. Andererseits ist dieser Zweck nach dem Willen des Gesetzgebers aber nicht eng zu verstehen, sondern - soweit in den Grenzen des Wortlauts möglich - im Lichte des zur Wahrung der Bundesinteressen Erforderlichen auszulegen.
60 b) Aufnahmeanordnungen nach § 23 Abs. 1 AufenthG haben aufgrund ihres einzelfallübergreifenden Inhalts politischen Charakter; ihr Erlass geht über einen typischen Verwaltungsvollzug hinaus. Dem ist durch Entscheidungsspielräume Rechnung zu tragen, die nicht nur der obersten Landesbehörde bei Erlass der Anordnung, sondern auch dem BMI bei der Entscheidung über das Einvernehmen zuzugestehen sind. Diese Entscheidung ist daher zwar an dem ihm (allein) zugewiesenen Belang der Wahrung der Bundeseinheitlichkeit auszurichten. Bei der Konkretisierung des Begriffs der Bundeseinheitlichkeit ist dem BMI indes ein gerichtlich nur eingeschränkt überprüfbarer Beurteilungsspielraum eingeräumt. Denn die Entscheidung über die Erteilung des Einvernehmens ist ungeachtet ihrer Zweckbindung ebenso wie die Aufnahmeentscheidung der obersten Landesbehörde eine - auch - politische Entscheidung. Sie ist mit dem BMI ebenfalls der höchsten politischen Verwaltungsebene (hier: des Bundes) zugewiesen; und die Bestimmung der Grenze bundesstaatlich hinnehmbarer Uneinheitlichkeit ist mit politischen Wertungen verknüpft, bei denen von umfänglicher gerichtlicher Kontrolle freie Handlungsspielräume der Bundesexekutive anzuerkennen sind.
61 Die gerichtliche Kontrolle ist in derartigen Fällen darauf beschränkt, ob die Behörde die gültigen Verfahrensbestimmungen eingehalten hat, von einem richtigen Verständnis des anzuwendenden Gesetzesbegriffs ausgegangen ist, den erheblichen Sachverhalt zutreffend und vollständig ermittelt hat und sich bei der eigentlichen Beurteilung an allgemeingültige Bewertungsmaßstäbe gehalten, insbesondere das Willkürverbot nicht verletzt hat (vgl. BVerwG, Urteil vom 17. September 2015 - 1 C 37.14 - Buchholz 451.902 Europ. Ausländer- und Asylrecht Nr. 77 Rn. 21 m.w.N.).
62 c) Bund und Länder trifft bei der Wahrnehmung ihrer jeweiligen in § 23 Abs. 1 Satz 1 und 3 AufenthG normierten verwaltungsrechtlichen Kompetenzen eine wechselseitige Pflicht zur Rücksichtnahme. Diese wurzelt im Gebot der Bundestreue und der Pflicht zu bundesfreundlichem Verhalten, die auch in verwaltungsrechtliche Bund-Länder-Verhältnisse hineinwirken (vgl. BVerfG, Urteil vom 7. April 1976 - 2 BvH 1/75 - BVerfGE 42, 103 <117>; zur akzessorischen Natur der Bundestreue vgl. auch BVerfG, Beschluss vom 5. Dezember 2001 - 2 BvG 1/00 - BVerfGE 104, 238 <247 f.> m.w.N.). Für das BMI folgt daraus die Pflicht, bei ohne Weiteres ausräumbaren oder für die Länder nicht erkennbaren Bedenken das Einvernehmen nicht ohne Rücksprache mit der obersten Landesbehörde zu verweigern oder gegebenenfalls unter einer Maßgabe zu erteilen.
63 d) Bundeseinheitlichkeit bezieht sich auf eine im Grundsatz einheitliche Behandlung der fraglichen Personengruppe im Bundesgebiet und zielt unter anderem auf die Verhinderung negativer Auswirkungen auf die anderen Länder (horizontal) oder den Bund (vertikal). Dies verlangt keine Uniformität im Sinne absoluter Übereinstimmung, denn § 23 Abs. 1 AufenthG weist die Entscheidungsbefugnis über eine gruppenbezogene Aufnahme gerade der obersten Landesbehörde und damit auch einzelnen Ländern zu (vgl. BVerwG, Urteil vom 19. September 2000 - 1 C 19.99 - BVerwGE 112, 63 <69>). Soll gleichwohl die "Bundeseinheitlichkeit" gewahrt werden, ist indes eine möglichst einheitliche Aufnahmepraxis sowohl dem Grunde nach als auch bei der Ausgestaltung von Aufnahmeanordnungen erwünscht. Dem entspricht eine häufige Staatspraxis, nach der sich die Länder und der Bund im Rahmen der Innenministerkonferenz auf die Aufnahme bestimmter Ausländergruppen und bestimmte Eckpunkte dazu verständigen und das BMI zu derartigen Vereinbarungen - oft noch vor Ausarbeitung konkreter Landesaufnahmeanordnungen - sein Einvernehmen erteilt (vgl. etwa Funke-Kaiser, in: GK-AsylG, Stand Dezember 2015, § 23 Rn. 21 und 33). Das schließt Aufnahmeanordnungen, die nicht derart umfassend abgestimmt sind, zwar nicht aus. Über das erforderliche Einvernehmen kann das BMI dann aber zumindest verhindern, dass sich einzelne Länder durch Erlass entsprechender Anordnungen zu weit von einer bundeseinheitlichen Rechtsanwendung entfernen (vgl. BVerwG, Urteil vom 19. September 2000 - 1 C 19.99 - BVerwGE 112, 63 <69>). Hat der Bund in eigener Zuständigkeit Ausländer aus der fraglichen Gruppe aus denselben humanitären Gründen aufgenommen, darf das BMI einem Landesaufnahmeprogramm auch bei fehlender Kohärenz mit den eigenen, auf dieselbe Personengruppe zielenden Maßnahmen das Einvernehmen verweigern. Dies ist hier keine Frage des allgemeinen Gleichheitssatzes nach Art. 3 Abs. 1 GG, der nur innerhalb des Geltungsbereichs einer Anordnung nach § 23 Abs. 1 AufenthG zum Tragen kommt (vgl. BVerwG, Urteil vom 19. September 2000 - 1 C 19.99 - BVerwGE 112, 63 <66 f.>), sondern Ausprägung der im föderalen Verhältnis bedeutsamen "Bundeseinheitlichkeit".
64 Bei der Bewertung der Erheblichkeit von Uneinheitlichkeiten oder Inkohärenzen im Einzelfall hat das BMI - wie ausgeführt - einen Beurteilungsspielraum. Es muss eine Versagung des Einvernehmens stets begründen. Ob und wie konkret dabei nachteilige Auswirkungen auf die anderen Länder oder den Bund dargelegt werden müssen, hängt vom Einzelfall ab. Je größer und gewichtiger sich die durch eine Aufnahmeanordnung bewirkte Uneinheitlichkeit darstellt, umso weniger rechtfertigungsbedürftig ist ein Veto des BMI. Umgekehrt wird das Einvernehmen in der Regel zu erteilen sein oder dessen Versagung besonders fundierter Begründung bedürfen, wenn ein Land nur in Details der Ausgestaltung eigene Wege geht.
65 Strengere Anforderungen an eine Versagung des Einvernehmens lassen sich entgegen der Auffassung des Klägers nicht aus Art. 72 Abs. 2 GG herleiten. Diese Regelung begrenzt die Ausübung der konkurrierenden Gesetzgebung des Bundes zu bestimmten Kompetenztiteln und richtet sich damit ausschließlich an den Gesetzgeber (s.o. unter 2.2 b)).
66 e) Im vertikalen Verhältnis zwischen Bund und Ländern betrifft nicht schon jeder Fall eines Widerspruchs zu politischen Vorstellungen des Bundes auch die "Bundeseinheitlichkeit" und kann damit eine Versagung des Einvernehmens begründen. Zu berücksichtigen ist aber, dass die Bewältigung humanitärer Notlagen jedenfalls dann, wenn diese in anderen Mitgliedstaaten der Europäischen Union auftreten, häufig auch eine außenpolitische Komponente aufweist, weil hierüber auf zwischenstaatlicher Ebene durch alle oder mehrere Mitgliedstaaten Verhandlungen geführt und Vereinbarungen getroffen werden. In Angelegenheiten der Europäischen Union, zu denen namentlich das Gemeinsame Europäische Asylsystem zählt, wird die Bundesrepublik Deutschland nach außen allein durch den Bund vertreten, wie sich aus Art. 23 Abs. 1 GG rückschließen lässt. Gleiches gilt für die sonstige Pflege der Beziehungen zu auswärtigen Staaten (Art. 32 Abs. 1 GG). Der Bund mag dabei mitunter - wie hier sinngemäß vorgetragen - das Ziel verfolgen, das Maß der Beteiligung der Bundesrepublik Deutschland an der Linderung humanitärer Notlagen in einem Mitgliedstaat der Europäischen Union so zu "dosieren", dass einerseits ein gewisser Beitrag geleistet wird, andererseits aber auch andere Mitgliedstaaten in der Pflicht bleiben, sich zu beteiligen. Eigene humanitäre Aufnahmen seitens der Länder können geeignet sein, diese Balance und damit die Verhandlungsposition des Bundes zu beeinträchtigen.
67 Das BMI ist unter dem Aspekt des ihm zugewiesenen Belangs der Bundeseinheitlichkeit im Grundsatz auch berechtigt, ein koordiniertes Vorgehen aller oder mehrerer durch das Gemeinsame Europäische Asylsystem zusammengeschlossener Mitgliedstaaten durch eine kohärente und einheitliche Vertretung der Bundesrepublik Deutschland zu befördern. Das Einvernehmen zu einer humanitären Landesaufnahme darf in solchen Fällen verweigert werden, wenn der Bund plausibel machen kann, dass er sich auf überstaatlicher Ebene entsprechend positioniert hat oder dass er in konkreten Verhandlungen steht, und dies durch konkurrierende Maßnahmen auf Landesebene beeinträchtigt wird.
68 f) Nach diesen Maßstäben war die Entscheidung des BMI, das Einvernehmen zu der Aufnahmeanordnung des Klägers vom 9. Juni 2020 zu versagen, im maßgeblichen Zeitpunkt der Erledigung rechtlich nicht zu beanstanden.
69 aa) Dahinstehen kann, ob es vorliegend in entsprechender Anwendung des § 28 VwVfG oder nach dem Grundsatz der Bundestreue geboten war, den Kläger vor der Versagung des Einvernehmens anzuhören. Eine solche Anhörung wäre jedenfalls in hinreichender Weise erfolgt. Das BMI hat mit Schreiben vom 7. Mai 2020 auf die Bitte des Klägers um Prüfung, ob das Einvernehmen zu dem Antrag des Landes erteilt werden könne, weitere unbegleitete minderjährige Flüchtlinge von den griechischen Inseln nach § 23 Abs. 1 AufenthG nach Deutschland kommen zu lassen, reagiert und dem Kläger erläutert, warum über das vom Bund Beschlossene hinaus für die Einrichtung von humanitären Aufnahmeprogrammen, die zur direkten Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis führten, aus seiner Sicht kein Raum sei. Der Kläger hatte Gelegenheit zur Stellungnahme und hat von dieser mit seiner Bitte um Erteilung des Einvernehmens vom 12. Juni 2020 auch Gebrauch gemacht.
70 bb) Auch in der Sache ist eine Rechtswidrigkeit der Versagung des Einvernehmens hier nicht festzustellen. Das BMI hatte seine Entscheidung vor allem damit begründet, dass die Aufnahmeanordnung des Klägers zu einer - grundlegend - unterschiedlichen Rechtsstellung von Personen aus demselben griechischen Flüchtlingslager im Bundesgebiet geführt hätte. Denn der Bund hatte seinerseits bereits unter gänzlich anderen Maßgaben einer größeren Zahl von unbegleiteten und behandlungsbedürftigen Minderjährigen (letztere nebst Kernfamilien) die Einreise nach Deutschland ermöglicht. Diese Aufnahme ist im Einklang mit Verfahrensregeln, die von mehreren Mitgliedstaaten unter Beteiligung der Europäischen Kommission zu diesem Zweck abgestimmt waren, dergestalt erfolgt, dass der Bund die Zuständigkeit für das Asylverfahren der ausgewählten Person(en) nach der Dublin III-VO übernommen hat. Die im Klageverfahren vorgelegten Standard Operating Procedures (SOP) vom 11. Mai 2020 (dort insbesondere Nr. 18 ff., Nr. 26) haben dies nachträglich bestätigt. Dieses Vorgehen des Bundes hatte - systemkonform und sachangemessen - die Durchführung eines ergebnisoffenen Asylverfahrens auf der Grundlage einer asylverfahrensrechtlichen Aufenthaltsgestattung zum Ziel. Demgegenüber hätte die vom Kläger beabsichtigte humanitäre Aufnahme nach § 23 Abs. 1 AufenthG zur sofortigen Erteilung von längerfristigen, zunächst auf drei Jahre befristeten Aufenthaltserlaubnissen geführt, ohne dass eine Prüfung des Schutzbedarfs auch in Bezug auf das jeweilige Herkunftsland vorgesehen gewesen wäre. Einer ohne sachliche Gründe so grundlegend unterschiedlichen Rechtsstellung von Personen aus demselben griechischen Flüchtlingslager in Deutschland durfte das BMI wegen nicht hinreichender Wahrung der Bundeseinheitlichkeit durch Versagung seines Einvernehmens zu der Aufnahmeanordnung entgegentreten.
71 Dagegen lässt sich entgegen der Auffassung des Klägers nicht einwenden, dass es unter TOP 38 Nr. 4 des Beschlusses der 211. Sitzung der Ständigen Konferenz der Innenminister und -senatoren der Länder vom 4. bis 6. Dezember 2019 heißt, begründete anderweitige (mit Bundesprogrammen inkohärente) Planungen der Länder blieben möglich. Unabhängig davon, dass Beschlüssen der Innenministerkonferenz keine rechtliche Verbindlichkeit zukommt, ist für eine "Begründetheit" der Abweichung hier nichts Hinreichendes angeführt oder ersichtlich. Der bloße Umstand, dass dem Kläger das von der Beklagten verwendete Aufnahmeinstrumentarium der Zuständigkeitsübernahme für die jeweils betriebenen Asylverfahren nach der Dublin III-VO nicht zur Verfügung steht, musste die Beklagte nicht veranlassen, eine zusätzliche humanitäre Landesaufnahme mit grundlegend unterschiedlichen Rechtsfolgen hinzunehmen. Dabei ist auch zu berücksichtigen, dass die Beklagte keineswegs "untätig" geblieben ist, sondern der Kläger lediglich das Maß der von der Bundesrepublik Deutschland übernommenen humanitären Unterstützung für unzureichend hält.
72 Zu einem anderen Ergebnis führt hier auch nicht das Gebot der Bundestreue. Denn die vorgenannte Problematik war für den Kläger aufgrund des vorausgegangenen Schriftverkehrs bei Erlass seiner Aufnahmeanordnung hinreichend erkennbar. Ihm hätte es oblegen, eventuelle - hier nicht auf der Hand liegende - Möglichkeiten ihrer Bewältigung zu prüfen und gegebenenfalls vorzusehen.
73 cc) In Anbetracht der vorstehenden Ausführungen bedarf keiner Vertiefung, ob auch die erst im Klageverfahren näher dargelegten Erwägungen der Beklagten zu Verhandlungsprozessen und informellen Absprachen mit anderen Mitgliedstaaten und deren potentieller Beeinträchtigung durch zusätzliche Landesaufnahmeanordnungen hier noch hätten berücksichtigt werden können (vgl. zur fehlenden Berücksichtigungsfähigkeit erst nach Eintritt der Erledigung erfolgender nachträglicher Ermessenserwägungen bei der Fortsetzungsfeststellungsklage Riese, in: Schoch/Schneider, Verwaltungsrecht, 41. EL, Stand Juli 2021, § 113 VwGO Rn. 152 f., § 114 Rn. 246), und ob dies in einer Weise plausibilisiert worden ist, dass die Versagung des Einvernehmens auch unter diesem Aspekt wegen mangelnder Wahrung der Bundeseinheitlichkeit gerechtfertigt gewesen wäre.
74 3. Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO.