Beschluss vom 11.12.2023 -
BVerwG 1 B 13.23ECLI:DE:BVerwG:2023:111223B1B13.23.0

  • Zitiervorschlag

    BVerwG, Beschluss vom 11.12.2023 - 1 B 13.23 - [ECLI:DE:BVerwG:2023:111223B1B13.23.0]

Beschluss

BVerwG 1 B 13.23

  • VG Sigmaringen - 09.03.2022 - AZ: 10 K 222/20
  • VGH Mannheim - 02.01.2023 - AZ: 12 S 1841/22

In der Verwaltungsstreitsache hat der 1. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
am 11. Dezember 2023
durch den Vorsitzenden Richter am Bundesverwaltungsgericht Dr. Keller,
den Richter am Bundesverwaltungsgericht Böhmann und
die Richterin am Bundesverwaltungsgericht Fenzl
beschlossen:

  1. Die Beschwerde des Beklagten gegen die Nichtzulassung der Revision in dem Urteil des Verwaltungsgerichtshofs Baden-Württemberg vom 2. Januar 2023 wird zurückgewiesen.
  2. Der Beklagte trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.
  3. Der Wert des Streitgegenstandes wird für das Beschwerdeverfahren auf 2 500 € festgesetzt.

Gründe

1 Die bei sachgerechter Antragsauslegung allein auf die Aufhebung der Abschiebungsandrohung in Ziffer 3 des Ergänzungsbescheides des Regierungspräsidiums T. vom 2. März 2022 bezogene, auf die grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache (§ 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO) gestützte Beschwerde hat keinen Erfolg.

2 1. Eine Rechtssache hat grundsätzliche Bedeutung im Sinne des § 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO, wenn sie eine abstrakte, in dem zu entscheidenden Fall erhebliche Frage des revisiblen Rechts mit einer über den Einzelfall hinausgehenden allgemeinen Bedeutung aufwirft, die im Interesse der Einheitlichkeit der Rechtsprechung oder im Interesse der Rechtsfortbildung in einem Revisionsverfahren geklärt werden muss. Diese Voraussetzungen sind nicht erfüllt, wenn sich die aufgeworfene Frage im Revisionsverfahren nicht stellen würde, wenn sie bereits geklärt ist oder aufgrund des Gesetzeswortlauts mit Hilfe der üblichen Regeln sachgerechter Auslegung und auf der Grundlage der einschlägigen Rechtsprechung ohne Durchführung eines Revisionsverfahrens beantwortet werden kann oder wenn sie einer abstrakten Klärung nicht zugänglich ist (BVerwG, Beschlüsse vom 1. April 2014 - 1 B 1.14 - AuAS 2014, 110 und vom 10. März 2015 - 1 B 7.15 - juris Rn. 3).

3 1.1. Danach ist die Revision nicht wegen der Frage zuzulassen,
"ob die durch das Regierungspräsidium T. erlassene Abschiebungsandrohung gemessen am Maßstab von § 59 AufenthG, also einem Bundesgesetz, rechtmäßig ist und wenn nicht, ob sie infolge europarechtskonformer Auslegung des § 59 AufenthG nach Art. 6 Abs. 1, 3 Ziff. 4, 5, 9 Abs. 1 EU-Rückführungsrichtlinie rechtmäßig ist",
da sie ersichtlich den vorliegenden Einzelfall betrifft und bereits keine abstrakte Rechtsfrage von fallübergreifender Bedeutung formuliert.

4 1.2. Auch rechtfertigt die von der Beschwerde als grundsätzlich klärungsbedürftig aufgeworfene Rechtsfrage,
"ob auch im Falle eines temporär vorliegenden Abschiebungsverbots wegen des Grundsatzes der Nichtzurückweisung eine Abschiebungsandrohung ergehen kann, die gemäß Art. 9 Abs. 1 EU-Rückführungsrichtlinie vorübergehend ausgesetzt wird",
nicht die Revisionszulassung, weil sie im Lichte der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union (im Folgenden Gerichtshof) verneinend dahingehend geklärt ist, dass Art. 5 der Richtlinie 2008/115/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. Dezember 2008 über gemeinsame Normen und Verfahren in den Mitgliedstaaten zur Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger (ABl. L 348 S. 98 - nachfolgend RL 2008/115/EG) dem Erlass einer Abschiebungsandrohung als Rückkehrentscheidung im Sinne des Art. 3 Nr. 4 RL 2008/115/EG entgegensteht, wenn in dieser Entscheidung als Zielland ein Land angegeben wird, bei dem es ernsthafte und durch Tatsachen bestätigte Gründe für die Annahme gibt, dass der Drittstaatsangehörige im Fall der Vollstreckung der Entscheidung der tatsächlichen Gefahr einer gegen Art. 18 oder Art. 19 Abs. 2 GRC verstoßenden Behandlung ausgesetzt wäre (EuGH, Urteil vom 22. November 2022 - C-69/21 [ECLI:​​EU:​​C:​​2022:​​913] - Rn. 52 ff. unter ausdrücklichem Hinweis auf EuGH, Urteil vom 24. Februar 2021 - C-673/19 [ECLI:​​EU:​​C:​​2021:​​127], M. u. a. - Rn. 32, 39).

5 Im Lichte der Rechtsprechung der Großen Kammer des Gerichtshofs geht aus Art. 6 Abs. 1 RL 2008/115/EG hervor, dass dann, wenn die Illegalität des Aufenthalts erwiesen ist, gegenüber jedem Drittstaatsangehörigen unbeschadet der Ausnahmen nach Art. 6 Abs. 2 bis 5 unter strikter Einhaltung der in Art. 5 RL 2008/115/EG festgelegten Anforderungen eine Rückkehrentscheidung ergehen muss, in der unter den in Art. 3 Nr. 3 RL 2008/115/EG genannten Drittländern dasjenige anzugeben ist, in das dieser Drittstaatsangehörige abzuschieben ist. Art. 5 RL 2008/115/EG, der eine für die Mitgliedstaaten bei der Umsetzung dieser Richtlinie geltende allgemeine Regel darstellt, verpflichtet die zuständige nationale Behörde, in jedem Stadium des Rückkehrverfahrens den Grundsatz der Nichtzurückweisung einzuhalten, der als Grundrecht in Art. 18 GRC in Verbindung mit Art. 33 GFK sowie in Art. 19 Abs. 2 GRC gewährleistet ist. Nach Art. 19 Abs. 2 GRC darf nicht nur niemand in einen Staat abgeschoben werden, in dem für sie oder ihn das ernsthafte Risiko der Todesstrafe besteht, vielmehr gilt dies auch für einen Staat, in dem das Risiko der Folter oder einer unmenschlichen oder erniedrigenden Strafe oder Behandlung im Sinne des Art. 4 GRC besteht. Das in Art. 4 GRC aufgestellte Verbot unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung hat absoluten Charakter, da es eng mit der Achtung der Würde des Menschen verbunden ist, auf die sich Art. 1 GRC bezieht. Folglich darf gegen einen illegal im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats aufhältigen Drittstaatsangehörigen, wenn ernsthafte und durch Tatsachen bestätigte Gründe für die Annahme vorliegen, dass er bei Rückkehr in ein Drittland dem tatsächlichen Risiko unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung im Sinne von Art. 4 GRC in Verbindung mit deren Art. 1 und Art. 19 Abs. 2 ausgesetzt wäre, keine Entscheidung über die Rückkehr in dieses Land ergehen, solange dieses Risiko fortbesteht (EuGH, Urteil vom 22. November 2022 - C-69/21 - Rn. 53 ff.).

6 Dem steht - anders als die Beschwerde meint - nicht entgegen, dass der Gerichtshof in einer früheren Entscheidung (EuGH, Urteil vom 3. Juni 2021 - C-546/19 [ECLI:​​EU:​​C:​​2021:​​432] - Rn. 55 ff.) ausgeführt hat, aus Art. 6 Abs. 1 RL 2008/115/EG ergebe sich, dass die Mitgliedstaaten unbeschadet der Ausnahmen nach den Absätzen 2 bis 5 verpflichtet seien, gegen alle illegal in ihrem Hoheitsgebiet aufhältigen Drittstaatsangehörigen eine Rückkehrentscheidung zu erlassen. Diese Erwägungen gälten auch für Drittstaatsangehörige, die sich illegal im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats aufhielten und nicht abgeschoben werden könnten, da der Grundsatz der Nichtzurückweisung dem entgegenstehe. Aus Art. 9 Abs. 1 Buchst. a RL 2008/115/EG ergebe sich, dass dieser Umstand es nicht rechtfertige, in einer solchen Situation keine Rückkehrentscheidung gegen einen Drittstaatsangehörigen zu erlassen, sondern nur, seine Abschiebung in Vollstreckung dieser Entscheidung aufzuschieben.

7 Denn diese Erwägungen sind, wie sich aus der danach ergangenen Rechtsprechung der Großen Kammer des Gerichtshofs (EuGH, Urteil vom 22. November 2022 - C-69/21 - Rn. 53 ff.) deutlich ergibt, für die Auslegung des Unionsrechts und des nationalen Rechts nicht mehr als maßgeblich anzusehen. Die Ausführungen im von der Beschwerde ebenfalls herangezogenen Fall Gnandi (EuGH, Urteil vom 19. Juni 2018 - C-181/16 [ECLI:​​EU:​​C:​​2018:​​465] - Rn. 47), wonach die Mitgliedstaaten nach den Art. 5 und 9 Abs. 1 der Richtlinie verpflichtet sind, in Bezug auf illegal aufhältige Drittstaatsangehörige den Grundsatz der Nichtzurückweisung einzuhalten und ihre Abschiebung aufzuschieben, wenn sie gegen diesen Grundsatz verstoßen würden, stehen im Übrigen im Einklang mit der vorgenannten Rechtsprechung der Großen Kammer, nach der während dieses Zeitraums gegen den Drittstaatsangehörigen ebenso keine aufenthaltsbeendende Maßnahme ergehen darf, was im Übrigen in Art. 9 Abs. 1 RL 2008/115/EG ausdrücklich vorgesehen ist (EuGH, Urteil vom 22. November 2022 - C-69/21 - Rn. 59).

8 Dass allein diese jüngere Rechtsprechung der Großen Kammer des Gerichtshofs für das Verständnis der Art. 5, 6 und 9 RL 2008/115/EG maßgeblich ist, folgt auch daraus, dass sie in mehreren Entscheidungen ausdrücklich bestätigt worden ist (vgl. beispielhaft EuGH, Urteile vom 6. Juli 2023 - C-663/21 [ECLI:​​EU:​​C:​​2023:​​540], AA - Rn. 46 ff., 50 ff. und vom 21. September 2023 - C-143/22 [ECLI:​​EU:​​C:​​2023:​​689] - Rn. 41). Sie steht zudem im Einklang mit weiteren Entscheidungen des Gerichtshofs zur Berücksichtigung des Kindeswohls sowie der familiären Bindungen und damit weiterer Aspekte des Art. 5 RL 2008/115/EG ebenfalls vor Erlass einer Rückkehrentscheidung (vgl. hierzu EuGH, Urteil vom 15. Februar 2023 - C-484/22 [ECLI:​​EU:​​C:​​2023:​​122] - Rn. 23 ff. sowie bereits Urteil vom 11. März 2021 - C-112/20 [ECLI:​​EU:​​C:​​2021:​​197], M.A. - Rn. 41 ff.).

9 Ist die unionsrechtliche Bestimmung - wie hier - vom Gerichtshof bereits unter Würdigung sämtlicher Aspekte ausgelegt worden (vgl. EuGH, Urteil vom 9. September 2015 - C-160/14 [ECLI:​​EU:​​C:​​2015:​​565], Ferreira da Silva e Brito u. a. - Rn. 38), bedarf es hierzu keiner (erneuten) Vorlage an den Gerichtshof.

10 Weitergehenden Klärungsbedarf zeigt die Beschwerde nicht auf.

11 2. Sollte die Beschwerde konkludent zusätzlich zu der Grundsatzrüge auch eine Divergenz zur Rechtsprechung des Gerichtshofs rügen wollen, wäre die Revision schon deshalb nicht zuzulassen, da der Gerichtshof nicht zu den in § 132 Abs. 2 Nr. 2 VwGO genannten divergenzfähigen Gerichten gehört. Im Übrigen stehen die Erwägungen des Berufungsgerichts (UA S. 58 ff.) nach den obigen Ausführungen im Einklang mit der Auslegung der maßgeblichen Vorschriften des Unionsrechts durch den Gerichtshof.

12 3. Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO. Die Streitwertfestsetzung ergibt sich aus § 47 Abs. 1 und 3 und § 52 Abs. 1 GKG.