Beschluss vom 27.10.2023 -
BVerwG 7 B 10.23ECLI:DE:BVerwG:2023:271023B7B10.23.0

  • Zitiervorschlag

    BVerwG, Beschluss vom 27.10.2023 - 7 B 10.23 - [ECLI:DE:BVerwG:2023:271023B7B10.23.0]

Beschluss

BVerwG 7 B 10.23

  • OVG Berlin-Brandenburg - 15.03.2023 - AZ: 3a A 1/23

In der Verwaltungsstreitsache hat der 7. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
am 27. Oktober 2023
durch den Präsidenten des Bundesverwaltungsgerichts Prof. Dr. Korbmacher, die Richterin am Bundesverwaltungsgericht Bähr und
den Richter am Bundesverwaltungsgericht Dr. Seidel
beschlossen:

  1. Die Beschwerde des Klägers gegen die Nichtzulassung der Revision in dem Urteil des Oberverwaltungsgerichts Berlin-Brandenburg vom 15. März 2023 wird zurückgewiesen.
  2. Der Kläger trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens einschließlich der außergerichtlichen Kosten der Beigeladenen.
  3. Der Wert des Streitgegenstandes wird für das Beschwerdeverfahren auf 45 000 € festgesetzt.

Gründe

I

1 Der Kläger wendet sich gegen eine der Beigeladenen - unter Zulassung reduzierter bauordnungsrechtlicher Abstandsflächen - erteilte immissionsschutzrechtliche Genehmigung zur Errichtung und zum Betrieb von drei im Außenbereich gelegenen Windkraftanlagen. Er ist Eigentümer und Jagdpächter mehrerer Waldgrundstücke im Umfeld des Vorhabengebietes.

2 Das Oberverwaltungsgericht hat die (Nachbar-)Anfechtungsklage des Klägers abgewiesen. Der Kläger werde insbesondere durch die Zulassung einer Verkürzung bauordnungsrechtlicher Abstandsflächen auch unter Berücksichtigung brandschutzrechtlicher und sonstiger bauordnungsrechtlicher Anforderungen nicht in eigenen Rechten verletzt. Die angefochtene Genehmigung verstoße auch nicht wegen möglicher von den Anlagen ausgehender Brandgefahren durch brennende Rotorteile gegen das bauplanungsrechtliche Gebot der Rücksichtnahme. Eine nachbarrechtsrelevante Verletzung des Rücksichtnahmegebots setze insofern voraus, dass mit der Errichtung und dem Betrieb der Windkraftanlagen ein Risiko für den Kläger bzw. sein Eigentum geschaffen werde, das über dem allgemeinen Lebensrisiko liege. Das sei hier nicht der Fall.

3 Die Revision gegen sein Urteil hat das Oberverwaltungsgericht nicht zugelassen. Hiergegen richtet sich die Beschwerde des Klägers.

II

4 Die allein auf den Zulassungsgrund des § 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO gestützte Beschwerde hat in der Sache keinen Erfolg.

5 1. Die Beschwerde ist zulässig. Sie ist innerhalb der gesetzlichen Fristen (§ 133 Abs. 2 Satz 1 und Abs. 3 Satz 1 VwGO) schriftlich eingelegt und begründet worden. Der Bevollmächtigte des Klägers unterfällt als Rechtslehrer an einer staatlichen Hochschule (vgl. § 67 Abs. 2 Satz 1 VwGO) nicht dem Personenkreis, der nach § 55d Satz 1 VwGO vorbereitende Schriftsätze und deren Anlagen sowie schriftlich einzureichende Anträge und Erklärungen als elektronische Dokumente übermitteln muss. Eine Pflicht zur Nutzung elektronischer Übermittlungswege ergibt sich für ihn auch nicht aus § 55d Satz 2 VwGO.

6 2. Die Beschwerde ist aber unbegründet. Die Rechtssache hat nicht die ihr vom Kläger beigemessene grundsätzliche Bedeutung.

7 Grundsätzlich bedeutsam im Sinne von § 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO ist eine Rechtssache dann, wenn in dem angestrebten Revisionsverfahren die Klärung einer bisher höchstrichterlich ungeklärten, in ihrer Bedeutung über den der Beschwerde zugrundeliegenden Einzelfall hinausgehenden, klärungsbedürftigen und entscheidungserheblichen Rechtsfrage des revisiblen Rechts (§ 137 Abs. 1 VwGO) zu erwarten ist. In der Beschwerdebegründung muss gemäß § 133 Abs. 3 Satz 3 VwGO dargelegt werden, dass und inwiefern diese Voraussetzungen vorliegen (stRspr, vgl. BVerwG, Beschluss vom 28. Juli 2022 - 7 B 15.21 - NVwZ 2022, 1634 Rn. 7). An diesen Voraussetzungen fehlt es hier.

8 a) Die vom Kläger als rechtsgrundsätzlich bezeichnete Frage,
"ob ein Verstoß gegen das Rücksichtnahmegebot voraussetzt, dass mit der Errichtung und dem Betrieb der Windkraftanlagen ein Risiko für den Kläger bzw. sein Eigentum geschaffen würde, das über dem allgemeinen Lebensrisiko liegt",
rechtfertigt die Zulassung der Revision nicht. Es bedarf zu ihrer Beantwortung keiner Durchführung eines Revisionsverfahrens (vgl. BVerwG, Beschluss vom 16. Dezember 2022 - 7 B 12.22 - UPR 2023, 177 Rn. 6 m. w. N.).

9 Es ist in der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts geklärt, dass für die Beurteilung von Immissionen bzw. schädlichen Umwelteinwirkungen im Sinne von § 3 Abs. 1 BImSchG das Schutzniveau und damit der Nachbarschutz des bauplanungsrechtlichen Gebots der Rücksichtnahme einerseits und des § 5 Abs. 1 Nr. 1 BImSchG andererseits identisch sind (vgl. z. B. BVerwG, Urteile vom 4. Juli 1986 - 4 C 31.84 - BVerwGE 74, 315 <326>, vom 14. April 1989 - 4 C 52.87 - NVwZ 1990, 257 und vom 24. September 1992 - 7 C 7.92 - NVwZ 1993, 987 <988>; Beschluss vom 9. April 2008 - 7 B 2.08 - NVwZ 2008, 789 Rn. 24). Es gibt keinen sachlichen Grund, dies für sonstige Gefahren im Sinne von § 5 Abs. 1 Nr. 1 Alt. 2 BImSchG anders zu bewerten.

10 Ferner ist geklärt, dass von einem Anlagenstandort bzw. einem Baugrundstück aufgrund von physischen Einwirkungen ausgehende Brandübergriffrisiken je nach ihrem Risikopotenzial sonstige Gefahren, erhebliche Nachteile und erhebliche Belästigungen für die Allgemeinheit und die Nachbarschaft im Sinne von § 5 Abs. 1 Nr. 1 BImSchG sein können (vgl. OVG Magdeburg, Urteil vom 21. September 2016 - 2 L 98/13 - BauR 2017, 229 <246>; Beschluss vom 31. Januar 2019 - 2 M 106/18 - NVwZ-RR 2019, 552 Rn. 13; VGH Mannheim, Urteil vom 12. März 2015 - 10 S 1169/13 - juris Rn. 41; Jarass, BImSchG, 14. Aufl. 2022, § 5 Rn. 27). Erforderlich ist dabei die hinreichende Wahrscheinlichkeit eines Schadenseintritts (BVerwG, Urteile vom 11. Dezember 2003 - 7 C 19.02 - BVerwGE 119, 329 <332> und vom 24. Oktober 2013 - 7 C 36.11 - BVerwGE 148, 155 Rn. 47; Beschluss vom 20. November 2014 - 7 B 27.14 - NVwZ-RR 2015, 94 Rn. 15) und damit eine über das allgemeine Lebensrisiko hinausgehende Gefahrenlage. Denn § 5 Abs. 1 Nr. 1 BImSchG zielt nicht darauf, an sich zumutbare Lebensverhältnisse noch risikoloser zu machen (vgl. BVerwG, Urteil vom 22. Oktober 1982 - 7 C 50.78 - NJW 1983, 1507 <1508>).

11 Bei der Anwendung des § 5 Abs. 1 Nr. 1 BImSchG stellt daher die obergerichtliche Rechtsprechung in Bezug auf Unfall- bzw. Brandrisiken wegen herabfallender Trümmerteile von (insbesondere brennenden) Windkraftanlagen gegenüber Nachbargrundstücken konsequent darauf ab, dass der Grundstücksnachbar nur den Schutz vor einer konkreten Gefahr im Sinne eines über das allgemeine Lebensrisiko hinausgehenden Risikos beanspruchen kann (vgl. z. B. OVG Koblenz, Beschluss vom 30. Juli 2020 - 8 A 10157/20.OVG - juris Rn. 6, 24; OVG Münster, Urteil vom 27. Juli 2023 - 22 D 100/22. AK - juris Rn. 61, 70 ff.; Beschlüsse vom 13. September 2017 - 8 B 1373/16 - juris Rn. 25 f., 49 und vom 29. März 2023 - 22 B 176/23.AK - KlimR 2023, 153 Rn. 16, 51; in Anwendung des bauplanungsrechtlichen Rücksichtnahmegebots: OVG Magdeburg, Beschluss vom 9. Februar 2006 - 2 M 71/05 - juris Rn. 29 ff.). Die Frage der Abgrenzung des allgemeinen Lebensrisikos von der konkreten Gefahr eines Schadenseintritts beurteilt sich nach den anerkannten Grundsätzen des Gefahrenrechts und ist damit insbesondere von der Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts und der Schadenshöhe abhängig. Da diese Betrachtung notwendigerweise von den jeweiligen Umständen des Einzelfalls abhängt, ist eine grundsätzliche Klärung des Begriffs des allgemeinen Lebensrisikos entgegen der Auffassung der Beschwerde in einem Revisionsverfahren nicht möglich.

12 b) Die weitere in der Beschwerdebegründung aufgeworfene Frage,
"ob die Feststellungen des Tatsachengerichts, dass im Falle eines entsprechenden Brandes herabfallende Teileauf das Vorhabengrundstück fallen dürften, und nach den Angaben des Beklagten, dass herabfallende Trümmer selbst von der nahen WEA 02nur auf das Vorhabengrundstück fallen, nicht aber auf Flächen des Klägers, bedeutet, dass auch unter diesen Umständen das allgemeine Lebensrisiko, dessen Erhöhung Voraussetzung für einen Verstoß gegen das Rücksichtnahmegebot ist, sich nicht erhöht",
zielt der Sache nach auf die Abklärung, welches konkrete Maß an Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts im Rahmen des § 5 Abs. 1 Nr. 1 BImSchG und damit auch für das gebotene Maß an bauplanungsrechtlicher Rücksichtnahme bei dem hier vom Kläger geltend gemachten Risiko noch als zumutbar hinzunehmen ist. Diese Beurteilung ist nicht durch Gesetz, Rechtsverordnung oder normkonkretisierende Verwaltungsvorschrift vorgeprägt und ist damit Gegenstand der einer Überprüfung in einem Revisionsverfahren grundsätzlich nicht zugänglichen tatrichterlichen Würdigung (vgl. BVerwG, Beschlüsse vom 18. Mai 2016 - 7 B 23.15 - juris Rn. 32 und vom 4. Dezember 2018 - 4 B 3.18 - juris Rn. 5 ff.).

13 Nichts Anderes gilt, soweit der Kläger seine Fragestellung dahingehend präzisiert, ob sich bei der Errichtung und dem Betrieb von Windenergieanlagen im Wald jedenfalls dann trotz eines Brandschutzkonzeptes das Lebensrisiko zulasten des Nachbarn erhöhen kann, wenn der Abstand zu den Grundstücksgrenzen unter der in Brandenburg bauordnungsrechtlich geregelten (Regel-)Abstandsflächentiefe von 0,4 H liegt. Die Frage zielt auch in dieser Formulierung auf eine einzelfallbezogene Konkretisierung des rechtlich relevanten Maßstabs des allgemeinen Lebensrisikos in Abgrenzung zur hinreichenden Schadenseintrittswahrscheinlichkeit. Sie betrifft - auch und gerade bei Unterschreitung bauordnungsrechtlich geregelter, nach Landesrecht abweichungsbedürftiger (Regel-)Abstandsflächen - eine Vielzahl denkbarer, differenziert zu betrachtender Fallgestaltungen und entzieht sich damit einer Klärung in einem revisionsgerichtlichen Verfahren (vgl. BVerwG, Beschluss vom 30. Dezember 2021 - 7 BN 2.21 -‌ juris Rn. 21 m. w. N.). Dass das vorliegende Brandschutzkonzept im vorliegenden Fall auch unter Beachtung der Verkürzung der Abstandsflächen nicht zu beanstanden ist, hat das Berufungsgericht im Übrigen ausführlich begründet.

14 Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2, § 162 Abs. 3 VwGO. Die Festsetzung des Streitwerts beruht auf § 47 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 3, § 52 Abs. 1 GKG.