Urteil vom 29.05.2008 -
BVerwG 10 C 12.07ECLI:DE:BVerwG:2008:290508U10C12.07.0
Urteil
BVerwG 10 C 12.07
- Hessischer VGH - 15.09.2005 - AZ: VGH 3 UE 2381/04.A
In der Verwaltungsstreitsache hat der 10. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
auf die mündliche Verhandlung vom 29. Mai 2008
durch den Vorsitzenden Richter am Bundesverwaltungsgericht Dr. Mallmann und die Richter am Bundesverwaltungsgericht Prof. Dr. Dörig, Richter,
Prof. Dr. Kraft und die Richterin am Bundesverwaltungsgericht Fricke
für Recht erkannt:
- Der Beschluss des Hessischen Verwaltungsgerichtshofs vom 15. September 2005 wird aufgehoben.
- Die Sache wird zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an den Verwaltungsgerichtshof zurückverwiesen.
- Die Kostenentscheidung bleibt der Schlussentscheidung vorbehalten.
Gründe
I
1 Der Kläger begehrt die Verpflichtung der Beklagten, ihn als Asylberechtigten anzuerkennen und festzustellen, dass die Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG vorliegen.
2 Der nach seinen Angaben 1959 in Baku geborene Kläger, ein armenischer Volkszugehöriger aus Aserbaidschan, beantragte im Oktober 2001 seine Anerkennung als Asylberechtigter. Das Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge - jetzt Bundesamt für Migration und Flüchtlinge - (Bundesamt) lehnte den Antrag mit Bescheid vom 20. Dezember 2001 ab, stellte fest, dass weder die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG noch Abschiebungshindernisse gemäß § 53 AuslG vorliegen und drohte dem Kläger die Abschiebung an.
3 Das Verwaltungsgericht hat die Klage abgewiesen; es hat den Kläger auf die Möglichkeit einer Aufenthaltsnahme in Berg-Karabach als inländischer Fluchtalternative verwiesen.
4 Der Hessische Verwaltungsgerichtshof hat nach Durchführung einer Beweisaufnahme die Berufung des Klägers mit Beschluss vom 15. September 2005 zurückgewiesen. Er hat seine Entscheidung darauf gestützt, dass dahinstehen könne, ob dem geltend gemachten Asylanspruch bereits die Einreise aus einem sicheren Drittstaat (§ 26a AsylVfG) entgegen stehe, denn mit Blick auf Berg-Karabach als inländische Fluchtalternative habe der Kläger weder Anspruch auf Anerkennung als Asylberechtigter noch auf Feststellung der Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG. Für ihn als armenischen Volkszugehörigen sei Berg-Karabach über Armenien erreichbar, auch wenn er für die Einreise nach Armenien eine Einreiseerlaubnis benötigte, die erst nach langwieriger Prüfung der Lebensumstände erteilt werden dürfte. Staatsangehörige der Republik Armenien und in Armenien anerkannte Flüchtlinge sowie Asylberechtigte benötigten für die Einreise nach Berg-Karabach keine Visa. Einwanderungswillige Ausländer ohne Nationalpass könnten bei der ständigen Vertretung der Republik „Gebirgiges Karabach“ in Eriwan einen Rückwanderungsantrag stellen, der an das Außenministerium in Stepanakert weitergeleitet werde. Nach Überprüfung der Person sowie der Motive für eine Einwanderung - die Bearbeitungszeit des Antrags könne über ein Jahr beanspruchen - erhalte der Betroffene gegebenenfalls eine Einreise- bzw. Niederlassungserlaubnis für Berg-Karabach. Als armenischem Volkszugehörigen sei dem Kläger ein Zwischenaufenthalt in Armenien zumutbar, da er dort einer Arbeit nachgehen könne. In Berg-Karabach werde er auch nicht anderen existentiellen Bedrohungen ausgesetzt sein, die so am Herkunftsort nicht bestünden. Dem Kläger stehe schließlich auch kein Anspruch auf Feststellung des Vorliegens von Abschiebungshindernissen gemäß § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG zu; auch die Abschiebungsandrohung sei rechtmäßig.
5 Mit der vom Senat hinsichtlich der Verpflichtung zur Asylanerkennung und Feststellung der Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG zugelassenen Revision macht der Kläger geltend, dass keine inländische Fluchtalternative bestehe; denn Berg-Karabach sei für ihn nicht unter zumutbaren Bedingungen erreichbar. Zudem widerspreche es dem abgeschlossenen System des Asylrechts, einen Flüchtling an einen Drittstaat zur Beantragung des Flüchtlingsstatus zu verweisen anstatt ihn in Deutschland anzuerkennen. Dem Kläger sei es darüber hinaus nicht zuzumuten, die armenische Staatsangehörigkeit zu beantragen. Schließlich verweise das Berufungsgericht ihn mit der Annahme, ihm sei ein Zwischenaufenthalt von einem Jahr in Armenien zumutbar, de facto an einen Drittstaat; dort würde er mehr als ein Jahr unter ungeklärten Umständen leben müssen.
6 Die Beklagte verteidigt die Berufungsentscheidung. Eine vom Ausland aus erreichbare inländische Fluchtalternative könne dem Betroffenen auch dann entgegengehalten werden, wenn der Zugang vorübergehend nicht möglich sei, etwa wegen gewisser zeitlicher Verzögerungen und Schwierigkeiten bei der Beschaffung von Reisedokumenten und Transitvisa. Die Anerkennung als Asylberechtigter oder Flüchtling sei erst dann gerechtfertigt, wenn feststehe, dass die Rückkehr in verfolgungsfreie Gebiete des Herkunftsstaates dauerhaft nicht zumutbar möglich sei. Von dem Kläger werde auch nicht verlangt, sich auf den Schutz eines anderen Staates (Armenien) verweisen zu lassen, sondern nur, über Armenien in einen verfolgungsfreien Teil seines Herkunftsstaates zu gelangen.
7 Der Vertreter des Bundesinteresses beim Bundesverwaltungsgericht hat sich am Verfahren nicht beteiligt.
II
8 Die Revision ist begründet. Die auf den getroffenen Feststellungen beruhende Annahme des Berufungsgerichts, Berg-Karabach sei für den Kläger als Gebiet einer inländischen Fluchtalternative tatsächlich in zumutbarer Weise erreichbar, verletzt sowohl Art. 16a Abs. 1 GG als auch § 60 Abs. 1 AufenthG. Zudem erweist sich die Auffassung des Berufungsgerichts, nicht verfolgungsbedingte Gefahren und Nachteile seien bei der Prüfung des § 60 Abs. 1 Satz 1 und 5 AufenthG i.V.m. Art. 8 der Richtlinie 2004/83/EG des Rates vom 29. April 2004 über Mindestnormen für die Anerkennung und den Status von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Flüchtlinge oder als Personen, die anderweitig internationalen Schutz benötigen, und über den Inhalt des zu gewährenden Schutzes (ABl EG Nr. L 304 S. 12; ber. ABl EG 2005 Nr. L 204 S. 24) - sog. Qualifikationsrichtlinie - unberücksichtigt zu lassen, mit revisiblem Recht als nicht vereinbar (§ 137 Abs. 1 Nr. 1 VwGO). Da der Senat über den geltend gemachten Asylanspruch sowie die Feststellung der Flüchtlingseigenschaft mangels hinreichender Tatsachenfeststellungen des Berufungsgerichts nicht abschließend selbst entscheiden kann, ist die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Berufungsgericht zurückzuverweisen (§ 144 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 VwGO).
9 Wegen der Einzelheiten der Begründung der vorliegenden Entscheidung wird zur Vermeidung von Wiederholungen auf das Urteil des Senats vom gleichen Tag in der gemeinsam verhandelten Sache BVerwG 10 C 11.07 Bezug genommen (zur Veröffentlichung in der Entscheidungssammlung BVerwGE vorgesehen); die dort gemachten Ausführungen gelten für den Kläger entsprechend.
10 Die Entscheidung über die Kosten bleibt der Schlussentscheidung vorbehalten. Der Gegenstandswert ergibt sich aus § 30 Satz 1 RVG.