Verfahrensinformation

Die Klägerin begehrt einen baurechtlichen Vorbescheid für die Nutzungsänderung einer Lagerhalle in einen Getränkemarkt. Das Verwaltungsgericht hat den Beklagten verpflichtet, den Bescheid zu erteilen. Das Berufungsgericht hat die Berufung des Beklagten zurückgewiesen. Der geplante Getränkemarkt stelle keinen großflächigen Einzelhandelsbetrieb dar. Bei der Berechnung der Verkaufsfläche dürfe der unmittelbar daneben liegende Discountmarkt nicht einbezogen werden. Der Begriff der Funktionseinheit sei nicht geeignet, eine Addition der Verkaufsflächen zu rechtfertigen. Das Berufungsgericht hat wegen dieser Frage die Revision zugelassen.


Pressemitteilung Nr. 63/2005 vom 24.11.2005

Entscheidungen zum großflächigen Einzelhandel

Das Bundesverwaltungsgericht in Leipzig hat heute mehrere Entscheidungen zur bauplanungsrechtlichen Zulässigkeit von großflächigen Einzelhandelsbetrieben getroffen.


Das Gericht war in mehreren Verfahren mit der Frage befasst, unter welchen Voraussetzungen die Merkmale eines großflächigen Einzelhandelsbetriebes zu bejahen sind. Im ersten Verfahren war insbesondere zu klären, ab welcher Größenordnung ein Einzelhandelsbetrieb als großflächig anzusehen ist. In Fortführung der bisherigen Rechtsprechung ist das Gericht zu dem Ergebnis gelangt, dass ein Einzelhandelsbetrieb als großflächig einzuordnen ist, wenn er eine Verkaufsfläche von 800 m² überschreitet. Ist dies der Fall, ist das Vorhaben grundsätzlich nur in Kern- und Sondergebieten zulässig.


In die Verkaufsfläche einzubeziehen sind alle Flächen, die vom Kunden betreten werden können oder die er - wie bei einer Fleischtheke mit Bedienung durch Geschäftspersonal - einsehen, aber aus hygienischen und anderen Gründen nicht betreten darf. Dabei kommt es nicht auf den Standort der Kassen an, so dass auch der Bereich, in den die Kunden nach der Bezahlung der Waren gelangen, einzubeziehen ist. Nicht zur Verkaufsfläche gehören dagegen die reinen Lagerflächen und abgetrennte Bereiche, in denen beispielsweise die Waren zubereitet und portioniert werden.


In mehreren weiteren Verfahren war zu klären, unter welchen Voraussetzungen Flächen im selben Gebäude, auf denen unterschiedliche Waren verkauft werden, als Teile eines einheitlichen Einzelhandelsbetriebs anzusehen und damit bei der Berechnung der "Großflächigkeit" zu berücksichtigen sind. Dabei ging es in zwei Verfahren um die Einbeziehung eines - bautechnisch und in den Betriebsabläufen jeweils eigenständigen - Backshops und eines Zeitschriftengeschäfts in ein Lebensmittelgeschäft. Das Oberverwaltungsgericht Brandenburg hat beide Ladengeschäfte bei der Ermittlung der Verkaufsfläche einbezogen und auf diese Weise eine maßgebende Fläche von mehr als 800 qm errechnet. Dem ist das Bundesverwaltungsgericht gefolgt. In einem weiteren Verfahren wurde um die Zusammenrechnung eines Getränkefachhandels mit einem Lebensmitteldiscounter gestritten. In diesem Fall hat die Vorinstanz (Oberverwaltungsgericht Nordrhein-Westfalen) eine Addition der Flächen als unzulässig angesehen. Das hat das Bundesverwaltungsgericht bestätigt.


BVerwG 4 C 10.04 - Urteil vom 24.11.2005

BVerwG 4 C 14.04 - Urteil vom 24.11.2005

BVerwG 4 C 3.05 - Urteil vom 24.11.2005

BVerwG 4 C 8.05 - Urteil vom 24.11.2005


Urteil vom 24.11.2005 -
BVerwG 4 C 8.05ECLI:DE:BVerwG:2005:241105U4C8.05.0

Leitsätze:

Einzelhandelsbetriebe sind großflächig im Sinne von § 11 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 BauNVO, wenn sie eine Verkaufsfläche von 800 m² überschreiten (wie Urteil vom 24. November 2005 - BVerwG 4 C 10.04 -).

Ob es sich um einen einzigen oder um mehrere Betriebe handelt, bestimmt sich nach baulichen und betrieblich-funktionellen Gesichtspunkten. Ein Einzelhandelsbetrieb ist nur dann als selbstständig anzusehen, wenn er unabhängig von anderen Betrieben genutzt werden kann und deshalb als eigenständiges Vorhaben genehmigungsfähig wäre (wie Urteil vom 24. November 2005 - BVerwG 4 C 14.04 -). Dies ist bei einem Betrieb zu bejahen, der über einen eigenen Eingang, eine eigene Anlieferung und eigene Personalräume verfügt (hier: Getränkemarkt neben einem Lebensmittel-Discount-Markt).

Urteil

BVerwG 4 C 8.05

  • OVG Münster - 25.04.2005 - AZ: OVG 10 A 2861/04 -
  • OVG für das Land Nordrhein-Westfalen - 25.04.2005 - AZ: OVG 10 A 2861/04

In der Verwaltungsstreitsache hat der 4. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
auf die mündliche Verhandlung vom 24. November 2005
durch den Vorsitzenden Richter am Bundesverwaltungsgericht Dr. P a e t o w
und die Richter am Bundesverwaltungsgericht H a l a m a , Prof. Dr. R o j a h n ,
Dr. J a n n a s c h und die Richterin am Bundesverwaltungsgericht Dr. P h i l i p p
für Recht erkannt:

  1. Die Revision des Beklagten gegen das Urteil des Oberverwaltungsgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen vom 25. April 2005 wird zurückgewiesen.
  2. Der Beklagte trägt die Kosten des Revisionsverfahrens.

I


die Urteile des Verwaltungsgerichts Gelsenkirchen und des Oberverwaltungsgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen aufzuheben und die Klage abzuweisen.
die Revision zurückzuweisen.

II


Der Senat ist bereits in seinem Urteil vom 22. Mai 1987 - BVerwG 4 C 77.84 - Buchholz 406.12 § 1 BauNVO Nr. 5 = ZfBR 1987, 251 <insoweit in BVerwGE 77, 317 nicht abgedruckt> davon ausgegangen, dass ein Vorhaben die Errichtung eines als Einheit zu betrachtenden Betriebes zum Gegenstand haben kann. Er hat erwogen, dass das seinerzeit umstrittene Vorhaben "in Wahrheit nur einen Betrieb darstellen" könne, weil es zwar zwei räumlich getrennte Baukörper umfasste, aber aufgrund eines Bauantrages eines Grundstückseigentümers auf einem Grundstück gleichzeitig und mit aufeinander abgestimmten Sortimenten in den beiden Märkten verwirklicht werden sollte. Er hat andererseits im Urteil vom 4. Mai 1988 - BVerwG 4 C 34.86 - (BVerwGE 79, 309 <315>) hervorgehoben, dass ein räumlicher Zusammenhang allein noch nicht zu einer "summierenden" Betrachtungsweise berechtigt. Der Senat hat in diesem Zusammenhang auch den Begriff der "Funktionseinheit" verwendet, für eine solche im zu behandelnden Fall indes keine Anhaltspunkte gesehen.
§ 11 Abs. 3 BauNVO liegt die Wertung zugrunde, dass die in dieser Vorschrift bezeichneten Betriebe typischerweise ein Beeinträchtigungspotential aufweisen, das es rechtfertigt, sie einem Sonderregime zu unterwerfen. Den Typus der in § 11 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 BauNVO genannten Einkaufszentren schränkt der Verordnungsgeber nicht mit weiteren Merkmalen ein. Demgegenüber grenzt er in § 11 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 BauNVO die nur in Kerngebieten und Sondergebieten zulässigen Einzelhandelsbetriebe mit zwei eigenständigen Merkmalen ein, nämlich mit dem Merkmal der Großflächigkeit und mit der Bezeichnung bestimmter städtebaulich erheblicher Auswirkungen. Der Begriff der Großflächigkeit dient ihm dazu, in typisierender Weise unabhängig von regionalen oder lokalen Besonderheiten bundesweit den Betriebstyp festzuschreiben, der von den in den §§ 2 bis 9 BauNVO bezeichneten Baugebieten ferngehalten werden soll. Wird die Schwelle zur Großflächigkeit überschritten, hat eine eigenständige, eingehende Prüfung einzusetzen, für die der Verordnungsgeber in den Sätzen 3 und 4 des § 11 Abs. 3 BauNVO eine Reihe von Kriterien benennt (vgl. hierzu das Urteil des Senats vom 24. November 2005 - BVerwG 4 C 10.04 -).
Der Begriff des großflächigen Einzelhandelsbetriebs ist vorrangig nach dieser Zielsetzung des § 11 Abs. 3 BauNVO auszulegen. Umschreibungen des Begriffs Betrieb oder Einzelhandelsbetrieb, die in anderen Fachgebieten oder anderen rechtlichen Zusammenhängen verwendet werden, können daher nur eingeschränkt nutzbar gemacht werden (vgl. auch das Senatsurteil vom 18. Juni 2003 - BVerwG 4 C 5.02 - ZfBR 2004, 62 zum Begriff des Verbrauchermarkts in der BauNVO 1968). § 11 Abs. 3 BauNVO verhält sich gegenüber den sich dynamisch entwickelnden unterschiedlichen Strukturen des Einzelhandels neutral und regelt lediglich die städtebaulichen Auswirkungen. Dass Einzelhandelsbetriebe heute vielfältige, zum Teil sich überschneidende Erscheinungs- und Gestaltungsformen aufweisen, ändert freilich nichts daran, dass Regelungsgegenstand der Vorschrift allein "der einzelne Betrieb" ist.
Ob es sich in diesem Sinne um einen einzigen oder um mehrere Betriebe handelt, bestimmt sich nach baulichen und betrieblich-funktionellen Gesichtspunkten. Für die räumliche Abgrenzung eines Einzelhandelsbetriebs ist auf die nach außen erkennbaren baulichen Gegebenheiten abzustellen. Eine Verkaufsstätte kann ein selbstständiger Einzelhandelsbetrieb im Sinne des § 11 Abs. 3 BauNVO nur sein, wenn sie selbstständig, d.h. unabhängig von anderen Einzelhandelsbetrieben genutzt werden kann und deshalb baurechtlich auch als eigenständiges Vorhaben genehmigungsfähig wäre. Hierfür muss die Verkaufsstätte jedenfalls einen eigenen Eingang, eine eigene Anlieferung und eigene Personalräume haben; sie muss unabhängig von anderen Betrieben geöffnet und geschlossen werden können. Ohne Bedeutung ist hingegen, wer rechtlich oder wirtschaftlich jeweils Betreiber ist. Die Frage der bauplanungsrechtlichen Selbstständigkeit ist auch unabhängig davon zu beurteilen, ob Selbstbedienung, Bedienung durch Personal oder eine Mischform erfolgt und wie die dem entsprechenden Bereiche innerhalb der Betriebsfläche voneinander abgegrenzt sind.
Die Verkaufsflächen baulich und funktionell eigenständiger Betriebe können grundsätzlich nicht zusammengerechnet werden. Für die Prüfung einer "Funktionseinheit" unter den Gesichtspunkten eines gemeinsamen Nutzungskonzepts, der Ergänzung der Sortimente, der Nutzung von Synergieeffekten u.ä. ist in diesen Fällen kein Raum. Das gilt indes nicht uneingeschränkt. Ist innerhalb eines Gebäudes die Betriebsfläche baulich in mehrere selbstständig nutzbare betriebliche Einheiten unterteilt, bilden diese Einheiten gleichwohl einen Einzelhandelsbetrieb im Sinne des § 11 Abs. 3 BauNVO, wenn die Gesamtfläche durch einen Einzelhandelsbetrieb als "Hauptbetrieb" geprägt wird und auf den baulich abgetrennten Flächen zu dessen Warenangebot als "Nebenleistung" ein Warenangebot hinzutritt, das in einem inneren Zusammenhang mit der "Hauptleistung" steht, diese jedoch nur abrundet und von untergeordneter Bedeutung bleibt (vgl. Urteil vom 30. Juni 2004 - BVerwG 4 C 3.03 - BVerwGE 121, 205 <209> zu den einem Postdienstleistungsbetrieb zuzuordnenden Nebenleistungen). Dann ist es im Hinblick auf die bauplanungsrechtliche Zielsetzung geboten, die Verkaufsflächen für die Ermittlung der Schwelle der Großflächigkeit im Sinne von § 11 Abs. 3 BauNVO zusammenzurechnen. Unter welchen Voraussetzungen eine derartige Unterordnung anzunehmen ist, bestimmt sich nach den Umständen des Einzelfalls. Für eine betriebliche Einheit wird im allgemeinen sprechen, dass die für die "Nebenbetriebe" in Anspruch genommenen Flächen deutlich hinter denjenigen des Hauptbetriebs zurückbleiben. Schließlich kann berücksichtigt werden, dass nach der Verkehrsanschauung aus der Sicht des Verbrauchers ein Randangebot als zum Hauptbetrieb zugehörig angesehen wird (vgl. auch das Urteil des Senats vom 30. Juni 2004 a.a.O.). Baulich gesondert nutzbare Betriebsflächen bilden somit dann eine betriebliche Einheit mit einem Hauptbetrieb, wenn auf ihnen lediglich ein diesen ergänzendes Angebot erbracht wird. Dies ist insbesondere der Fall, wenn nach der Verkehrsanschauung der kleinere Bereich ebenso in die Verkaufsfläche des größeren Betriebs einbezogen sein könnte. Ob und gegebenenfalls unter welchen Voraussetzungen baulich selbstständig nutzbare Verkaufsstätten einen Einzelhandelsbetrieb im Sinne des § 11 Abs. 3 BauNVO bilden können, wenn sie nicht in einem Gebäude untergebracht sind, bedarf aus Anlass des vorliegenden Falles keiner Entscheidung.