Verfahrensinformation

Der Kläger wendet sich gegen die Rücknahme einer Bescheinigung, nach der er Ehegatte einer Spätaussiedlerin im Sinne des Bundesvertriebenengesetzes (BVFG) ist. Zusammen mit seiner Ehefrau reiste er im Jahr 2002 aus Kasachstan in die Bundesrepublik Deutschland ein. Der Rechtsvorgänger des Beklagten bescheinigte ihm, dass er Ehegatte einer Spätaussiedlerin ist. Nachdem aufgrund von Hinweisen auf Unregelmäßigkeiten in der Ausländerbehörde Überprüfungen vorgenommen worden waren, wurde die Bescheinigung mit der Begründung zurückgenommen, dass sie zu Unrecht erteilt worden sei, weil die Ehefrau nicht die Voraussetzungen einer Spät-aussiedlerin erfülle. Die nach erfolglosem Widerspruchsverfahren erhobene Klage hatte vor dem Verwaltungsgericht im Wesentlichen keinen Erfolg. Das Oberverwaltungsgericht hat der Berufung stattgegeben. Die Rücknahme der Bescheinigung sei rechtswidrig, weil nicht feststehe, dass der Kläger „grob fahrlässig“ keine Kenntnis von der Unrichtigkeit der Bescheinigung gehabt habe. Das Bundesverwaltungsgericht wird zu entscheiden haben, ob die Aufhebung der Bescheinigung mit Bundesrecht vereinbar ist.


 


 


Urteil vom 24.05.2012 -
BVerwG 5 C 17.11ECLI:DE:BVerwG:2012:240512U5C17.11.0

Leitsätze:

1. Die Bescheinigung nach § 15 Abs. 2 BVFG ist ein statusfeststellender Verwaltungsakt, der die Rechtsstellung als Ehegatte eines Spätaussiedlers feststellt.

2. Die Ermessensentscheidung über die Rücknahme der Bescheinigung nach § 15 Abs. 2 BVFG ist nur dann an § 48 Abs. 2 VwVfG auszurichten, wenn und soweit im Einzelfall feststeht, dass der Inhaber der Bescheinigung aufgrund des dadurch nachgewiesenen Status konkrete Geld- oder Sachleistungen erhalten oder sein Vertrauen im Hinblick auf den Erhalt solcher Leistungen sonst in schutzwürdiger Weise betätigt hat.

3. Wirkt sich die Rücknahme der Bescheinung nach § 15 Abs. 2 BVFG nur auf die dort getroffene Feststellung (hier: Ehegatte einer Spätaussiedlerin zu sein) aus, ist die Ermessensentscheidung allein an § 48 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 3 VwVfG zu messen.

4. Der Erwerb der Staatsangehörigkeit kraft Gesetzes nach § 7 StAG a.F. setzt voraus, dass der Inhaber der Bescheinigung bei deren Ausstellung die Eigenschaft als Statusdeutscher im Sinne des Art. 116 Abs. 1 GG besitzt.

  • Rechtsquellen
    BVFG § 15 Abs. 1 und 2
    StAG § 7 Satz 1
    GG Art. 116 Abs. 1
    VwVfG § 26 Abs. 2 Satz 1 und 2, § 28 Abs. 1,
    § 48 Abs. 1 Satz 1 und 2, Abs. 2 bis 4 Satz 1

  • VG Chemnitz - 09.12.2009 - AZ: VG 2 K 771/07
    Sächsisches OVG - 17.05.2011 - AZ: OVG 4 A 661/10

  • Zitiervorschlag

    BVerwG, Urteil vom 24.05.2012 - 5 C 17.11 - [ECLI:DE:BVerwG:2012:240512U5C17.11.0]

Urteil

BVerwG 5 C 17.11

  • VG Chemnitz - 09.12.2009 - AZ: VG 2 K 771/07
  • Sächsisches OVG - 17.05.2011 - AZ: OVG 4 A 661/10

In der Verwaltungsstreitsache hat der 5. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
auf die mündliche Verhandlung vom 24. Mai 2012
durch den Vorsitzenden Richter am Bundesverwaltungsgericht Vormeier,
die Richterin am Bundesverwaltungsgericht Stengelhofen und
die Richter am Bundesverwaltungsgericht Dr. Störmer, Dr. Häußler
und Dr. Fleuß
für Recht erkannt:

  1. Auf die Revision des Beklagten wird das Urteil des Sächsischen Oberverwaltungsgerichts vom 17. Mai 2011 geändert. Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts Chemnitz vom 9. Dezember 2009 wird zurückgewiesen.
  2. Der Kläger trägt die Kosten des Berufungs- und Revisionsverfahrens.

Gründe

I

1 Der Kläger wendet sich gegen die Rücknahme der ihm erteilten Bescheinigung, Ehegatte einer Spätaussiedlerin zu sein.

2 Er wurde 1960 in Kasachstan geboren, ist seit 1988 verheiratet und hat mit seiner ebenfalls in Kasachstan geborenen Frau zwei Kinder. Sein Schwiegervater ist deutscher und seine Schwiegermutter russischer Nationalität.

3 Im Dezember 2002 siedelte der Kläger gemeinsam mit seiner Familie aufgrund der Einbeziehung in den Aufnahmebescheid seines Schwiegervaters in die Bundesrepublik Deutschland um. Während seine Ehefrau und Kinder als Abkömmlinge eines Spätaussiedlers aufgenommen wurden, reiste er als sonstiger Familienangehöriger ein.

4 Am 21. September 2004 stellte der Rechtsvorgänger des Beklagten eine Bescheinigung nach § 15 des Bundesvertriebenengesetzes (BVFG) aus. In dieser Bescheinigung wurde die Ehefrau des Klägers nunmehr selbst als Spätaussiedlerin bezeichnet und der Kläger als Ehegatte einer Spätaussiedlerin. Die der Ehefrau des Klägers erteilte Bescheinigung wurde inzwischen rechtskräftig zurückgenommen, da sie - wie das Verwaltungsgericht feststellte - mangels deutscher Volkszugehörigkeit keine Spätaussiedlerin ist.

5 Mit Schreiben vom 4. Juli 2006 hörte der Rechtsvorgänger des Beklagten den Kläger zur beabsichtigten Rücknahme der ihm erteilten Bescheinigung an. Der Kläger machte daraufhin mit einem am 14. Juli 2006 bei der Behörde eingegangenen Schreiben geltend, die Bescheinigung begründe bei ihm die deutsche Staatsangehörigkeit. Deren Entzug komme allenfalls bei Vorliegen einer arglistigen Täuschung oder bewusst falscher Angaben in Betracht. Beides sei in seinem Fall nicht gegeben.

6 Mit Bescheid vom 12. September 2006 nahm der Rechtsvorgänger des Beklagten die dem Kläger erteilte Bescheinigung, Ehegatte einer Spätaussiedlerin zu sein, zurück. Das Verwaltungsgericht hat die nach erfolglosem Widerspruchsverfahren erhobene Klage abgewiesen.

7 Auf die Berufung des Klägers hat das Oberverwaltungsgericht die erstinstanzliche Entscheidung geändert und die Rücknahme der Bescheinigung aufgehoben. Zur Begründung hat es im Wesentlichen ausgeführt, die Rücknahme sei zwar fristgerecht erfolgt. Die Jahresfrist des § 48 Abs. 4 Satz 1 Verwaltungsverfahrensgesetz (VwVfG) habe erst nach der Durchführung des Anhörungsverfahrens im Juli 2006 zu laufen begonnen und sei somit am 12. September 2006 noch nicht abgelaufen gewesen. Rechtsgrundlage der Rücknahme sei die allgemeine verwaltungsverfahrensrechtliche Rücknahmevorschrift. Die mit Wirkung zum 11. Juli 2009 in Kraft getretene spezielle Rücknahmevorschrift des § 15 Abs. 4 Bundesvertriebenengesetz (BVFG) sei mangels einer entsprechenden Übergangsregelung nicht anwendbar. Die Behörde habe allerdings das ihr hinsichtlich der Rücknahme zustehende Ermessen fehlerhaft ausgeübt. Sie sei von einem falschen Ermessensrahmen ausgegangen, da sie zu Unrecht angenommen habe, dass der Kläger die Rechtswidrigkeit der zurückgenommenen Bescheinigung infolge grober Fahrlässigkeit nicht gekannt habe. Abgesehen davon habe sie nicht beachtet, dass sie die Fehlerhaftigkeit der Bescheinigung allein zu verantworten habe. In einem solchen Fall komme nur eine Rücknahme mit Wirkung für die Zukunft in Betracht. Schließlich habe die Behörde auch nicht in ausreichendem Maße berücksichtigt, dass die Rücknahme Folgen haben könne, die der Entziehung der Staatsangehörigkeit ähnelten.

8 Mit seiner Revision macht der Beklagte eine Verletzung des § 48 VwVfG geltend. In Fällen, in denen - wie hier - die Rücknahme allein die Feststellung betreffe, dass der Inhaber der Bescheinigung Ehegatte einer Spätaussiedlerin sei, sei § 48 Abs. 1 und Abs. 3 VwVfG anzuwenden. Demzufolge komme es auf die Frage, ob der Kläger die Rechtswidrigkeit der Bescheinigung grob fahrlässig nicht erkannt habe, nicht an. Abgesehen davon habe das Oberverwaltungsgericht eine grob fahrlässige Unkenntnis des Klägers auch zu Unrecht verneint.

9 Der Kläger verteidigt das Berufungsurteil.

II

10 Die Revision des Beklagten ist begründet. Das angefochtene Urteil verletzt revisibles Recht (§ 137 Abs. 1 Nr. 2 VwGO) (1.). Es stellt sich auch nicht aus anderen Gründen als richtig dar (§ 144 Abs. 4 VwGO) (2.).

11 1. Zwar ist das Oberverwaltungsgericht zutreffend davon ausgegangen, dass die Rücknahme der Bescheinigung nicht auf die mit Wirkung zum 11. Juli 2009 in Kraft getretene spezielle Rücknahmevorschrift des § 15 Abs. 4 Bundesvertriebenengesetz (BVFG) in der Fassung der Bekanntmachung vom 10. August 2007 (BGBl I S. 1902), zuletzt geändert durch Art. 1 des Gesetzes vom 4. Dezember 2011 (BGBl I S. 2426) - n.F. - gestützt werden kann, sondern ihre Rechtsgrundlage in der allgemeinen verfahrensrechtlichen Rücknahmevorschrift des § 48 Abs. 1 Satz 1 Verwaltungsverfahrensgesetz (VwVfG) i.V.m. § 1 Satz 1 Verwaltungsverfahrensgesetz für den Freistaat Sachsen (SächsVwVfG) in der Fassung der Bekanntmachung vom 10. September 2003 (GVBl S. 614) findet (a). Des Weiteren hat das Oberverwaltungsgericht zu Recht nicht in Frage gestellt, dass die tatbestandlichen Voraussetzungen des § 48 Abs. 1 Satz 1 VwVfG erfüllt sind (b) und es sich bei der dem Kläger am 21. September 2004 gemäß § 15 Abs. 2 BVFG in der insoweit anzuwendenden Fassung der Bekanntmachung vom 2. Juni 1993 (BGBl I S. 829) - a.F. - ausgestellten Bescheinigung um einen begünstigenden Verwaltungsakt im Sinne des § 48 Abs. 1 Satz 2 VwVfG handelt (c). Zutreffend hat das Oberverwaltungsgericht auch angenommen, dass die Rücknahme fristgerecht erfolgt ist (d). Jedoch hat es bei der Prüfung der behördlichen Ermessensentscheidung einen fehlerhaften Maßstab angewandt, soweit es auf die Vertrauensschutzregelung des § 48 Abs. 2 VwVfG abgestellt hat (e). Da der Anwendungsbereich des § 48 Abs. 2 VwVfG nicht eröffnet ist, greifen die darauf bezogenen Verfahrensrügen der Revision nicht durch (f).

12 a) Die durch das Achte Gesetz zur Änderung des Bundesvertriebenengesetzes vom 6. Juli 2009 (BGBl I S. 1694) eingeführte und mit Wirkung zum 11. Juli 2009 in Kraft getretene spezielle Rücknahmevorschrift des § 15 Abs. 4 BVFG n.F. ist mangels einer entsprechenden Übergangsregelung nicht auf eine - wie hier - vor ihrem Inkrafttreten ausgesprochene Rücknahme anwendbar.

13 b) Nach der allgemeinen Rücknahmevorschrift des § 48 Abs. 1 Satz 1 VwVfG i.V.m. § 1 Satz 1 SächsVwVfG, auf die mangels einer speziellen Rücknahmeregelung zurückzugreifen ist, kann ein rechtswidriger Verwaltungsakt, auch nachdem er unanfechtbar geworden ist, ganz oder teilweise mit Wirkung für die Zukunft oder für die Vergangenheit zurückgenommen werden. Die dem Kläger erteilte Bescheinigung nach § 15 Abs. 2 BVFG a.F. stellt einen wirksamen Verwaltungsakt dar (aa), der in seinem Sachausspruch von Anfang an rechtswidrig war (bb).

14 aa) Die Bescheinigung nach § 15 Abs. 2 BVFG ist ein statusfeststellender Verwaltungsakt, der die Rechtsstellung als Ehegatte eines Spätaussiedlers feststellt. Dies ist bislang - unter Bezugnahme auf die höchstrichterliche Rechtsprechung zur Erteilung des Vertriebenausweises - ausdrücklich nur für die Bescheinigung nach § 15 Abs. 1 BVFG entschieden worden (vgl. Urteil vom 24. Februar 2005 - BVerwG 5 C 10.04 - BVerwGE 123, 101<103> = Buchholz 412.3 § 15 BVFG Nr. 30 S. 11 m.w.N.). Für die Bescheinigung nach § 15 Abs. 2 BVFG gilt jedoch nichts anderes.

15 bb) Für die Beurteilung der Rechtmäßigkeit der Bescheinigung nach § 15 Abs. 2 BVFG ist die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der letzten Behördenentscheidung maßgeblich, hier also der Zeitpunkt, in dem die Bescheinigung ausgestellt wurde. Zu diesem Zeitpunkt war der Kläger nicht Ehegatte einer Spätaussiedlerin.

16 Nach den nicht mit Verfahrensrügen angegriffenen und damit für den Senat bindenden Feststellungen des Oberverwaltungsgerichts (§ 137 Abs. 2 VwGO) wurde die Klage der Ehefrau des Klägers gegen die Rücknahme der ihr am 21. September 2004 erteilten Bescheinigung nach § 15 Abs. 1 BVFG a.F. durch das Verwaltungsgericht rechtskräftig abgewiesen. Dabei wurde - soweit hier von Interesse - in den Entscheidungsgründen festgestellt, dass die Ehefrau des Klägers mangels deutscher Volkszugehörigkeit keine Spätaussiedlerin sei. Sie erfülle nicht die Voraussetzungen des § 6 Abs. 2 Satz 1 Alt. 1 BVFG in der Fassung des Gesetzes zur Klarstellung des Spätaussiedlerstatus - Spätaussiedlerstatusgesetz (SpStatG) - vom 30. August 2001 (BGBl I S. 2266), da sie sich bis zum Verlassen der Aussiedlungsgebiete nicht durch eine entsprechende Nationalitätenerklärung zum deutschen Volkstum bekannt, sondern ausweislich der 1989 erfolgten Eintragung der russischen Nationalität in ihren Inlandspass ein Gegenbekenntnis zum russischen Volkstum abgegeben habe. Aus diesem Grund sei auch ein Bekenntnis zum deutschen Volkstum auf vergleichbare Weise im Sinne des § 6 Abs. 2 Satz 1 Alt. 2 BVFG ausgeschlossen. Ebenso wenig gehöre die Ehefrau des Klägers gemäß § 6 Abs. 2 Satz 1 Alt. 3 BVFG nach dem Recht des Herkunftsstaates zur deutschen Nationalität. Auch könne ein Bekenntnis der Ehefrau des Klägers zum deutschen Volkstum nicht nach § 6 Abs. 2 Satz 5 BVFG unterstellt werden, weil diese nicht substanziiert und in sich stimmig dargelegt habe, dass ein Bekenntnis zum deutschen Volkstum mit Gefahr für Leib und Leben oder schwerwiegenden beruflichen oder wirtschaftlichen Nachteilen verbunden gewesen sei.

17 Die Rechtskraft des gegenüber der Ehefrau des Klägers ergangenen Urteils erzeugt im vorliegenden Verfahren zwar keine Bindungswirkung (vgl. Urteil vom 18. Dezember 2002 - BVerwG 5 C 40.01 - Buchholz 412.3 § 1 BVFG Nr. 57 S. 7). Das Oberverwaltungsgericht hat aber offensichtlich die vom Verwaltungsgericht in dem Verfahren der Ehefrau des Klägers vorgenommene Würdigung in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht für das vorliegende Verfahren übernommen. Hiergegen sind weder erhebliche Gesichtspunkte vorgetragen noch ist diese Würdigung sonst revisionsgerichtlich zu beanstanden.

18 c) Ein Verwaltungsakt, der einen rechtlich erheblichen Vorteil begründet oder bestätigt hat (begünstigender Verwaltungsakt), darf nach § 48 Abs. 1 Satz 2 VwVfG nur unter den Voraussetzungen der Absätze 2 bis 4 zurückgenommen werden. Die Statusfeststellung nach § 15 Abs. 2 BVFG begründet oder bestätigt im Sinne des § 48 Abs. 1 Satz 2 VwVfG ein Recht oder einen rechtlich erheblichen Vorteil. Die Bescheinigung nach § 15 Abs. 2 BVFG a.F. wird zum Nachweis erteilt, dass die Voraussetzungen des § 7 Abs. 2 BVFG vorliegen, d.h. dass der Inhaber der Bescheinigung Ehegatte (oder Abkömmling) des Spätaussiedlers ist, die Voraussetzungen des § 4 Abs. 1 oder 2 BVFG nicht erfüllt, aber die Aussiedlungsgebiete im Wege des Aufnahmeverfahrens verlassen hat (Satz 1). Der rechtliche Vorteil liegt darin, dass diese Feststellungen für alle Behörden und Stellen, die für die Gewährung von Rechten oder Vergünstigungen als Spätaussiedler nach dem Bundesvertriebenengesetz oder einem anderen Gesetz zuständig sind, im Einzelfall verbindlich sind.

19 d) Nach § 48 Abs. 4 Satz 1 VwVfG ist, wenn die Behörde von Tatsachen Kenntnis erhält, welche die Rücknahme eines rechtswidrigen Verwaltungsaktes rechtfertigen, die Rücknahme nur innerhalb eines Jahres seit dem Zeitpunkt der Kenntnisnahme zulässig. Diese Frist wird in Lauf gesetzt, sobald die Rücknahmebehörde die Rechtswidrigkeit des Verwaltungsakts erkannt hat und ihr sämtliche für die Rücknahmeentscheidung außerdem erheblichen Tatsachen vollständig bekannt sind. Hierzu gehören auch alle für eine Ermessensbetätigung wesentlichen Umstände. Die Behörde erhält Kenntnis, wenn der nach der innerbehördlichen Geschäftsverteilung zur Rücknahme des Verwaltungsakts berufene Amtswalter oder ein sonst innerbehördlich zur rechtlichen Prüfung des Verwaltungsakts berufener Amtswalter positive Kenntnis erlangt. Ein einzelne Fachfragen begutachtender Mitarbeiter einer Behörde ist kein zur rechtlichen Prüfung berufener Amtswalter. Diente eine Anhörung des Betroffenen nach § 28 Abs. 1 VwVfG - wie hier - der Ermittlung weiterer entscheidungserheblicher Tatsachen, beginnt die Jahresfrist erst danach zu laufen (stRspr, vgl. z.B. Beschlüsse vom 19. Dezember 1984 - BVerwG GrSen 1 und 2.84 - BVerwGE 70, 356 <362 ff.> = Buchholz 316 § 48 VwVfG Nr. 33 S. 19 ff. und vom 7. November 2000 - BVerwG 8 B 137.00 - Buchholz 316 § 48 VwVfG Nr. 99 S. 18; Urteile vom 24. Januar 2001 - BVerwG 8 C 8.00 - BVerwGE 112, 360 <362 ff.> = Buchholz 316 § 49 VwVfG Nr. 40 S. 4 ff. und vom 30. Juni 2010 - BVerwG 5 C 3.09 - Buchholz 436.36 § 27 BAföG Nr. 6 Rn. 25).

20 Das Oberverwaltungsgericht hat sich im Rahmen seiner Überzeugungsbildung von diesen Rechtsgrundsätzen leiten lassen. Auf der Grundlage der von ihm getroffenen Feststellungen, gegen die die Revision keine Verfahrensrügen erhoben hat, ist seine rechtliche Würdigung, dass die Frist erst nach Durchführung des Anhörungsverfahrens im Juli 2006 zu laufen begonnen hat und demzufolge im Zeitpunkt der Rücknahme am 12. September 2006 noch nicht verstrichen war, revisionsgerichtlich nicht zu beanstanden. Denn für die Ermessensentscheidung über die Rücknahme waren notwendig auch die Aspekte zu berücksichtigen, die der Kläger - insbesondere im Hinblick auf eine etwaige Betätigung schutzwürdigen Vertrauens - auf seine Anhörung vorbringen würde. Dabei kommt es für die vollständige Kenntnis der die Rücknahme rechtfertigenden Tatsachen auf die Kenntnis der Leiterin der die Bescheinigung ausstellenden Behörde an. Denn diese war innerbehördlich zur abschließenden Prüfung der Frage zuständig, ob die Erteilung der Bescheinigung rechtswidrig erfolgt und zurückzunehmen ist. Entgegen der Auffassung des Klägers kann nicht auf den nach seiner Ansicht „bösgläubigen“ Sachbearbeiter abgestellt werden, der bereits zum Zeitpunkt der Ausstellung der Bescheinigung die maßgeblichen Tatsachen für eine Rücknahmeentscheidung gekannt habe.

21 e) Das angefochtene Urteil steht aber mit Bundesrecht nicht in Einklang, soweit das Oberverwaltungsgericht die Ermessensentscheidung über die Rücknahme der Bescheinigung an der Vertrauensschutzregelung des § 48 Abs. 2 VwVfG gemessen hat.

22 Diese Vertrauensschutzregelung ist nur anzuwenden, wenn es um einen rechtswidrigen Verwaltungsakt geht, der eine einmalige oder laufende Geldleistung oder teilbare Sachleistung gewährt oder hierfür Voraussetzung ist. Ein derartiger Verwaltungsakt darf nach Satz 1 nicht zurückgenommen werden, wenn der Begünstigte auf den Bestand des Verwaltungsaktes vertraut hat und sein Vertrauen schutzwürdig ist. Dementsprechend ist die Ermessensentscheidung über die Rücknahme der Bescheinigung nach § 15 Abs. 2 BVFG mit Rücksicht darauf, dass die Bescheinigung als solche keine Leistungen der genannten Art gewährt, aber der durch die Bescheinigung nachgewiesene Status grundsätzlich Voraussetzung für die Gewährung bestimmter Geld- oder Sachleistungen wie z.B. den finanziellen Hilfen nach § 9 BVFG, den Leistungen bei Krankheit nach § 11 BVFG, den Leistungen nach der Unfall- und Rentenversicherung nach § 13 BVFG und der Förderung einer selbstständigen Erwerbstätigkeit nach § 14 BVFG ist (vgl. Urteil vom 24. Februar 2005 a.a.O. <103 f.> = S. 11), nur dann an § 48 Abs. 2 VwVfG auszurichten, wenn und soweit im Einzelfall feststeht, dass der Inhaber der Bescheinigung konkrete Geld- oder Sachleistungen erhalten oder sein Vertrauen im Hinblick auf den Erhalt solcher Leistungen sonst in schutzwürdiger Weise betätigt hat. Liegen diese Voraussetzungen nicht vor, ist die Ermessensentscheidung über die Rücknahme allein an § 48 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 3 VwVfG zu messen (vgl. Urteile vom 20. März 1990 - BVerwG 9 C 12.89 - BVerwGE 85, 79 <84 ff.> = Buchholz 412.3 § 18 BVFG Nr. 14 S. 22 ff. und vom 17. Februar 1992 - BVerwG 9 C 152.90 - Buchholz 412.3 § 18 BVFG Nr. 16 S. 43 ff. sowie Beschluss vom 23. März 1993 - BVerwG 9 B 375.92 - juris Rn. 2). So ist es hier.

23 Die Rücknahme der Bescheinigung des Klägers wirkt sich - worüber der Senat abschließend befinden kann - nur auf die dort getroffene Feststellung aus, dass er Ehegatte einer Spätaussiedlerin ist. Denn das Oberverwaltungsgericht hat nicht festgestellt, dass dem Kläger auf der Grundlage der ihm erteilten Bescheinigung nach § 15 Abs. 2 BVFG a.F. tatsächlich Geld- oder Sachleistungen gewährt wurden oder er solche etwa beantragt hat. Der Kläger hat derartiges auch nicht geltend gemacht, obwohl ihm insoweit bereits im Verwaltungsverfahren nach Maßgabe des § 26 Abs. 2 Satz 1 und 2 VwVfG i.V.m. § 1 Satz 1 SächsVwVfG eine Mitwirkungspflicht oblegen hat, auf die er mit Anhörungsschreiben vom 4. Juli 2006 ausdrücklich hingewiesen wurde.

24 f) Die von der Revision erhobene Rüge der Verletzung der gerichtlichen Aufklärungspflicht (§ 86 Abs. 1 VwGO) hat keinen Erfolg. Sie bezieht sich auf Feststellungen des Oberverwaltungsgerichts (grob fahrlässige Unkenntnis des Klägers im Sinne des § 48 Abs. 2 Satz 3 Nr. 3 VwVfG; Verursachungsbeitrag der Behörde), auf die es mangels Anwendbarkeit des § 48 Abs. 2 VwVfG für die Entscheidung nicht ankommt.

25 2. Das angefochtene Urteil stellt sich im Ergebnis auch nicht aus anderen Gründen als richtig dar. Auf der Grundlage der tatsächlichen Feststellungen des Oberverwaltungsgerichts ist die Entschließung des Rechtsvorgängers des Beklagten, die rechtswidrige Bescheinigung zurückzunehmen, gemessen an § 48 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 3 VwVfG revisionsgerichtlich nicht zu beanstanden (a). Entsprechendes gilt, soweit der Rechtsvorgänger des Beklagten die Rücknahme der Bescheinigung zum Ausstellungstag ausgesprochen hat (b).

26 a) Die an § 48 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 3 VwVfG auszurichtende Ermessensentscheidung über das „Ob“ der Rücknahme erweist sich als fehlerfrei.

27 Im Rahmen der Ermessensausübung ist das öffentliche Interesse an der Herstellung des gesetzmäßigen Zustandes mit dem Interesse des Betroffenen an der Aufrechterhaltung des Verwaltungsaktes abzuwägen. Das Prinzip der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung und der Grundsatz der Rechtssicherheit sind dabei grundsätzlich gleichwertig, sofern dem anzuwendenden Fachrecht nicht ausnahmsweise eine andere Wertung zu entnehmen ist (vgl. Urteil vom 20. März 2008 - BVerwG 1 C 33.07 - Buchholz 402.242 § 54 AufenthG Nr. 5 Rn. 12). Das ist vorliegend nicht der Fall (vgl. Urteil vom 14. Dezember 1972 - BVerwG 1 C 32.71 - BVerwGE 41, 277 <280> = Buchholz 130 § 3 RuStAG Nr. 1 S. 3). Erforderlich ist eine umfassende Güterabwägung unter Einbeziehung aller wesentlichen Umstände des konkreten Einzelfalls, wozu auch etwaige Vertrauensschutzgesichtspunkte gehören (vgl. Beschlüsse vom 7. November 2000 a.a.O. <S. 19> und vom 14. April 2010 - BVerwG 8 B 88.09 - FamRZ 2010, 1250 m.w.N.). Diesen rechtlichen Vorgaben wird die Rücknahmeentscheidung gerecht.

28 Der Beklagte hat das ihm durch § 48 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 3 VwVfG i.V.m. § 1 Satz 1 SächsVwVfG eingeräumte Ermessen erkannt und das öffentliche Interesse an der Beseitigung des rechtswidrigen Verwaltungsakts mit dem Interesse des Klägers an der Beibehaltung der rechtswidrigen Bescheinigung fehlerfrei abgewogen. Er hat dabei berücksichtigt, dass der Kläger aufgrund der Bescheinigung keine unmittelbaren wirtschaftlichen Vorteile erhalten habe und zu Unrecht ein deutsches Personaldokument (Reisepass oder Personalausweis) besitze, da er nicht die deutsche Staatsangehörigkeit erworben habe. Er hat ferner festgestellt, dass auch keine Vertrauenstatbestände ersichtlich seien, die so stark seien, dass sie einer Rücknahme der Bescheinigung entgegenstünden.

29 b) Der Beklagte durfte gestützt auf § 48 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 3 VwVfG die Bescheinigung auch mit Wirkung für die Vergangenheit zurücknehmen. Dies begegnet im Hinblick auf Art. 16 Abs. 1 Satz 1 GG keinen verfassungsrechtlichen Bedenken. Der Kläger hat durch die Ausstellung der Bescheinigung nach § 15 Abs. 2 BVFG a.F. nicht nach § 7 Satz 1 Staatsangehörigkeitsgesetz in der hier maßgeblichen Fassung des Gesetzes zur Reform des Staatsangehörigkeitsrechts vom 15. Juli 1999 (BGBl I S. 1618) - StAG a.F. - die deutsche Staatsangehörigkeit erworben, da er - wie unter 1. b) bb) dargelegt - nicht Ehegatte einer Spätaussiedlerin und damit kein sogenannter Statusdeutscher ist.

30 Nach § 7 Satz 1 StAG a.F. erwirbt ein Deutscher im Sinne des Art. 116 Abs. 1 GG, der nicht die deutsche Staatsangehörigkeit besitzt, mit der Ausstellung der Bescheinigung gemäß § 15 Abs. 1 oder 2 BVFG die deutsche Staatsangehörigkeit. Deutscher im Sinne des Art. 116 Abs. 1 GG ist vorbehaltlich einer anderweitigen gesetzlichen Regelung, wer die deutsche Staatsangehörigkeit besitzt oder als Flüchtling oder Vertriebener deutscher Volkszugehörigkeit oder als dessen Ehegatte oder Abkömmling in dem Gebiete des Deutschen Reiches nach dem Stande vom 31. Dezember 1937 Aufnahme gefunden hat. Der Erwerb der Staatsangehörigkeit kraft Gesetzes nach § 7 StAG a.F. setzt damit voraus, dass der Inhaber der Bescheinigung bei deren Ausstellung die Eigenschaft als Statusdeutscher im Sinne des Art. 116 Abs. 1 GG besitzt. Hierfür spricht bereits der klare Wortlaut des Gesetzes (aa). Sinn und Zweck der Vorschrift (bb) sowie die Gesetzesmaterialien (cc) bestätigen dieses Normverständnis.

31 aa) Der Wortlaut des § 7 Satz 1 StAG a.F. bietet keinen Anhaltspunkt dafür, dass das ausdrücklich aufgeführte Tatbestandsmerkmal „Deutscher im Sinne des Artikels 116 Abs. 1 des Grundgesetzes“ im staatsangehörigkeitsrechtlichen Kontext nicht zu prüfen ist und der gesetzliche Erwerb der deutschen Staatsangehörigkeit nach § 7 Satz 1 StAG a.F. allein an das formelle Vorliegen einer Bescheinigung nach § 15 Abs. 2 BVFG geknüpft sein soll.

32 bb) Der Erwerb der deutschen Staatsangehörigkeit kraft Gesetzes nach § 7 StAG a.F. soll die Eingliederung von Statusdeutschen, d.h. von Deutschen im Sinne des Art. 116 Abs. 1 GG ohne deutsche Staatsangehörigkeit, in den deutschen Staatsverband erleichtern. Diese sollen in der Regel die deutsche Staatsangehörigkeit erwerben, ohne ein Einbürgerungsverfahren durchlaufen und die weiteren Voraussetzungen für eine Einbürgerung, die in der Regel wesentlich höher sind, erfüllen zu müssen. Objektiver Rechtfertigungsgrund für den vereinfachten Staatsangehörigkeitserwerb nach § 7 StAG ist die Rechtsstellung als Deutscher im Sinne des Art. 116 Abs. 1 GG. § 7 StAG will nur denjenigen begünstigen, der tatsächlich Deutscher im Sinne des Art. 116 Abs. 1 GG ist (vgl. Marx, in: GK-StAR, Stand August 2009, IV-2 § 7 Rn. 4 und 20; Renner/Maaßen, in: Hailbronner/Renner/Maaßen, StAR, 5. Aufl. 2010, § 7 Rn. 16; s.a. Urteil vom 19. Juni 2001 - BVerwG 1 C 26.00 - BVerwGE 114, 332 <336> = Buchholz 11 Art. 116 GG Nr. 30 S. 9 unter Bezugnahme auf BVerfG, 2. Kammer des Zweiten Senats, Beschluss vom 5. Juli 2000 - 2 BvR 865/00 - NVwZ-RR 2000, 836).

33 Unter welchen Voraussetzungen eine Person „als Vertriebener deutscher Volkszugehörigkeit oder als dessen Ehegatte (oder Abkömmling)“ diesen Status erwirbt, bestimmt sich nach Art. 116 Abs. 1 GG i.V.m. mit § 4 BVFG. Die Bescheinigung nach § 15 Abs. 2 BVFG zählt danach nicht zu den Erwerbsvoraussetzungen. Ihr kommt insoweit auch im Übrigen keine konstitutive Wirkung zu.

34 cc) Auch die Gesetzesmaterialien sprechen dafür, dass die Eigenschaft als Statusdeutscher im Sinne von Art. 116 Abs. 1 GG tatbestandliche Voraussetzung für den Erwerb der deutschen Staatsangehörigkeit nach § 7 Satz 1 StAG a.F. ist. Nach der Gesetzesbegründung zur Einführung dieser Vorschrift betrifft der Erwerbstatbestand Personen, die die Voraussetzungen des § 4 Abs. 3 Satz 1 und 2 BVFG erfüllen (vgl. BTDrucks 14/533 S. 14; s.a. BTDrucks 16/5065 S. 227). Des Weiteren wird ausgeführt, „dagegen genügt es - entsprechend der bisherigen Praxis - für den Statuserwerb durch den nichtdeutschen Ehegatten nicht, wenn er nach dem Spätaussiedler die Aussiedlungsgebiete verlässt und erst in diesem Zeitpunkt die geforderte Ehedauer vorliegt. In diesen Fällen kann die deutsche Staatsangehörigkeit nur durch Einbürgerung erworben werden“ (vgl. BTDrucks 14/533 S. 14 f.). Das zeigt, dass nach der gesetzgeberischen Vorstellung allein die formelle Ausstellung einer Bescheinigung nach § 15 Abs. 2 BVFG nicht zum gesetzlichen Erwerb der deutschen Staatsangehörigkeit führen soll. Vielmehr soll der privilegierte Staatsangehörigkeitserwerb nach § 7 StAG a.F. nur bei einer materiell rechtmäßigen Bescheinigung eintreten. Denn käme es allein auf das formelle Vorliegen der Bescheinigung an, könnte der Erwerb der deutschen Staatsangehörigkeit nach § 7 StAG nicht daran scheitern, dass der nichtdeutsche Ehegatte die Aussiedlungsgebiete nach dem Spätaussiedler verlassen und demzufolge nicht die materiellrechtliche Voraussetzung des § 7 Abs. 2 BVFG erfüllt hat.

35 Die durch die Einfügung des gesetzlichen Erwerbstatbestandes angestrebte Entlastung der Einbürgerungsbehörden (vgl. BTDrucks 14/533 S. 14) entfällt dadurch nicht. Sie ist rein verfahrensrechtlicher Natur und liegt in dem Wegfall des bis dahin erforderlichen Einbürgerungsverfahrens für Spätaussiedler und deren nichtdeutschen Ehegatten und Abkömmlinge.

36 3. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO.

Beschluss vom 25.07.2013 -
BVerwG 5 C 26.12ECLI:DE:BVerwG:2013:250713B5C26.12.0

  • Zitiervorschlag

    BVerwG, Beschluss vom 25.07.2013 - 5 C 26.12 - [ECLI:DE:BVerwG:2013:250713B5C26.12.0]

Beschluss

BVerwG 5 C 26.12

In der Verwaltungsstreitsache hat der 5. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
am 25. Juli 2013
durch den Vorsitzenden Richter am Bundesverwaltungsgericht Vormeier,
den Richter am Bundesverwaltungsgericht Dr. Störmer und
den Richter am Bundesverwaltungsgericht Dr. Häußler
beschlossen:

  1. Die Anhörungsrüge des Klägers gegen das Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 24. Mai 2012 - BVerwG 5 C 17.11 - wird verworfen.
  2. Der Kläger trägt die Kosten des Rügeverfahrens.

Gründe

1 1. Die Anhörungsrüge ist unzulässig, weil sie nicht die durch Zustellung des beanstandeten Urteils an den Prozessbevollmächtigten des Klägers in Lauf gesetzte Rügefrist wahrt.

2 Nach § 152a Abs. 2 Satz 1 Halbs. 1 VwGO ist die Rüge innerhalb von zwei Wochen nach Kenntnis von der Verletzung des rechtlichen Gehörs zu erheben; der Zeitpunkt der Kenntniserlangung ist glaubhaft zu machen. Kenntnis von der Verletzung rechtlichen Gehörs meint positive Kenntnis der Umstände, aus denen sich die Berechtigung zur Erhebung der Anhörungsrüge ergibt. Der Zeitpunkt der Kenntnis kann, muss aber nicht mit dem Zeitpunkt der Bekanntgabe der beanstandeten Entscheidung an den betroffenen Beteiligten zusammenfallen. Hat dieser die Entscheidung beispielsweise erst später gelesen, weil er im Zeitpunkt der Bekanntgabe urlaubsbedingt abwesend war, fallen die Zeitpunkte auseinander (Beschluss vom 22. Januar 2013 - BVerwG 4 B 4.13 - NVwZ-RR 2013, 340 Rn. 4). Knüpft eine Bestimmung an die positive Kenntnis bestimmter Umstände Rechtsfolgen, so kann es einer solchen Kenntnis gleichstehen, wenn der Betroffene sich dieser bewusst verschließt und vorsätzlich eine gleichsam auf der Hand liegende Kenntnisnahmemöglichkeit, die jeder andere in seiner Lage wahrgenommen hätte, übergeht (vgl. BGH, Urteile vom 20. März 1995 - II ZR 205/94 - BGHZ 129, 136 <175 f.>, vom 9. Juli 1996 - VI ZR 5/95 - BGHZ 133, 192 <198> und vom 6. Mai 2008 - XI ZR 56/07 - BGHZ 176 Rn. 46; BAG, Urteil vom 20. August 2002 - 3 AZR 133/02 - BAGE 102, 242 <248>). Dementsprechend wird die Frist für die Einlegung der Anhörungsrüge auch zu dem Zeitpunkt in Lauf gesetzt, in dem sich der Betroffene der erforderlichen Kenntnis von einer (angeblichen) Verletzung des rechtlichen Gehörs bewusst verschließt (vgl. Guckelberger, in: Sodan/Ziekow, VwGO, 3. Aufl. 2010, § 152a Rn. 33; Rudisile, in: Schoch/Schneider/Bier, VwGO, Stand: August 2012, § 152a Rn. 22; Kautz, in: Fehling/Kastner/Störmer, Verwaltungsrecht, 3. Aufl. 2013, § 152a Rn. 21; Vollkommer, in: Zöller, ZPO, 29. Aufl. 2012, § 321a Rn. 14, Schwab, in: ders./Weth, ArbGG, 3. Aufl. 2011, § 78a Rn. 18). Dieses Verständnis steht mit Verfassungsrecht im Einklang (vgl. BVerfG, Beschluss vom 14. April 2010 - 1 BVR 299/10 - NJW-RR 2010, 1215 Rn. 5). Gemessen daran ist die Rüge nicht fristgerecht erhoben.

3 Die beanstandete Entscheidung vom 24. Mai 2012 wurde dem Prozessbevollmächtigten des Klägers ausweislich des Empfangsbekenntnisses am 2. August 2012 zugestellt. Der Prozessbevollmächtigte hat nach seinen eigenen Angaben in dem Begründungsschriftsatz vom 23. August 2012 nach Empfang der Entscheidung und erteilten Empfangsbekenntnis die Entscheidung bis zum Beginn seines Urlaubs am 10. August 2012 „nicht durchgelesen und daraufhin überprüft“, ob der Vortrag des Klägers, er habe nach dem (vermeintlichen) Erwerb der deutschen Staatsangehörigkeit seine bisherige kasachische Staatsangehörigkeit verloren, vom Senat in seinen Entscheidungsgründen Verwendung gefunden habe. Vielmehr habe er erst nach Rückkehr aus dem Urlaub, der bis zum 21. August 2012 gedauert habe, Kenntnis vom Inhalt der Entscheidung und der Gehörsverletzung genommen. Damit hat er sich im Zeitpunkt der Bekanntgabe der Kenntnisnahme bewusst verschlossen (vgl. auch BVerfG, Beschluss vom 14. April 2010 a.a.O. Rn. 7). Dieses Verhalten ist dem Kläger zuzurechnen (§ 173 VwGO i.V.m. § 85 Abs. 2 ZPO). In einem solchen Fall ist jedenfalls in der Regel - und so auch hier - kein Raum für eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gemäß § 60 VwGO.

4 2. Die Rüge wäre auch unbegründet. Der Senat hat den Anspruch des Klägers auf rechtliches Gehör nicht, wie in § 152a Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 VwGO vorausgesetzt, in entscheidungserheblicher Weise verletzt.

5 Der Anspruch der Prozessbeteiligten auf rechtliches Gehör verpflichtet das Gericht, die Ausführungen der Prozessbeteiligten zur Kenntnis zu nehmen und in Erwägung zu ziehen (stRspr, vgl. BVerfG, Urteil vom 8. Juli 1997 - 1 BvR 1621/94 - BVerfGE 96, 205 <216>). Art. 103 Abs. 1 GG ist allerdings nur dann verletzt, wenn sich im Einzelfall klar ergibt, dass das Gericht dieser Pflicht nicht nachgekommen ist. Denn grundsätzlich ist davon auszugehen, dass die Gerichte das von ihnen entgegengenommene Parteivorbringen auch zur Kenntnis genommen und in Erwägung gezogen haben (stRspr, vgl. etwa BVerfG, Beschluss vom 10. Juni 1975 - 2 BvR 1086/74 - BVerfGE 40, 101 <104 f.>). Die Gerichte sind nicht verpflichtet, sich mit jedem Vorbringen in den Entscheidungsgründen ausdrücklich zu befassen (BVerfG, u.a. Beschluss vom 5. Oktober 1976 - 2 BvR 558/75 - BVerfGE 42, 364 <368>). Deshalb müssen, wenn ein Verstoß gegen Art. 103 Abs. 1 GG festgestellt werden soll, im Einzelfall besondere Umstände deutlich ergeben, dass das Vorbringen eines Beteiligten entweder überhaupt nicht zur Kenntnis genommen oder doch bei der Entscheidung ersichtlich nicht erwogen worden ist (BVerfG, u.a. Beschlüsse vom 19. Mai 1992 - 1 BvR 986/91 - BVerfGE 86, 133 <146> und vom 1. Februar 1978 - 1 BvR 426/77 - BVerfGE 47, 182 <187 f.>). Ein solcher Ausnahmefall ist hier nicht dargetan und auch nicht erkennbar.

6 Der Kläger rügt, der Senat habe sein Vorbringen im Berufungsverfahren, wonach er nach dem (vermeintlichen) Erwerb der deutschen Staatsangehörigkeit seine bisherige kasachische Staatsangehörigkeit verloren habe, nicht zur Kenntnis genommen. Er nimmt insoweit ausdrücklich Bezug auf sein Vorbringen zu Nummer 2.4 in seiner Berufungsbegründungsschrift vom 4. Oktober 2010 (Seite 5). Dort hat er dargelegt, das Verwaltungsgericht habe auch vernachlässigt, dass der Beklagte bei der Ausübung des Rücknahmeermessens nicht den Umstand eingestellt habe, „dass der Kläger nach dem Erwerb der deutschen Staatsangehörigkeit seine bisherige kasachische Staatsangehörigkeit verloren hat“. Dieses Vorbringen war für die Entscheidung des Senats nicht erheblich. In seinem Urteil vom 24. Mai 2012 hat der Senat angenommen, dass der Kläger die deutsche Staatsangehörigkeit nicht erlangt hat. Deshalb war auf dieses Vorbringen, das der Kläger im Revisionsverfahren nicht wieder aufgegriffen hat, in den Entscheidungsgründen nicht einzugehen.

7 Soweit der Kläger in der Begründung seiner Anhörungsrüge darlegt, die Rücknahme der Spätaussiedlerbescheinigung komme tatsächlich dem Entzug einer Staatsangehörigkeit gleich und dem müsse entweder durch eine bestimmte Auslegung des § 7 des Staatsangehörigkeitsgesetzes oder im Rahmen des Rücknahmeermessens Rechnung getragen werden, vermögen diese Erwägungen zum materiellen Recht die Annahme einer Verletzung des Anspruchs auf Gewährung rechtlichen Gehörs nicht zu begründen.

8 3. Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO.