Verfahrensinformation

Die Klägerinnen sind Fraktionen im Rat der Stadt Mönchengladbach. Sie begehren vom beklagten Oberbürgermeister die Gewährung von Einsicht in näher bezeichnete Unterlagen im Zusammenhang mit einer Aufsichtsratssitzung der X-Aktiengesellschaft. Die Stadt Mönchengladbach ist an der X-AG mittelbar beteiligt, der Beklagte ist Mitglied in deren Aufsichtsrat. Den Antrag auf Akteneinsicht lehnte der Beklagte unter Hinweis auf seine gesellschaftsrechtliche Verschwiegenheitspflicht ab.


Die daraufhin erhobene Klage hatte in den Vorinstanzen teilweise Erfolg. Das Oberverwaltungsgericht hat den Beklagten verurteilt, den Klägerinnen durch von diesen benannte Ratsmitglieder Einsicht in ein näher bezeichnetes Schreiben im Zusammenhang mit der Aufsichtsratssitzung der X-AG zu gewähren. Zur Begründung hat es ausgeführt, den Klägerinnen stehe ein Anspruch auf Akteneinsicht nach der Gemeindeordnung zu. Dieser Anspruch sei nicht aufgrund sonstiger Vorschriften ausgeschlossen. Zwar könne die gesellschaftsrechtliche Verschwiegenheitspflicht des Beklagten als Aufsichtsratsmitglied der X-AG dem Akteneinsichtsbegehren grundsätzlich entgegenstehen. Eine Verschwiegenheitspflicht des Beklagten gegenüber den Klägerinnen sei jedoch durch § 394 AktG suspendiert. Danach unterliegen Aufsichtsratsmitglieder, die auf Veranlassung einer Gebietskörperschaft in den Aufsichtsrat gewählt oder entsandt worden sind, hinsichtlich der Berichte, die sie der Gebietskörperschaft zu erstatten haben, keiner Verschwiegenheitspflicht. Diese Voraussetzungen hat das Oberverwaltungsgericht bejaht.


Mit der vom Oberverwaltungsgericht zugelassenen Revision erstrebt der Beklagte die Abweisung der Klage.


Urteil vom 18.09.2024 -
BVerwG 8 C 3.23ECLI:DE:BVerwG:2024:180924U8C3.23.0

Freistellung von der aktienrechtlichen Verschwiegenheitspflicht für auf Veranlassung einer Gebietskörperschaft in den Aufsichtsrat einer Aktiengesellschaft entsandte Aufsichtsratsmitglieder

Leitsatz:

Die Freistellung von der Verschwiegenheitspflicht nach § 394 Satz 1 AktG für Aufsichtsratsmitglieder, die auf Veranlassung einer Gebietskörperschaft in den Aufsichtsrat gewählt oder entsandt worden sind, setzt keine Gewähr besonderer Vertraulichkeit seitens des Berichtsempfängers voraus.

  • Rechtsquellen
    GG Art. 20 Abs. 1 und 2, Art. 28 Abs. 1 Satz 2
    AktG § 93 Abs. 1 Satz 3, §§ 116, 394, 395
    GO NRW § 55 Abs. 4 Satz 1, § 113 Abs. 5 Satz 1

  • VG Düsseldorf - 14.08.2020 - AZ: 1 K 7000/19
    OVG Münster - 12.12.2022 - AZ: 15 A 2689/20

  • Zitiervorschlag

    BVerwG, Urteil vom 18.09.2024 - 8 C 3.23 - [ECLI:DE:BVerwG:2024:180924U8C3.23.0]

Urteil

BVerwG 8 C 3.23

  • VG Düsseldorf - 14.08.2020 - AZ: 1 K 7000/19
  • OVG Münster - 12.12.2022 - AZ: 15 A 2689/20

In der Verwaltungsstreitsache hat der 8. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
auf die mündliche Verhandlung vom 18. September 2024
durch den Vorsitzenden Richter am Bundesverwaltungsgericht Dr. Keller,
die Richterin am Bundesverwaltungsgericht Hoock und
die Richter am Bundesverwaltungsgericht Dr. Seegmüller, Dr. Meister und
Dr. Naumann
für Recht erkannt:

  1. Die Revision wird zurückgewiesen.
  2. Der Beklagte trägt die Kosten des Revisionsverfahrens.

Gründe

I

1 Die Klägerinnen sind Fraktionen im Rat der Stadt M. Sie begehren vom beklagten Oberbürgermeister die Gewährung von Einsicht in näher bezeichnete Unterlagen im Zusammenhang mit einer Aufsichtsratssitzung der N. Aktiengesellschaft (nachfolgend: N. AG). Die Stadt M. ist an der N. AG mittelbar beteiligt, der Beklagte ist Mitglied in deren Aufsichtsrat. Den Antrag der Klägerinnen, Einsicht in die mit der Aufsichtsratssitzung der N. AG vom 7. Juni 2018 in Zusammenhang stehende Korrespondenz nebst Aktennotizen zwischen der Stadt M. und der N. AG zu gewähren, lehnte der Beklagte unter Hinweis auf seine gesellschaftsrechtliche Verschwiegenheitspflicht als Aufsichtsratsmitglied ab.

2 Das Verwaltungsgericht hat der daraufhin erhobenen Klage teilweise stattgegeben und den Beklagten verurteilt, Einsicht in die Korrespondenz nebst Aktennotizen zwischen der Stadt M. und der N. AG im Vorfeld der Aufsichtsratssitzung von Juni 2018 zu gewähren, soweit ein Zusammenhang mit Tagesordnungspunkt 5 der Aufsichtsratssitzung besteht und soweit nicht andere Betriebs- oder Geschäftsgeheimnisse oder Informationen über vertrauliche Berichte und Beratungen enthalten sind.

3 Im Berufungsverfahren hat der Beklagte mitgeteilt, er verfüge nur über ein Dokument, das vom Akteneinsichtsgesuch erfasst sei. Dabei handele es sich um ein Schreiben vom 28. Mai 2018, das vom Beteiligungsmanagement der Stadt M. über den Kämmerer an ihn übersandt worden sei. Das Oberverwaltungsgericht hat das Urteil des Verwaltungsgerichts geändert und den Beklagten unter Zurückweisung seiner Berufung verpflichtet, den Klägerinnen durch namentlich benannte Ratsmitglieder Akteneinsicht in das Schreiben vom 28. Mai 2018 zu gewähren, soweit nicht andere Betriebs- und Geschäftsgeheimnisse oder Informationen über vertrauliche Berichte und Beratungen enthalten sind. Den Klägerinnen stehe ein Anspruch auf Akteneinsicht gegen den Beklagten nach § 55 Abs. 4 Satz 1 GO NRW zu. Das Akteneinsichtsrecht bestehe zwar nicht unbegrenzt. Die gesellschaftsrechtliche Verschwiegenheitspflicht des Beklagten als Aufsichtsratsmitglied stehe dem Anspruch jedoch nicht entgegen. Sie sei durch § 394 AktG gegenüber den Klägerinnen suspendiert. Eine von § 394 AktG vorausgesetzte Berichtspflicht ergebe sich hier aus § 113 Abs. 5 Satz 1 GO NRW. Die Vorschrift sei mit §§ 394 f. AktG vereinbar. § 394 AktG lasse sich nicht entnehmen, dass Bestimmungen, mit denen eine Berichtspflicht begründet werde, ein besonderes Maß an Vertraulichkeit gewährleisten müssten und dies bei einer größeren Zahl von Berichtsempfängern (etwa dem gesamten Rat einer Gemeinde) von vornherein nicht der Fall sei. Wer konkret Berichtsempfänger sei, bestimme das Organisationsrecht der Gebietskörperschaft. Aufgrund des systematischen Zusammenhangs mit § 395 Abs. 1 AktG komme als Berichtsempfänger nur in Frage, wer zugleich Adressat der durch diese Vorschrift verlagerten Verschwiegenheitspflicht sei. Dabei gehöre die Möglichkeit einer Befassung von Gemeinde- bzw. Stadträten zum realtypischen Hintergrund der §§ 394 f. AktG, weil die Verantwortlichkeit für Entscheidungen über Beteiligungen von Kommunen an Gesellschaften in Privatrechtsform nach den kommunalverfassungsrechtlichen Vorgaben regelmäßig auch den Rat treffe. Hiervon ausgehend könne der Begriff des ''Verwaltens" im Sinne des § 395 Abs. 1 AktG auch auf Angehörige des Rates bezogen werden. Der Gesetzgeber habe keine Veranlassung gesehen, den Kreis der Berichtsadressaten in § 394 AktG zu beschränken. Im Übrigen sei eine rechtliche Verpflichtung der Ratsmitglieder zur Verschwiegenheit durch die Gemeindeordnung gewährleistet. Sie lasse sich nötigenfalls durch flankierende Vorkehrungen wie etwa Beratung in nichtöffentlicher Sitzung oder Delegation auf einen Ausschuss auch in tatsächlicher Hinsicht hinreichend sicherstellen.

4 Zur Begründung seiner Revision macht der Beklagte geltend, das Berufungsurteil verletze § 116 Satz 1 i. V. m. § 93 Abs. 1 Satz 3 AktG, § 116 Satz 2 AktG, § 394 Satz 1 und § 395 Abs. 1 AktG. Das Berufungsgericht habe zu Unrecht eine Berichtspflicht des Beklagten nach § 113 Abs. 5 Satz 1 GO NRW angenommen. § 394 AktG lasse sich entnehmen, dass Bestimmungen nach dessen Satz 3, mit denen eine Berichtspflicht begründet werde, ein besonderes Maß an Vertraulichkeit gewährleisten müssten; dies könne bei einer größeren Anzahl von Berichtsempfängern von vornherein nicht der Fall sein. Der Rat sei kein tauglicher Berichtsempfänger, weil er die Beteiligung einer Gebietskörperschaft im Sinne des § 395 Abs. 1 AktG weder verwalte noch prüfe. Im Gesetzgebungsverfahren zur Aktienrechtsnovelle 2016 habe die Bundesregierung eine Ausweitung der Ausnahmen von der Verschwiegenheitspflicht kritisch gesehen. Einer Berichtspflicht an den Rat stehe nicht nur die Zahl der Berichtsempfänger, sondern auch die vielfach enge Beziehung zwischen Ratsmitgliedern, Bürgern und Unternehmen entgegen. Die vom Berufungsgericht angesprochene Relativierung der Verschwiegenheitspflicht im Interesse einer effektiven demokratischen Kontrolle könne nicht auf die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zum parlamentarischen Frage- und Informationsrecht gegenüber der Regierung gestützt werden. Der Gemeinderat sei zwar demokratisch legitimiert, aber Teil der Exekutive.

5 Der Beklagte beantragt,
das Urteil des Oberverwaltungsgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen vom 12. Dezember 2022 und das Urteil des Verwaltungsgerichts Düsseldorf vom 14. August 2020, soweit diese Urteile der Klage stattgegeben haben, zu ändern und die Klage insoweit abzuweisen.

6 Die Klägerinnen beantragen jeweils,
die Revision zurückzuweisen.

7 Sie verteidigen das Berufungsurteil.

8 Die Vertreterin des Bundesinteresses unterstützt das Vorbringen des Beklagten.

II

9 Die zulässige Revision ist unbegründet. Das Urteil des Oberverwaltungsgerichts verletzt kein revisibles Recht (§ 137 Abs. 1 VwGO).

10 1. Das Berufungsgericht hat die Klage in der Gestalt, die sie durch die Anschlussberufung der Klägerinnen erhalten hat, zu Recht für zulässig erachtet. Es ist zutreffend davon ausgegangen, dass eine Klageänderung durch den obsiegenden Beteiligten in der Berufungsinstanz nur im Wege der Anschlussberufung nach § 127 VwGO erfolgen kann (vgl. BVerwG, Urteil vom 23. September 2010 - 7 C 20.09 - Buchholz 451.223 ElektroG Nr. 4 Rn. 15) und die Anschlussberufung keine Beschwer voraussetzt (vgl. BVerwG, Urteil vom 17. Januar 1962 - 6 C 164.59 - VerwRspr 1962, 764 <765>). Zu Recht hat das Berufungsgericht die Klageänderung nach § 91 Abs. 1 VwGO sowohl aufgrund der Einwilligung des Beklagten (Alt. 1) als auch wegen Sachdienlichkeit (Alt. 2) für zulässig gehalten. Die geänderte Klage ist ihrerseits statthaft und auch sonst zulässig.

11 2. Das Berufungsgericht hat die Klage ohne Verletzung von Bundesrecht für begründet gehalten.

12 a) Das Berufungsgericht geht davon aus, dass die Voraussetzungen des Akteneinsichtsrechts nach § 55 Abs. 4 Satz 1 der Gemeindeordnung für das Land Nordrhein-Westfalen (GO NRW) i. d. F. der Bekanntmachung vom 14. Juli 1994 (GV. NRW. S. 666), zuletzt geändert durch Art. 2 des Gesetzes vom 5. Juli 2024 (GV. NRW. S. 444) zwar vorlägen, der Anspruch auf Akteneinsicht nach dieser Vorschrift aber nicht unbegrenzt gelte, sondern durch aktienrechtliche Verschwiegenheitspflichten ausgeschlossen sein könne. Diese berufungsgerichtliche Auslegung und Anwendung irrevisiblen Landesrechts ist für das Revisionsgericht nach § 173 VwGO i. V. m. § 560 ZPO bindend.

13 b) Die Annahme des Berufungsgerichts, die Verschwiegenheitspflicht von Aufsichtsräten in Aktiengesellschaften (§ 116 Satz 1 i. V. m. § 93 Abs. 1 Satz 3, § 116 Satz 2 AktG) sei bei Vorliegen der Voraussetzungen des § 394 AktG suspendiert, sowie seine weitere Erwägung, die Berichtspflicht des Beklagten nach § 113 Abs. 5 Satz 1 GO NRW sei mit § 394 f. AktG vereinbar, stehen im Einklang mit Bundesrecht.

14 Nach § 394 Satz 1 AktG unterliegen Aufsichtsratsmitglieder, die auf Veranlassung einer Gebietskörperschaft in den Aufsichtsrat gewählt oder entsandt worden sind, hinsichtlich der Berichte, die sie der Gebietskörperschaft zu erstatten haben, keiner Verschwiegenheitspflicht. Dies gilt nach Satz 2 nicht für vertrauliche Angaben und Geheimnisse der Gesellschaft, wenn ihre Kenntnis für die Zwecke der Berichte nicht von Bedeutung ist. Die Berichtspflicht nach Satz 1 kann auf Gesetz, auf Satzung oder auf dem Aufsichtsrat in Textform mitgeteiltem Rechtsgeschäft beruhen (Satz 3). Das Berufungsgericht hat eine solche Berichtspflicht der landesrechtlichen Bestimmung des § 113 Abs. 5 Satz 1 GO NRW entnommen, wonach die Vertreter der Gemeinde den Rat über alle Angelegenheiten von besonderer Bedeutung frühzeitig zu unterrichten haben. Es hat diese irrevisible Vorschrift für das Revisionsgericht bindend dahin ausgelegt und angewandt, dass der Beklagte als Mitglied des Aufsichtsrats der N. AG im Hinblick auf das Schreiben vom 28. Mai 2018 gegenüber dem Rat grundsätzlich berichtspflichtig ist. Die weitere berufungsgerichtliche Annahme, § 394 Satz 1 AktG lasse sich nicht entnehmen, dass Bestimmungen, die nach Satz 3 eine Berichtspflicht begründeten, ein besonderes Maß an Vertraulichkeit gewährleisten müssten und dies bei einer größeren Zahl von Berichtsempfängern wie dem Rat einer Kommune von vornherein nicht der Fall sein könne, ist bundesrechtskonform. Die Freistellung von der Verschwiegenheitspflicht nach § 394 Satz 1 AktG setzt keine Gewähr besonderer Vertraulichkeit des Berichtsempfängers voraus. Die Vorschrift schließt den Rat einer Gemeinde als Berichtsempfänger nicht aus. Für diese Auslegung sprechen die Entstehungsgeschichte der Vorschrift sowie ihr Zweck; Wortlaut und Systematik stehen dem nicht entgegen.

15 aa) Der Wortlaut des § 394 Satz 1 AktG bietet für die Auslegung, dass die Verschwiegenheitspflicht eines Aufsichtsratsmitglieds bei bestehender Berichtspflicht nur dann entfällt, wenn seitens des Berichtsempfängers ein besonderes Maß an Vertraulichkeit gewährleistet ist, keinen Anknüpfungspunkt. Soweit ein Teil des gesellschaftsrechtlichen Schrifttums eine Freistellung von der Verschwiegenheitspflicht nach § 394 Satz 1 AktG nur bei Gewähr besonderer Vertraulichkeit des Berichtsempfängers annimmt, verweist diese Auffassung auf ein "ungeschriebenes Tatbestandsmerkmal" ohne Bezug zum Normtext (vgl. Schmidt-Aßmann/​Ulmer, BB 1988, Beilage 13, S. 1 <9>; Koch, ZHR 2019, 7 <23>; Stehlin, in: Heidel, Aktienrecht und Kapitalmarktrecht, 5. Aufl. 2020, § 394 AktG Rn. 7; Linnartz, AG 2023, R 76; Schockenhoff, in: Münchener Kommentar zum Aktiengesetz, 6. Aufl. 2024, § 394 Rn. 38, je m. w. N.).

16 bb) Die Entstehungsgeschichte spricht gegen eine Auslegung des § 394 Satz 1 AktG, die vom Berichtsempfänger die Gewähr besonderer Vertraulichkeit verlangt und den Rat einer Gemeinde als Berichtsempfänger ausschließt. Die Bestimmungen der §§ 394, 395 AktG wurden erstmals im Jahr 1965 in das Aktiengesetz eingeführt. Sie sollten die aktienrechtliche Verschwiegenheitspflicht den besonderen Verhältnissen der auf Vorschlag von Gebietskörperschaften in den Aufsichtsrat gewählten oder entsandten Mitglieder anpassen (vgl. Schriftlicher Bericht des Rechtsausschusses zu §§ 381a, 381b, zu BT-Drs. IV/3296 S. 53). Der Verlauf der Beratungen im Rechtsausschuss legt nahe, dass nach den Vorstellungen des Gesetzgebers der Rat einer Gemeinde vom Kreis möglicher Berichtsempfänger im Sinne des § 394 Satz 1 AktG umfasst sein sollte. So wurde in der Beratung des damaligen § 381b und späteren § 394 AktG ausdrücklich darauf hingewiesen, dass in einigen Ländern der Gemeinderat Spitze der Verwaltung sei und das Aufsichtsratsmitglied ihm gegenüber von der Schweigepflicht entbunden werde (so der Abgeordnete Dr. Koch, Protokoll der 127. Sitzung des Rechtsausschusses vom 2. April 1965, S. 16). Daraufhin unterbreitete die Abgeordnete Dr. Kuchtner einen Gesetzesvorschlag, der diese Folge ausschließen sollte, führte zugleich aber aus, sie halte eine solche Einschränkung nicht für erforderlich, da die Ratsmitglieder ohnehin alle wesentlichen Dinge erführen; daher solle man den Rat auch nicht von der Unterrichtung ausschließen (Protokoll der 127. Sitzung des Rechtsausschusses vom 2. April 1965, S. 16 f.). Im unmittelbaren Anschluss an diese Diskussion nahm der Rechtsausschuss die (späteren) §§ 394, 395 AktG an, ohne den Wortlaut entsprechend dem unterbreiteten Vorschlag zu ergänzen oder anderweitig klarzustellen, dass der Rat einer Gemeinde kein möglicher Berichtsempfänger im Sinne des § 394 Satz 1 AktG sein könne.

17 Der Entstehungsgeschichte der mit dem Gesetz zur Änderung des Aktiengesetzes vom 22. Dezember 2015 (BGBl. I S. 2565) abgeschlossenen Aktienrechtsnovelle 2016 lässt sich nichts Abweichendes entnehmen. Sie führte zur Einfügung des § 394 Satz 3 AktG, der bestimmt, auf welche Weise die nach Satz 1 vorausgesetzte Berichtspflicht begründet werden kann. Der Gesetzgeber beabsichtigte mit der Anfügung des Satzes 3 ausdrücklich nur die Klarstellung, dass die Berichtspflicht eines Aufsichtsratsmitglieds gegenüber der Gebietskörperschaft auch auf Rechtsgeschäft beruhen kann (vgl. BT-Drs. 17/8989 S. 21). Der Kreis möglicher Berichtsempfänger wurde im Rahmen der Aktienrechtsnovelle hingegen nicht thematisiert (vgl. auch die Äußerung der Abgeordneten Keul, 136. Sitzung des Deutschen Bundestages vom 12. November 2015; Plenarprotokoll 18/136, S. 13325 <13326 D>). Die von der Revision angeführte Gegenäußerung der Bundesregierung, wonach die Ausnahme von der Verschwiegenheitspflicht eng gefasst bleiben sollte, betrifft eine vom Bundesrat vorgeschlagene und von der Bundesregierung abgelehnte Ausweitung der Freistellung von der Verschwiegenheitspflicht (vgl. BT-Drs. 17/8989 S. 25 und 27). Sie bietet keinen Anhalt für eine Einschränkung des Kreises der Berichtsempfänger. Vielmehr hat der Gesetzgeber trotz Kenntnis der landesrechtlich normierten gemeinderechtlichen Berichtspflichten die Ergänzung des § 394 AktG gerade nicht zum Anlass genommen, eine Einschränkung der Freistellung von der Verschwiegenheitspflicht zu Lasten kommunaler Vertretungsorgane vorzunehmen.

18 cc) Die Systematik der §§ 394 f. AktG steht der aus ihrer Entstehungsgeschichte gewonnenen Auslegung nicht entgegen. § 394 Satz 1 AktG spricht hinsichtlich der Adressaten der Berichtspflicht von Berichten, "die sie [die Aufsichtsratsmitglieder] der Gebietskörperschaft zu erstatten haben". Das Berufungsgericht hat zu Recht darauf verwiesen, dass die konkreten Adressaten durch das Organisationsrecht der Gebietskörperschaft bestimmt werden (vgl. Koch, Aktiengesetz, 18. Aufl. 2024, § 394 Rn. 86) und wegen des systematischen Zusammenhangs mit § 395 Abs. 1 AktG der Bericht nur an diejenigen Personen gerichtet werden darf, welche die Beteiligung der Gebietskörperschaft verwalten oder prüfen. § 395 Abs. 1 AktG erweitert die Verschwiegenheitspflicht des § 394 AktG auf diejenigen Personen, die nicht selbst Organmitglieder, sondern aus Sicht der Aktiengesellschaft als Dritte zu betrachten sind. Die Vorschrift verfolgt das Ziel, die aktienrechtliche Verschwiegenheitspflicht auf diejenigen Personen zu erstrecken, die mit Berichten nach § 394 AktG im Rahmen einer ordnungsgemäßen Beteiligungsverwaltung bestimmungsgemäß in Berührung kommen (vgl. Huber/​Fröhlich, Großkommentar AktG, 4. Aufl. 2015, § 395 Rn. 1 und 4). Sie grenzt den Kreis der Berichtsempfänger zwar auf solche Personen ein, hebt aber die mit § 394 AktG verbundene Lockerung des aktienrechtlichen Vertraulichkeitsgrundsatzes nicht auf. Die Gesamtschau der §§ 394 f. AktG rechtfertigt daher nicht die Annahme, die Freistellung von der Verschwiegenheitspflicht nach § 394 Satz 1 AktG greife nur dann ein, wenn die Vertraulichkeit des Berichtsempfängers tatsächlich gewährleistet sei (so etwa Schockenhoff, in: Münchener Kommentar zum Aktiengesetz, 6. Aufl. 2024, § 395 Rn. 10).

19 dd) Sinn und Zweck des § 394 AktG sprechen ebenfalls für ein Verständnis der Vorschrift, das die Gewähr besonderer Vertraulichkeit des Berichtsempfängers nicht voraussetzt und den Rat einer Gemeinde als Berichtsempfänger nicht ausschließt. § 394 AktG bestimmt das Verhältnis einer bestehenden Berichtspflicht eines auf Veranlassung einer Gebietskörperschaft in einen Aufsichtsrat gewählten oder entsandten Aufsichtsratsmitglieds zur grundsätzlichen Verschwiegenheitspflicht nach § 93 Abs. 1 Satz 2, § 116 AktG. Aufgabe der §§ 394 f. AktG ist es, die Pflichtenkollision zwischen der gesellschaftsrechtlichen Verschwiegenheitspflicht und dem öffentlichen Interesse der Gebietskörperschaft an einer effektiven Beteiligungsverwaltung zu regeln. Sie stellen Sonderbestimmungen zugunsten der öffentlichen Hand dar, die ausweislich der Gesetzesmaterialien die gesellschaftsrechtlichen Verschwiegenheitsgrundsätze der besonderen Situation öffentlicher Unternehmensbeteiligungen anpassen sollen. Das mit ihnen verfolgte Regelungsziel, dem Interesse der Gebietskörperschaft an einer effektiven Beteiligungsverwaltung und -prüfung Rechnung zu tragen, schließt die Wahrnehmung demokratischer Kontrolle durch das zuständige Gemeindeorgan ein. Andernfalls käme das durch § 394 AktG anerkannte Informationsinteresse der Gebietskörperschaft nicht in ausreichendem Maße zur Geltung (vgl. Pelz, in: Bürgers/​Körber/​Lieder, Aktiengesetz, 5. Aufl. 2020, § 394 Rn. 8; Rachlitz, in: Grigoleit, Aktiengesetz, 2. Aufl. 2020, § 395 Rn. 30; Schall, in: BeckOGK Aktiengesetz, Stand Oktober 2023, § 394 Rn. 15). Dass dem öffentlichen Kontrollinteresse in diesem Zusammenhang ausnahmsweise Vorrang vor den allgemeinen gesellschaftsrechtlichen Vertraulichkeitsgrundsätzen einzuräumen ist, legt zudem die jüngere Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts nahe (vgl. BVerfG, Urteil vom 7. November 2017 - 2 BvE 2/11 - BVerfGE 147, 50 Rn. 218 ff., insb. Rn. 219, 225). Die darin hervorgehobene Kontrollfunktion des Parlaments ist Ausdruck der aus dem Demokratieprinzip folgenden Verantwortlichkeit der Regierung gegenüber dem Parlament. Auch bei Beteiligung an privaten Unternehmensformen unterliegt die öffentliche Hand demokratischer Kontrolle. Deren effektive Wahrnehmung ist nur gewährleistet, wenn dem zuständigen Kontrollorgan die nötigen Informationen zur Verfügung gestellt werden. Dabei ist der demokratischen Kontrollfunktion nicht nur im Verhältnis von Parlament und Regierung Rechnung zu tragen (vgl. dazu BVerfG, a. a. O., Rn. 218 ff.), sondern auch auf kommunaler Ebene. Denn Art. 28 Abs. 1 Satz 2 GG überträgt die Grundentscheidungen für Volkssouveränität und Demokratie (Art. 20 Abs. 1 und 2 GG) auf die Ebene der Gemeinden, unabhängig davon, dass die Gemeindevertretung kein Parlament, sondern ein Organ einer Selbstverwaltungskörperschaft ist (vgl. BVerwG, Urteil vom 24. April 2010 - 8 C 18.08 - BVerwGE 137, 21 Rn. 20). Die Gemeindevertretung ist demokratisch legitimiert, repräsentiert die Bürger ihrer Gemeinde und ist diesen gegenüber verantwortlich.

20 c) Steht danach die Auslegung der §§ 394 f. AktG durch das Berufungsgericht mit Bundesrecht im Einklang, erweist sich auch deren Anwendung als revisionsrechtlich fehlerfrei.

21 Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO.