Urteil vom 14.12.2006 -
BVerwG 3 C 36.05ECLI:DE:BVerwG:2006:141206U3C36.05.0
Leitsätze:
In der langjährigen Tätigkeit als Gauredner der NSDAP liegt ein erhebliches Vorschubleisten zugunsten des nationalsozialistischen Systems im Sinne von § 1 Abs. 4 AusglLeistG.
Die Hauptamtlichkeit einer Tätigkeit für die NSDAP oder eine ihrer Gliederungen ist nicht Voraussetzung für die Erheblichkeit des Vorschubleistens.
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Rechtsquellen
AusglLeistG § 1 Abs. 4 -
Instanzenzug
VG Chemnitz - 22.07.2004 - AZ: VG 9 K 530/01
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Zitiervorschlag
BVerwG, Urteil vom 14.12.2006 - 3 C 36.05 - [ECLI:DE:BVerwG:2006:141206U3C36.05.0]
Urteil
BVerwG 3 C 36.05
- VG Chemnitz - 22.07.2004 - AZ: VG 9 K 530/01
In der Verwaltungsstreitsache hat der 3. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
auf die mündliche Verhandlung vom 14. Dezember 2006
durch den Vorsitzenden Richter am Bundesverwaltungsgericht Kley
und die Richter am Bundesverwaltungsgericht van Schewick, Dr. Dette,
Liebler und Prof. Dr. Rennert
für Recht erkannt:
- Die Revision der Kläger gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts Chemnitz vom 22. Juli 2004 wird zurückgewiesen.
- Die Kläger tragen die Kosten des Revisionsverfahrens.
Gründe
I
1 Die Kläger begehren als Rechtsnachfolger von Dr. S. die Rückgabe von Kunstgegenständen, die auf besatzungshoheitlicher Grundlage entschädigungslos enteignet worden waren. Von der Beklagten wurde dies, gestützt auf § 1 Abs. 4 des Ausgleichsleistungsgesetzes (AusglLeistG), verweigert.
2 Der 1886 geborene Dr. S. war Facharzt für Frauenheilkunde. Bis 1935 betrieb er in A. eine private Frauenklinik. Im September/Oktober 1935 wurde Dr. S. in Ch. Chefarzt der Staatlichen Frauenklinik. Im August 1938 wurde er zu deren Leiter, im Oktober 1939 zu deren Direktor ernannt.
3 Dr. S. trat am 12. Juni 1930 in die NSDAP und in die SA ein. Er war von 1930 an Bezirks- und später Gauredner der NSDAP. Im Januar 1938 erhielt er einen Ausweis als Kreis-Hauptstellenleiter der NSDAP. Von 1930 bis 1935 war Dr. S. Leiter des Schülerbundes A. sowie Bezirksobmann des NS-Ärztebundes, Kreisstelle A. Von 1933 bis 1935 leitete er das Amt für Volksgesundheit in A. und war Amtsleiter des NS-Ärztebundes. Dr. S. war außerdem Vorsitzender der Ärztekammer im Bezirk Z. In der SA war Dr. S. bis Februar 1934 als Sturmbann- und Standartenarzt tätig, anschließend bis August 1935 Adjutant des SA-Brigadearztes in P., danach war er z.V. bzw. z.b.V. gestellt. Zum 1. Juli 1932 wurde er zum SA-Sanitäts-Standartenführer befördert. Am Erbgesundheitsgericht beim Amtsgericht Z. war Dr. S. als mit der Erbgesundheitslehre besonders vertrauter Arzt im Sinne von § 6 Abs. 1 des Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses vom 14. Juli 1933 tätig. Dem Verwaltungsgericht lagen drei Beschlüsse des Erbgesundheitsgerichts vor, an denen Dr. S. mitgewirkt hatte und in denen auf die Unfruchtbarmachung von an Schizophrenie Erkrankten erkannt worden war.
4 Nach Kriegsende verlor Dr. S. seine Stelle an der Staatlichen Frauenklinik, er wurde im Juli 1945 in Haft genommen. Gegen ihn wurde ein Ermittlungsverfahren wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit eingeleitet. Ihm wurden auch aus ideologischen Gründen bedingte medizinische Fehlbehandlungen, teilweise mit Todesfolge, zur Last gelegt. Sein Vermögen wurde auf besatzungshoheitlicher Grundlage entschädigungslos enteignet. 1950 verstarb Dr. S. in der Haft. Das Verfahren wurde nach seinem Tod eingestellt.
5 Die Rechtsnachfolger von Dr. S. beantragten 1990 die Rückgabe von Kunstgegenständen, die sich nach ihren Angaben in seinem Eigentum befunden hatten.
6 Mit Bescheid vom 16. Februar 1999 lehnte die Beklagte den Antrag ab. Zur Begründung heißt es: Die Gewährung einer Ausgleichsleistung sei nach § 1 Abs. 4 AusglLeistG ausgeschlossen. Dr. S. sei Belasteter im Sinne der Kontrollratsdirektive Nr. 38. Er habe durch seine Stellung und Tätigkeit die nationalsozialistische Gewaltherrschaft wesentlich gefördert und sich offen als überzeugter Anhänger, insbesondere auch der NS-Rassenlehre, bekannt. Die Zugehörigkeit zu einem Erbgesundheitsgericht und die Berechtigung zu Unfruchtbarmachungen nach dem Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses begründeten einen Verstoß gegen die Grundsätze der Menschlichkeit und Rechtsstaatlichkeit.
7 Den Widerspruch wies das Sächsische Landesamt zur Regelung offener Vermögensfragen mit Bescheid vom 28. Februar 2001 zurück.
8 Das Verwaltungsgericht Chemnitz hat die Klage mit Urteil vom 22. Juli 2004 abgewiesen. Zur Begründung führt das Verwaltungsgericht aus: Der Rechtsvorgänger der Kläger habe zum einen durch seine langjährige Tätigkeit als Gau- bzw. Bezirksredner dem nationalsozialistischen System erheblichen Vorschub geleistet. Dass Dr. S. dieses Amt im Jahr 1930 und damit schon lange vor der sog. Machtergreifung übernommen habe, zeige, dass dies nicht zur Erlangung persönlicher Vorteile geschehen sei, sondern dass er sich mit den Idealen und Zielen der NSDAP identifiziert habe. Er habe dieses Amt auch nach der Übernahme der Frauenklinik in Ch. ausgeübt. Aus der langen Dauer der Tätigkeit, dem Umstand, dass er 1938 einen Ausweis als Kreishauptstellenleiter erhalten habe, und den positiven Beurteilungen durch den NSDAP-Kreisleiter und den Gau-Obmann des NS-Lehrerbundes sei zu schließen, dass er dabei im Sinne des Regimes erfolgreich gewesen sei. Danach sei es nicht erforderlich, jede einzelne der Betätigungen von Dr. S. zu belegen und zu beweisen. Ein erhebliches Vorschubleisten liege außerdem in der Tätigkeit als Beisitzer an einem Erbgesundheitsgericht. Die Aufgabe dieser Gerichte habe in der Durchsetzung der NS-Rassenideologie bestanden. Dr. S. habe seine Bereitschaft zur Mitwirkung erklärt und an mindestens drei Beschlüssen zur Sterilisation von an Schizophrenie Erkrankten mitgewirkt. Dies sei mit seiner besonderen Verantwortung als Arzt für den Schutz und die Erhaltung jeglichen Lebens und der Gesundheit von Menschen unvereinbar gewesen. Ein erhebliches Vorschubleisten liege zudem in der Übernahme von Ämtern in der NSDAP und im Engagement von Dr. S. im NS-Ärztebund. Aus der Vielzahl dieser Ämter und der bereits 1932 erfolgten Beförderung zum SA-Standartenarzt sei zu schließen, dass er sich aktiv im Sinne der politischen Zielrichtung dieser Organisationen betätigt habe. Dr. S. habe durch seine Mitwirkung beim Erbgesundheitsgericht in Z. auch gegen die Grundsätze der Menschlichkeit oder Rechtsstaatlichkeit verstoßen. Ein solcher Verstoß sei bei erheblichen Zuwiderhandlungen gegen die Gemeinschaftsordnung oder rechtsstaatliche Grundsätze anzunehmen. Als Maßstab dienten die in der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten niedergelegten Menschenrechte. Dr. S. habe an drei Beschlüssen zur Sterilisation von an Schizophrenie Erkrankten mitgewirkt. Ziel sei die Vermeidung erbkranken Nachwuchses zur „Reinerhaltung der deutschen Rasse“ gewesen. In dieser menschenverachtenden Zielsetzung liege ein Verstoß gegen die Grundsätze der Menschlichkeit. Aus den Umständen seiner Berufung in das Gericht sowie seinem sonstigen Werdegang ergebe sich, dass er sich diese Ziele auch selbst zu Eigen gemacht habe.
9 Zur Begründung ihrer Revision machen die Kläger geltend: Das Verwaltungsgericht habe seine Entscheidung auf die Tätigkeit von Dr. S. als Bezirks- und Gauredner gestützt, obwohl sich in den Akten nur für eine einzige Rede ein Beleg finde. Feststellungen dazu, wo er vor wie vielen Menschen Reden gehalten habe, ließen sich nicht treffen. Danach sei nach den allgemeinen Beweisregeln zu unterstellen, dass die Rednertätigkeit keinen nennenswerten Umfang erreicht habe. Aus den Dr. S. ausgestellten Bescheinigungen ergebe sich nichts anderes, es habe sich dabei um bloße Gefälligkeitserklärungen gehandelt. Somit habe das Verwaltungsgericht gegen den Überzeugungsgrundsatz des § 108 Abs. 1 VwGO verstoßen. In der Tätigkeit von Dr. S. als ärztlicher Beisitzer am Erbgesundheitsgericht sei weder ein erhebliches Vorschubleisten noch ein Verstoß gegen die Grundsätze der Menschlichkeit oder Rechtsstaatlichkeit zu sehen. Für die Auslegung des letztgenannten Ausschlussgrundes seien die in den westlichen Besatzungszonen geltenden Maßstäbe zugrunde zu legen, die Mitwirkung an Zwangssterilisationen sei jedoch in den westlichen Besatzungszonen nicht generell verfolgt worden. Auch später habe man darin kein typisch nationalsozialistisches Unrecht gesehen. Dafür, dass Dr. S. seine Bereitschaft zur Mitwirkung am Erbgesundheitsgericht erklärt habe, gebe es in den Akten keine Anhaltspunkte. Das Verwaltungsgericht habe ferner nicht ermittelt, ob Dr. S. jeweils für die Sterilisation gestimmt habe. Ebenso wenig habe es berücksichtigt, dass in einem der Fälle der Beschluss auf Antrag des Betroffenen selbst ergangen sei und in den anderen beiden Fällen die Anträge vom Vormund gestellt worden seien. Eine Sterilisation könne aber nur dann als menschenverachtend angesehen werden, wenn sie gegen den erklärten oder mutmaßlichen Willen des Betroffenen oder des Vormunds erfolgt sei. Außerdem hätte das Verwaltungsgericht prüfen müssen, ob die Beschlüsse auch vollzogen worden seien. Somit habe das Verwaltungsgericht die Tatsachen verfahrensfehlerhaft nicht hinreichend gewürdigt. Auch soweit die Entscheidung auf die erfolgreiche Wahrnehmung von Parteiämtern auf unterer und mittlerer Ebene gestützt sei, habe sich das Gericht mit Vermutungen begnügt. Nach der Gesetzesbegründung sollten nur die Hauptverantwortlichen von Ausgleichsleistungen ausgeschlossen sein. Hierunter falle die hauptamtliche Ausübung wesentlicher Parteifunktionen, Dr. S. sei aber nur ehrenamtlich tätig gewesen. Keine der von ihm ausgeübten Funktionen führe nach der Kontrollratsdirektive Nr. 38 zur Einordnung als Hauptschuldiger. Sein Dienstrang als SA-Sanitätsstandartenarzt sei nicht ohne Weiteres mit dem nichtärztlicher SA-Mitglieder vergleichbar.
10 Die Beklagte tritt der Revision entgegen.
11 Die Vertreterin des Bundesinteresses beim Bundesverwaltungsgericht beteiligt sich am Verfahren. Sie hält das erstinstanzliche Urteil ebenfalls für zutreffend und trägt vor: Dr. S. habe durch seine Beteiligung an NS-Erbgesundheitssachen gegen die Grundsätze der Menschlichkeit und Rechtsstaatlichkeit verstoßen. Er habe NS-Zwangssterilisationen als Richter angeordnet und als Arzt durchgeführt. Dabei sei Dr. S. nicht nur an den drei bislang aktenkundigen Beschlüssen beteiligt gewesen. Nach einer ersten Sichtung der bisher nur in Teilen ausgewerteten Aktenbestände seien 22 Fälle nachweisbar, in denen er an der Anordnung der zwangsweisen Sterilisation von Erbkranken mitgewirkt habe. Darüber hinaus habe er solche Operationen in wenigstens 12 Fällen nachweislich auch selbst vorgenommen. Dr. S. habe außerdem dadurch gegen die Grundsätze der Menschlichkeit und Rechtsstaatlichkeit verstoßen, dass er aus ideologischen Gründen ihm anvertrauten Patientinnen eine Behandlung nach den Regeln der ärztlichen Kunst verweigert habe. Er habe von Kollegen jüdischen Glaubens entwickelte Behandlungsmethoden abgelehnt und dadurch bei der Geburtshilfe zahlreiche unnötige Todesfälle verursacht.
II
12 Die Revision der Kläger ist unbegründet. Die Entscheidung des Verwaltungsgerichts entspricht der Rechtslage. Die Kläger können schon deshalb nicht die Rückgabe von Kunstgegenständen verlangen, weil Dr. S. durch seine langjährige Tätigkeit als Bezirks- und Gauredner der NSDAP dem nationalsozialistischen System erheblichen Vorschub geleistet hat.
13 Nach § 1 Abs. 1 AusglLeistG erhalten natürliche Personen, die Vermögenswerte im Sinne des § 2 Abs. 2 des Vermögensgesetzes durch entschädigungslose Enteignungen auf besatzungsrechtlicher oder besatzungshoheitlicher Grundlage in dem in Artikel 3 des Einigungsvertrages genannten Gebiet (Beitrittsgebiet) verloren haben, oder ihre Erben oder weiteren Erben (Erbeserben) eine Ausgleichsleistung nach Maßgabe dieses Gesetzes. Betrifft diese Enteignung - wie hier - bewegliche, nicht in einen Einheitswert einbezogene Gegenstände, sind sie nach § 5 Abs. 1 Satz 1 AusglLeistG zurückzuübertragen. Auch dieser Rückgabeanspruch steht jedoch unter dem Vorbehalt von § 1 Abs. 4 AusglLeistG. Danach werden Leistungen nach diesem Gesetz unter anderem dann nicht gewährt, wenn der nach den Absätzen 1 und 2 Berechtigte oder derjenige, von dem er seine Rechte ableitet, gegen die Grundsätze der Menschlichkeit oder Rechtsstaatlichkeit verstoßen oder dem nationalsozialistischen System erheblichen Vorschub geleistet hat.
14 Ein solches erhebliches Vorschubleisten hat das Verwaltungsgericht zu Recht in der langjährigen Parteirednertätigkeit von Dr. S. gesehen.
15 1. Grundlage für die Revisionsentscheidung sind gemäß § 137 Abs. 2 VwGO die vom Verwaltungsgericht getroffenen tatsächlichen Feststellungen, die mit durchgreifenden Verfahrensrügen nicht in Zweifel gezogen wurden. Demgegenüber müssen die von der Vertreterin des Bundesinteresses erstmals im Revisionsverfahren angeführten weiteren Umstände außer Betracht bleiben. Es liegt keiner der Fälle vor, in denen das Revisionsgericht ausnahmsweise neues tatsächliches Vorbringen selbst würdigen kann.
16 Die von der Vertreterin des Bundesinteresses vorgetragenen neuen Umstände sind keine völlig unstreitigen Tatsachen, die nicht weiter beweisbedürftig wären (vgl. etwa Urteil vom 23. Januar 1993 - BVerwG 1 C 16.87 - Buchholz 310 § 121 VwGO Nr. 64 m.w.N.). Es handelt sich namentlich weder um allgemeinkundige Tatsachen noch um Geschichtstatsachen. Eine Tatsache ist nicht allein deshalb allgemeinkundig, weil sie sich durch allgemein zugängliche Quellen belegen lässt; das wird schon daraus deutlich, dass sich aus ebenso allgemein zugänglichen Quellen auch häufig das Gegenteil wird belegen lassen. Keines Beweises bedürfen allerdings geschichtliche Tatsachen, die in der Öffentlichkeit als feststehend erachtet werden oder sich aus allgemein zugänglichen Quellen ergeben (Urteil vom 22. Februar 2001 - BVerwG 7 C 12.00 - BVerwGE 114, 68 <72> m.w.N.). Die konkreten Aktivitäten des Dr. S. als Chefarzt der Frauenklinik von Ch. und beim Erbgesundheitsgericht von Z. während der Zeit des Nationalsozialismus sind jedoch keine Geschichtstatsachen in diesem Sinne. Namentlich war Dr. S. keine Person, deren Werdegang und Tätigkeit Eingang in die Geschichtsbücher gefunden hätten.
17 Die von der Vertreterin des Bundesinteresses vorgetragenen neuen Umstände sind auch nicht geeignet, eine Wiederaufnahme des Verfahrens nach § 153 VwGO i.V.m. § 580 Nr. 7 Buchst. b ZPO zu begründen (vgl. Urteil vom 20. Oktober 1992 - BVerwG 9 C 77.91 - BVerwGE 91, 104 <107> m.w.N.). Nach dieser Vorschrift findet die Restitutionsklage statt, wenn die im Erstprozess unterlegene Partei eine andere Urkunde auffindet oder zu benutzten in den Stand gesetzt wird, die eine ihr günstigere Entscheidung herbeigeführt haben würde. Auf diese Vorschrift kann sich die Vertreterin des Bundesinteresses schon deshalb nicht berufen, weil sie das angefochtene Urteil verteidigt und damit nicht die unterlegene, sondern die obsiegende Partei unterstützt. Zudem ist zweifelhaft, ob die nunmehr präsentierten Urkunden erst nach Abschluss der Tatsacheninstanz im Sinne der Vorschrift „aufgefunden“ wurden. Hierzu zählen nämlich solche Urkunden nicht, die in behördlichen Akten allgemein zugänglich sind (vgl. Beschluss vom 28. Februar 1972 - BVerwG 4 B 101.72 - Buchholz 310 § 153 VwGO Nr. 8), wozu auch die von öffentlichen Stellen geführten Archive gehören. Richtig ist zwar, dass diese Archive erst erschlossen werden müssen und dass erst dies zum Auffinden von Urkunden führen kann. Der Restitutionskläger muss aber geltend machen, dass das Auffinden der Urkunde im früheren Prozess auch bei gehörigem Bemühen nicht möglich war (vgl. § 583 ZPO). Im vorliegenden Falle ist es der Vertreterin des Bundesinteresses gelungen, während des Revisionsverfahrens - in dem sie erstmals mit der Sache befasst war - die nunmehr vorgelegten Urkunden aufzufinden. Es ist unerfindlich, weshalb der Beklagten dies während des vorangegangenen Tatsachenverfahrens nicht möglich gewesen sein soll.
18 2. Der Anspruchsausschluss wegen erheblichen Vorschubleistens nach § 1 Abs. 4 AusglLeistG setzt, wie der Senat in seinen Urteilen vom 17. März 2005 - BVerwG 3 C 20.04 - (BVerwGE 123, 142) und vom 19. Oktober 2006 - BVerwG 3 C 39.05 - entschieden hat, in objektiver Hinsicht voraus, dass nicht nur gelegentlich oder beiläufig, sondern mit einer gewissen Stetigkeit Handlungen vorgenommen wurden, die dazu geeignet waren, die Bedingungen für die Errichtung, die Entwicklung oder die Ausbreitung des nationalsozialistischen Systems zu verbessern oder Widerstand gegen dieses System zu unterdrücken, und dies auch zum Ergebnis hatten. Der Nutzen, den das Regime hieraus gezogen hat, darf nicht nur ganz unbedeutend gewesen sein. Die subjektiven Voraussetzungen des Ausschlusstatbestandes sind erfüllt, wenn die betreffende Person dabei in dem Bewusstsein gehandelt hat, ihr Verhalten könne diesen Erfolg haben.
19 Von diesen Voraussetzungen ist sinngemäß auch das Verwaltungsgericht in seinem bereits vor den Entscheidungen des Senats ergangenen Urteil vom 22. Juli 2004 ausgegangen. Zu Recht hat es in der von Dr. S. seit 1930 ausgeübten Tätigkeit als Bezirks- und Gauredner der NSDAP ein erhebliches Vorschubleisten zugunsten des nationalsozialistischen Systems gesehen.
20 In der NSDAP waren die im Rahmen der sog. aktiven Propaganda eingesetzten Parteiredner nach dem Leistungsprinzip und nach dem Verdienst als sog. alte Kämpfer in die folgenden Kategorien eingeteilt: 1. Reichsredner, 2. Stoßtruppredner und -anwärter, 3. Gauredner, 4. Kreisredner und 5. Fachredner. Die politischen Redner hatten die Aufgabe, der Bevölkerung in öffentlichen Kundgebungen und Versammlungen die nationalsozialistische Weltanschauung sowie die Maßnahmen der nationalsozialistischen Regierung zu vermitteln. Als politische Redner wurden nur solche Parteigenossen bestätigt, die bereits vor der Machtübernahme Mitglied der NSDAP waren und sich damals entweder rednerisch oder als Politische Leiter oder in der SA, SS oder HJ aktiv betätigt hatten (vgl. Organisationsbuch der NSDAP, 5. Aufl. 1938, S. 299). Als Gauredner hatte Dr. S. in der NSDAP somit eine herausgehobene Funktion oberhalb der Kreisebene inne. Seine Tätigkeit als Parteiredner war schon ihrer Natur und Zielrichtung nach auf die Verbreitung der nationalsozialistischen Ideologie ausgerichtet. Es war geradezu ihr Zweck, die Bedingungen für die Errichtung, die Entwicklung oder die Ausbreitung des nationalsozialistischen Systems zu verbessern.
21 Dr. S. hatte diese Funktion nicht etwa nur nominell inne, sondern er hat sie in einer Weise ausgeübt, die den Vorwurf eines erheblichen Vorschubleistens rechtfertigt. Die Erheblichkeitsschwelle ist nach der Rechtsprechung des Senats dann erreicht, wenn ein nicht ganz unbedeutender Nutzen für das System entstanden ist. Aus der Gesetzesbegründung zu § 1 Abs. 4 AusglLeistG, wonach die Hauptverantwortlichen für die Unrechtssysteme von einer Ausgleichsleistung ausgeschlossen werden sollten (vgl. BTDrucks 12/4887, S. 38), ergeben sich keine darüber hinausgehenden Anforderungen. Eine Unterstützung, die den genannten qualifizierten Anforderungen an die Erheblichkeit des Vorschubleistens genügt, rechtfertigt es, den Betreffenden zugleich als Hauptverantwortlichen in diesem Sinne anzusehen (vgl. Urteil vom 17. März 2005 - BVerwG 3 C 20.04 - BVerwGE 123, 142 <146> m.w.N.). Der Betreffende muss für die NSDAP oder eine ihrer Gliederungen nicht notwendigerweise hauptamtlich tätig gewesen sein. Entscheidend sind vielmehr Umfang und Dauer der Tätigkeit, die mit einem Amt oder einer Funktion verbundenen Aufgaben und Befugnisse und der daraus resultierende Nutzen für das nationalsozialistische System. Dies setzt eine umfassende Würdigung der gesamten Umstände des Einzelfalles voraus; die Hauptamtlichkeit der Tätigkeit ist dabei lediglich einer der zu berücksichtigenden Gesichtspunkte.
22 Nach den Feststellungen des Verwaltungsgerichts hat Dr. S. seine Rednertätigkeit bereits im Jahr 1930 aufgenommen; er hat sie auch nach der Übernahme der Leitungsposition in der Staatlichen Frauenklinik 1935/36 noch weiter ausgeübt. Dies konnte das Verwaltungsgericht ohne Verstoß gegen Beweiswürdigungsgrundsätze aus den Unterlagen über eine Veranstaltung im Jahr 1938 und den Angaben von Dr. S. in Personalunterlagen aus dem Jahr 1939 herleiten. Es ist revisionsgerichtlich ebenfalls nicht zu beanstanden, wenn das Verwaltungsgericht hervorhebt, dass der Einsatz von Dr. S. in Beurteilungen des Kreisleiters der NSDAP und des Gauobmanns des NS-Lehrerbundes eine positive Würdigung gefunden hat und dort nachdrücklich sein intensiver Einsatz für die Partei betont wurde. Auf eine im Sinne der NSDAP erfolgreiche Tätigkeit deutet außerdem hin, dass Dr. S. 1938 einen Ausweis als Kreishauptstellenleiter erhalten hat. Für den Dienstrang eines Hauptstellenleiters der zuständigen Kreisleitung der NSDAP konnten Gauredner vorgeschlagen werden, sofern sie vor dem 30. Januar 1933 den Nachweis ihres ständigen Einsatzes für die Bewegung und ihre Befähigung als Redner erbracht hatten (vgl. Organisationsbuch der NSDAP, 5. Aufl. 1938, S. 300). Angesichts dessen musste nicht jeder einzelne Rednereinsatz von Dr. S. nachgewiesen werden. Der von den Klägern gerügte Verstoß gegen den Überzeugungsgrundsatz (§ 108 Abs. 1 VwGO), weil das Verwaltungsgericht seine Überzeugung auf zu schmaler Tatsachengrundlage gebildet hätte, ist daher nicht ersichtlich.
23 Hinzu kommt, dass Dr. S. im Hinblick auf seinen frühen Eintritt in die NSDAP und in die SA, nach seinem Werdegang und seinen dort ausgeübten Funktionen das Bild eines überzeugten Nationalsozialisten bot, der sich auch nach außen engagiert für das nationalsozialistische System eingesetzt hat. Dies bestätigt seine Berufung als mit der Erbgesundheitslehre besonders vertrauter Arzt an ein Erbgesundheitsgericht. Die zum Vollzug des Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses vom 14. Juli 1933 (RGBl I S. 146) eingerichteten Erbgesundheitsgerichte dienten der Umsetzung der NS-Rassenideologie. Mit der Unfruchtbarmachung von als erbkrank angesehenen oder an schwerem Alkoholismus leidenden Personen sollte nach der Gesetzesbegründung (abgedruckt bei Gütt/Rüdin/Ruttke, Zur Verhütung erbkranken Nachwuchses, Gesetz und Erläuterungen, 2. Aufl. 1936, S. 77 ff.) eine „allmähliche Reinigung des Volkskörpers und die Ausmerzung von krankhaften Erbanlagen“ bewirkt werden (s. zum Gesetz und seiner extensiven Anwendung u.a. Bock, Zwangssterilisationen im Nationalsozialismus, 1986; Ganssmüller, Die Erbgesundheitspolitik des Dritten Reichs,1987; Entwurf eines Gesetzes zur Aufhebung von Entscheidungen der ehemaligen Erbgesundheitsgerichte, BTDrucks 13/10284; Pieroth, Die Verfassungsmäßigkeit der Sterilisation Einwilligungsunfähiger im Entwurf für ein Betreuungsgesetz, FamRZ 1990, 117, jeweils m.w.N.). Noch im Jahr 1933 hatte der damalige Reichsinnenminister die Landesregierungen gebeten, als ärztliche Mitglieder nur solche Personen auszuwählen, die hinter dem Sterilisierungsgesetz stehen (vgl. Nachweise bei Ganssmüller, a.a.O., S. 60 f.). Dies deckt sich mit den Ausführungen im offiziellen Kommentar zum Gesetz, dass bei der Auswahl der Ärzte darauf zu achten sei, dass sie auf dem Boden der nationalsozialistischen Weltanschauung stehen (Gütt/Rüdin/Ruttke, a.a.O., S. 224). Dr. S. hat sich somit auch insoweit für die Sache des Nationalsozialismus engagiert.
24 Auch die subjektiven Voraussetzungen des Ausschlusstatbestandes sind erfüllt. Dies ist beim Ausschlussgrund des erheblichen Vorschubleistens dann der Fall, wenn die betreffende Person in dem Bewusstsein gehandelt hat, ihr Handeln könne diesen Erfolg haben, wenn ihr Handeln also dazu bestimmt war (Urteil vom 17. März 2005 - BVerwG 3 C 20.04 - BVerwGE 123, 142 <147>). Es kann schon im Hinblick auf Inhalt und Zielrichtung seiner Propagandatätigkeit als Gauredner kein Zweifel daran bestehen, dass Dr. S. bei seinem Einsatz wissentlich und willentlich zugunsten des nationalsozialistischen Systems tätig geworden ist.
25 Darauf, ob in der Mitwirkung von Dr. S. an drei Sterilisationsentscheidungen des Erbgesundheitsgerichts Z. ebenfalls ein erhebliches Vorschubleisten zugunsten des nationalsozialistischen Systems zu sehen ist und ob er dadurch außerdem gegen die Grundsätze der Menschlichkeit oder Rechtsstaatlichkeit verstoßen hat, kommt es danach nicht mehr an. Ebenso wenig ist noch entscheidungserheblich, ob Dr. S. mit der Übernahme von weiteren Ämtern in der NSDAP, im NS-Ärztebund und in der SA dem nationalsozialistischen System erheblichen Vorschub geleistet hat.
26 Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO.