Beschluss vom 10.10.2012 -
BVerwG 7 VR 11.12ECLI:DE:BVerwG:2012:101012B7VR11.12.0
-
Zitiervorschlag
BVerwG, Beschluss vom 10.10.2012 - 7 VR 11.12 - [ECLI:DE:BVerwG:2012:101012B7VR11.12.0]
Beschluss
BVerwG 7 VR 11.12
In der Verwaltungsstreitsache hat der 7. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
am 10. Oktober 2012
durch den Vorsitzenden Richter am Bundesverwaltungsgericht Dr. Nolte
und die Richter am Bundesverwaltungsgericht Guttenberger und Brandt
beschlossen:
- Der Antrag auf Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung der Klage gegen den Planfeststellungsbeschluss vom 30. April 2012 wird abgelehnt.
- Die Antragstellerin trägt die Kosten des Verfahrens einschließlich der außergerichtlichen Kosten der Beigeladenen.
- Der Wert des Streitgegenstandes wird auf 30 000 € festgesetzt.
Gründe
I
1 Die Antragstellerin ist Eigentümerin eines u.a. mit Wohngebäuden bebauten Anwesens in der Gemeinde L., Ortsteil N., das unmittelbar an die zweigleisige Eisenbahnstrecke 6088 Berlin Gesundbrunnen -Stralsund angrenzt. Sie begehrt vorläufigen Rechtsschutz gegen den eisenbahnrechtlichen Planfeststellungsbeschluss für das Vorhaben „Ausbaustrecke Berlin - Rostock, PRA 1.2 Nassenheide (e) - Löwenberg (e)“, Bahn-km 33,690 - 44,837 vom 30. April 2012. Die beigeladene Vorhabenträgerin will die gesamte Strecke in mehreren Planungsabschnitten ertüchtigen. Mit dem Ausbauvorhaben sollen u.a. die Streckengeschwindigkeit für Personenzüge von 120 km/h auf 160 km/h und die Radsatzlast für den Güterverkehr von 22,5 t auf 25 t erhöht werden. Hierfür sollen die Gleistrassierung unter Beibehaltung der Linienführung überarbeitet, der Erdkörper und der Gleisunterbau abschnittsweise durch den Einbau einer Schutzschicht ertüchtigt sowie die Oberleitungsanlage umgebaut werden. Im Verwaltungsverfahren hatte die Antragstellerin unter Angabe einer unzutreffenden Postadresse der betroffenen Grundstücke Einwendungen gegen die vom Planvorhaben ausgehenden Lärm- und Erschütterungsbelastungen erhoben. Der Planfeststellungsbeschluss gewährt für zwei Wohngebäude auf dem Anwesen der Antragstellerin Anspruch auf passiven Lärmschutz. Das der Strecke am nächsten gelegene Wohnhaus führt er unter den Gebäuden auf, für die die Entscheidung über Schutzvorkehrungen bzw. Entschädigung wegen einer Zunahme der Erschütterungsbelastungen einem weiteren Verfahren vorbehalten wird. Er erlaubt, einen schmalen Grundstücksstreifen während der Bauarbeiten in Anspruch zu nehmen.
2 Mit ihrer gegen den Planfeststellungsbeschluss gerichteten Klage begehrt die Antragstellerin im Hauptantrag dessen Aufhebung sowie hilfsweise dessen Ergänzung um Maßnahmen des aktiven Lärmschutzes und um weitere geeignete Maßnahmen gegen unzumutbare Beeinträchtigungen durch Erschütterungen. Auf Antrag der Antragstellerin hat der beschließende Senat mit Beschluss vom 30. August 2012 - BVerwG 7 VR 6.12 - festgestellt, dass die Klage mangels gesetzlichen Sofortvollzugs aufschiebende Wirkung hat. Daraufhin hat das Eisenbahn-Bundesamt mit Beschluss vom 18. September 2012 die sofortige Vollziehbarkeit des Planfeststellungsbeschlusses nach § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 VwGO angeordnet.
II
3 Der Antrag nach § 80a Abs. 1 Nr. 1, Abs. 3 i.V.m. § 80 Abs. 5 Satz 1 Alt. 2 VwGO auf Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung der Klage, über den gemäß § 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO, § 50 Abs. 1 Nr. 6 VwGO i.V.m. lfd. Nr. 12 der Anlage zu § 18e Abs. 1 AEG (Schienenwege mit erstinstanzlicher Zuständigkeit des Bundesverwaltungsgerichts) das Bundesverwaltungsgericht als Gericht der Hauptsache entscheidet, hat keinen Erfolg.
4 Dabei kann dahinstehen, ob das Rechtsschutzbegehren bereits unzulässig ist, soweit die Antragstellerin mit ihrem Antrag die bauzeitliche Inanspruchnahme ihres Grundstücks vorläufig verhindern will. Die Beigeladene hat gegenüber dem Senat verbindlich erklärt, von der planfestgestellten Inanspruchnahme bis zu einer Entscheidung des Senats in der Hauptsache abzusehen. Ob diese Erklärung das Rechtsschutzbedürfnis für einen abtrennbaren Teil des Antragsbegehrens entfallen lässt, bedarf keiner Entscheidung. Denn der Antrag ist jedenfalls insgesamt unbegründet.
5 Das mit dem Interesse der Beigeladenen gleichgerichtete öffentliche Interesse an der sofortigen Durchführung der planfestgestellten Arbeiten wird in der Anordnung der sofortigen Vollziehung vom 18. September 2012 in einer den Anforderungen des § 80 Abs. 3 Satz 1 VwGO genügenden Weise begründet (1). Im Rahmen einer in erster Linie an den Erfolgsaussichten der Hauptsache ausgerichteten Abwägung überwiegt dieses Interesse das private Interesse der Antragstellerin, vorläufig von den Auswirkungen der Bauarbeiten und des späteren Betriebs der ertüchtigten Eisenbahnstrecke verschont zu bleiben. Denn der Planfeststellungsbeschluss verstößt aller Voraussicht nach nicht gegen Rechtsvorschriften, deren Verletzung die Antragstellerin im Hauptsacheverfahren mit der Folge einer - vollständigen oder teilweisen - Aufhebung des Planfeststellungsbeschlusses oder der Feststellung seiner Rechtswidrigkeit und Nichtvollziehbarkeit geltend machen kann (2). Auch erweist sich die Vollziehung des Planfeststellungsbeschlusses als eilbedürftig (3).
6 1. Der aus § 80 Abs. 3 Satz 1 VwGO folgenden formellen Pflicht, in den Fällen des § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 VwGO das besondere Interesse an der Vollziehung eines Verwaltungsakts schriftlich zu begründen, ist das Eisenbahn-Bundesamt nachgekommen. Es hat sich nicht auf formelhafte Wendungen zurückgezogen, sondern auf den konkreten Einzelfall abstellende tatsächliche Gründe angeführt, die darlegen, warum der angefochtene Planfeststellungsbeschluss aus seiner Sicht sofort und nicht erst nach Eintritt der Bestandskraft vollzogen werden muss. Diese Begründung wird der Informationsfunktion, die dem Begründungserfordernis im Hinblick auf den Adressaten, insbesondere im Interesse einer Einschätzung seiner Rechtsschutzmöglichkeiten zukommt, ebenso gerecht wie der Warnfunktion gegenüber der Behörde selbst, durch die dieser der Ausnahmecharakter der sofortigen Vollziehung vor Augen geführt werden soll (Beschluss vom 30. März 2007 - BVerwG 9 VR 7.07 - AUR 2008, 70 = juris Rn. 4; Külpmann, in: Finkelnburg/Dombert/Külpmann, Vorläufiger Rechtsschutz im Verwaltungsstreitverfahren, 6. Aufl. 2011, Rn. 741, 745 f. m.w.N.).
7 2. Aufgrund der im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes allein möglichen summarischen Prüfung der Sach- und Rechtslage ist nicht zu erkennen, dass die Antragstellerin in der Hauptsache mit ihrem Anfechtungsantrag durchdringen oder - darin als minus enthalten - jedenfalls die Feststellung der Rechtswidrigkeit und Nichtvollziehbarkeit des Planfeststellungsbeschlusses zur Sicherung eines ergänzenden Verfahrens (§ 18e Abs. 6 Satz 2 Halbs. 1 AEG) beanspruchen könnte.
8 Soweit die Antragstellerin sich gegen die bauzeitliche Inanspruchnahme von Teilen ihres Grundstücks wendet, negative Auswirkungen der geplanten Grundwasserabsenkung auf ihren Obstbaumbestand befürchtet und als mit enteignungsrechtlicher Vorwirkung in ihrem Grundeigentum Betroffene allgemein Verstöße gegen dem Schutz der Umwelt dienende Bestimmungen rügt, kann sie mit diesem Vorbringen nicht gehört werden. Die Antragstellerin hat entsprechende Einwendungen innerhalb der in § 18a AEG i.V.m. § 73 Abs. 4 Satz 1 VwVfG bestimmten Frist nach Auslegung der Planunterlagen nicht erhoben. Der hieraus folgende Einwendungsausschluss nach § 18a Nr. 7 Satz 1 AEG wirkt im gerichtlichen Verfahren fort. Er erstreckt sich auf die von der Antragstellerin vermisste Regelung einer Entschädigung für die befürchteten Schäden an den Bäumen. Denn diese könnte ihre Grundlage lediglich in § 74 Abs. 2 Satz 3 VwVfG als Surrogat für Schutzmaßnahmen finden (vgl. zuletzt Urteil vom 10. Juli 2012 - BVerwG 7 A 11.11 - juris Rn. 73).
9 Ohne Erfolg bemängelt die Antragstellerin, dass im Planfeststellungsbeschluss eine Entschädigungspflicht für die Inanspruchnahme des Grundstücks nur dem Grunde nach festgesetzt wird. Denn es bedarf keiner (konstitutiven) Entscheidung der Planfeststellungsbehörde, soweit eine Enteignungsentschädigung in Rede steht (Urteil vom 7. Juli 2004 - BVerwG 9 A 21.03 - Buchholz 406.16 Grundeigentumsschutz Nr. 87 = juris Rn. 21 m.w.N.). Die Entscheidung über die zu gewährende Entschädigung ist gegebenenfalls dem gesondert durchzuführenden Enteignungsverfahren vorbehalten.
10 Was schließlich die von der Antragstellerin in erster Linie gerügte mangelhafte Bewältigung der Belastung ihres Anwesens durch vom Bahnbetrieb herrührenden Lärm und Erschütterungen angeht, spricht zwar - wie der Senat bereits im Beschluss vom 30. August 2012 (BVerwG 7 VR 6.12 , Rn. 8) dargelegt hat - viel dafür, dass die Antragstellerin mit diesem Vorbringen nicht präkludiert ist. Sie kann damit jedoch allenfalls einen Anspruch auf Ergänzung des Planfeststellungsbeschlusses um die geforderten Maßnahmen des aktiven Lärmschutzes sowie des Erschütterungsschutzes beanspruchen, was sie mit ihrem Hilfsantrag insoweit sachdienlich verfolgt. Dass die rechtliche Bewertung der verkehrsbedingten Immissionen hier abweichend von der Regel ausnahmsweise zur Aufhebung des Planfeststellungsbeschlusses führen könnte, ist weder dargetan noch sonst ersichtlich. Ein solcher Anspruch besteht nämlich nur dann, wenn aufgrund einer unbewältigten Lärm- oder Erschütterungsbelastung die fachplanerische Abwägung insgesamt oder bezogen auf einen abtrennbaren Planungsteil wegen mangelnder Ausgewogenheit keinen Bestand mehr haben könnte, weil sich eine konzeptionell andere Planungsentscheidung aufgedrängt hätte (vgl. etwa Beschluss vom 24. Januar 2012 - BVerwG 7 VR 13.11 - juris Rn. 15 und Urteil vom 15. Dezember 2011 - BVerwG 7 A 11.10 - UPR 2012, 301 = juris Rn. 17, jeweils m.w.N.). Hierfür ist aber nichts ersichtlich. Zum einen geht es um die Ertüchtigung einer Bestandsstrecke. Zum anderen fällt ausweislich der vorliegenden Unterlagen die prognostizierte Zunahme der Lärmbelastung eher gering aus; entsprechendes gilt für die Erschütterungen.
11 Hinsichtlich der Erschütterungsbelastung der nicht in die Regelung nach Ziff. A.4.7.2 des Planfeststellungsbeschlusses einbezogenen Gebäude G. Weg ... und ... kann einem Verweis auf ein Verpflichtungs- bzw. Anordnungsbegehren nicht entgegengehalten werden, dass es hier angesichts der maßgeblichen Berücksichtigung der Vorbelastung und der Wahrnehmungsschwelle von 25 % auf jeden Fall messtechnischer Untersuchungen oder Beweissicherungsmessungen vor Durchführung der Bauarbeiten bedürfe. Ob solche Erwägungen überhaupt eine Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung der Klage rechtfertigen könnten, kann hier dahinstehen. Denn die fehlende Einbeziehung der Gebäude, die im Unterschied zu dem in der Vorbehaltsregelung berücksichtigten Wohnhaus nicht unmittelbar neben den Streckengleisen stehen, sondern ausweislich der Lagepläne etwa 50 m entfernt sind, ist aller Voraussicht nach nicht zu beanstanden. Die dem Planfeststellungsbeschluss insoweit zugrunde liegende erschütterungstechnische Untersuchung vom 18. Januar 2011 stellt darauf ab, dass der vorgesehene Einbau eines stabilen Tragschichtsystems und die durchgängige Änderung der Oberbauform trotz möglicher Änderungen des Betriebsprogramms tendenziell zu einer Verringerung der Erschütterungen führen. Sie geht aufgrund einer zu einem weiter nördlich liegenden Streckenabschnitt durchgeführten Untersuchung, bei der die wesentlichen Randbedingungen vergleichbar gewesen seien, von einem „Betroffenheitskorridor“ aus, der Gebäude erfasst, die in einem geringeren Abstand als 30 m zum nächstgelegenen Streckengleis stehen (S. 29 f.). Das ist, wenn wie hier das Signifikanzkriterium zu beachten ist, nicht zu beanstanden (vgl. Urteil vom 21. Dezember 2010 - BVerwG 7 A 14.09 - NVwZ 2011, 676 Rn. 24).
12 3. Das Vorhaben ist auch eilbedürftig, was das besondere Vollziehungsinteresse rechtfertigt. Es ist nicht zu beanstanden, dass das Eisenbahn-Bundesamt darauf verweist, dass wichtige Verkehrslinien nur während eines zwingend erforderlichen Zeitraums unterbrochen werden sollen und die Bauplanung verlässlich bleiben soll. Die Erwägung, dass sich die Dringlichkeit auch aus den zeitlichen Vorgaben für eine Mitfinanzierung durch die Europäische Union ergeben kann, begegnet ebenfalls keinen Bedenken. Der Einwand der Antragstellerin, dass eine planmäßige Fertigstellung des Vorhabens ohnehin wegen Unwägbarkeiten bei der Finanzierung ungesichert sei, ist in keiner Weise belegt.
13 Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 und 3, § 162 Abs. 3 VwGO.
14 Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 53 Abs. 2 Nr. 2, § 52 Abs. 1 GKG.