Beschluss vom 30.08.2012 -
BVerwG 7 VR 6.12ECLI:DE:BVerwG:2012:300812B7VR6.12.0
Leitsatz:
Ein Planfeststellungsbeschluss für ein Vorhaben, das in der Anlage (zu § 1) des Gesetzes über den Ausbau der Schienenwege des Bundes (BSWAG) unter „Teil 3 Internationale Projekte“ aufgeführt ist, ist nur dann kraft Gesetzes sofort vollziehbar (§ 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 Alt. 1 VwGO i.V.m. § 18e Abs. 2 Satz 1 AEG), wenn die Aufnahme in den vordringlichen Bedarf (Teil 1 Buchst. b lfd. Nr. 31 der Anlage) verlautbart worden ist.
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Rechtsquellen
VwGO § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 AEG § 18e Abs. 2 Satz 1 BSWAG § 1 -
Zitiervorschlag
BVerwG, Beschluss vom 30.08.2012 - 7 VR 6.12 - [ECLI:DE:BVerwG:2012:300812B7VR6.12.0]
Beschluss
BVerwG 7 VR 6.12
In der Verwaltungsstreitsache hat der 7. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
am 30. August 2012
durch den Vorsitzenden Richter am Bundesverwaltungsgericht Dr. Nolte und
die Richter am Bundesverwaltungsgericht Krauß und Brandt
beschlossen:
- Die Klage der Antragstellerin gegen den Planfeststellungsbeschluss des Eisenbahn-Bundesamtes vom 30. April 2012 hat aufschiebende Wirkung.
- Die Antragsgegnerin und die Beigeladene tragen die Gerichtskosten und die außergerichtlichen Kosten der Antragstellerin je zur Hälfte; im Übrigen tragen die Beteiligten ihre außergerichtlichen Kosten selbst.
- Der Wert des Streitgegenstandes wird auf 30 000 € festgesetzt.
Gründe
I
1 Die Antragstellerin ist Eigentümerin eines u.a. mit Wohngebäuden bebauten Anwesens in der Gemeinde L., das unmittelbar an die zweigleisige Eisenbahnstrecke 6088 Berlin Gesundbrunnen - Stralsund angrenzt. Sie begehrt vorläufigen Rechtsschutz gegen den eisenbahnrechtlichen Planfeststellungsbeschluss für das Vorhaben „Ausbaustrecke Berlin - Rostock, PRA1.2 Nassenheide (e) - Löwenberg (e)“, Bahn-km 33,690 - 44,837 vom 30. April 2012. Die beigeladene Vorhabenträgerin will die gesamte Strecke in mehreren Planungsabschnitten ertüchtigen. Mit dem Ausbauvorhaben sollen u.a. die Streckengeschwindigkeit für Personenzüge von 120 km/h auf 160 km/h und die Radsatzlast für den Güterverkehr von 22,5 t auf 25 t erhöht werden. Hierfür sollen die Gleistrassierung unter Beibehaltung der Linienführung überarbeitet, der Erdkörper und der Gleisunterbau abschnittsweise durch den Einbau einer Schutzschicht ertüchtigt sowie die Oberleitungsanlage umgebaut werden. Im Verwaltungsverfahren hatte die Antragstellerin unter Angabe einer unzutreffenden Adresse Einwendungen gegen die vom Planvorhaben ausgehenden Lärm- und Erschütterungsbelastungen erhoben. Nach dem Planfeststellungsbeschluss besteht für das Grundstück der Antragstellerin ein Anspruch auf passiven Lärmschutz. Mit ihrer gegen den Planfeststellungsbeschluss gerichteten Klage begehrt die Antragstellerin im Hauptantrag dessen Aufhebung sowie hilfsweise dessen Ergänzung um Maßnahmen des aktiven Lärmschutzes und um weitere geeignete Maßnahmen gegen unzumutbare Beeinträchtigungen durch Erschütterungen.
II
2 1. Über den Antrag auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes entscheidet nach § 50 Abs. 1 Nr. 6 VwGO in Verbindung mit lfd. Nr. 12 der Anlage zu § 18e Abs. 1 AEG - Schienenwege mit erstinstanzlicher Zuständigkeit des Bundesverwaltungsgerichts - sowie § 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO (analog) das Bundesverwaltungsgericht als Gericht der Hauptsache.
3 Die Antragstellerin begehrt nach § 80 Abs. 5 Satz 1 Alt. 1 VwGO die Anordnung der aufschiebenden Wirkung ihrer Klage. Der so gefasste Antrag ist allerdings nicht statthaft. Denn der angefochtene Planfeststellungsbeschluss ist nicht von Gesetzes wegen sofort vollziehbar.
4 Nach § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 Alt. 1 VwGO in Verbindung mit § 18e Abs. 2 Satz 1 AEG hat die Anfechtungsklage gegen einen Planfeststellungsbeschluss für den Bau oder die Änderung von Betriebsanlagen der Eisenbahnen des Bundes nur dann keine aufschiebende Wirkung, wenn für das betreffende Vorhaben nach dem Bundesschienenwegeausbaugesetz vordringlicher Bedarf festgestellt ist. Das ist hier - soweit ersichtlich - nicht der Fall. Der Planfeststellungsbeschluss verweist unter B.6 (S. 150) lediglich darauf, dass in der Anlage (zu § 1) des Gesetzes über den Ausbau der Schienenwege des Bundes - Bundesschienenwegeausbaugesetz - (BSWAG) (vom 15. November 1993, BGBl I S. 1874, zuletzt geändert durch Verordnung vom 31. Oktober 2006, BGBl I S. 2407) das Vorhaben „ABS Berlin - Rostock (- Skandinavien) (2. Baustufe)“ unter „3. Internationale Projekte“ als lfd. Nr. 4 eingestellt ist. Die dem vordringlichen Bedarf zugeordneten Vorhaben sind jedoch ausschließlich unter Teil 1 Vordringlicher Bedarf - getrennt nach laufenden und fest disponierten Vorhaben (a) und nach neuen Vorhaben (b) - aufgeführt. In Teil 1 Buchst. b findet sich zwar unter der lfd. Nr. 31 eine Öffnungsklausel, indem dort „Internationale Projekte gemäß Teil 3 nach Vorliegen der Voraussetzungen“ erwähnt werden. In den einleitenden Bemerkungen zu Teil 3 wird hierzu ausgeführt, dass zum Ausbau dieser Strecken eine Vereinbarung mit den jeweils betroffenen Nachbarländern erforderlich ist. Zur Aufnahme dieser Strecken in den Vordringlichen Bedarf bzw. den Weiteren Bedarf müssen außerdem die üblichen Kriterien erfüllt werden. Der Senat vermag jedoch nicht zu erkennen, dass die hiernach erforderliche Aufnahme in den vordringlichen Bedarf stattgefunden hat. Es spricht zwar viel dafür, dass hierfür eine gesetzgeberische Entscheidung, wie sie § 4 Abs. 1 BSWAG für die Anpassung und Aufstellung eines Bedarfsplans vorschreibt (siehe Bundesverkehrswegeplan 2003, BTDrucks 15/2050 S. 11, Ziff. 3.2.5, sowie BTDrucks 15/1656 S. 7), nicht erforderlich ist. Denn die internationalen Projekte in Teil 3 sind, wenn auch unter dem Vorbehalt weiterer Prüfung, dem Bedarf bereits zugeordnet. Für die Aufnahme in den vordringlichen Bedarf mag dann grundsätzlich eine Verwaltungsentscheidung ausreichen. Die rechtlichen Kriterien für eine solche Zuweisung, die mit dem Verweis auf die üblichen Voraussetzungen umschrieben werden, werden durch die entsprechenden Erläuterungen im Bundesverkehrswegeplan 2003 (BTDrucks 15/2050) präzisiert. So muss das Ergebnis einer Prüfung der wirtschaftlichen Rentabilität positiv ausfallen. Die wirtschaftliche Vorteilhaftigkeit des Vorhabens, die Grundlage für die Einteilung in die Dringlichkeitsstufe ist, wird nach dem Nutzen-Kosten-Verhältnis bestimmt; daneben treten strukturpolitische Gründe nach der Raumwirksamkeitsanalyse sowie die Ergebnisse der Umweltrisiko- und der FFH-Verträglichkeitseinschätzung (siehe BTDrucks 15/2050 S. 16 Ziff. 3.4.6, 3.4.6.1, S. 35 Ziff. 7.1, S. 42 Ziff. 7.2.3; im Anschluss daran Gesetzentwurf der Bundesregierung, Entwurf eines Ersten Gesetzes zur Änderung des Bundesschienenwegeausbaugesetzes, BTDrucks 15/1656 S. 10, S. 15 Ziff. 1.1.2, S. 16 Ziff. 3). Jedenfalls muss die Aufnahme aber verlautbart werden, weil mit ihr eine für den gerichtlichen Rechtsschutz wesentliche Weichenstellung verbunden ist. Auf eine solche Verlautbarung nehmen die Beteiligten nicht Bezug.
5 Fehlt es demnach am gesetzlichen Sofortvollzug, kann die Antragstellerin gerichtlichen Rechtsschutz, der angesichts der von der Beigeladenen bereits ins Werk gesetzten Bauarbeiten geboten ist, sachdienlich in entsprechender Anwendung des § 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO mit einem Antrag auf Feststellung der aufschiebenden Wirkung der Klage erreichen (vgl. schon Beschluss vom 17. Dezember 1965 - BVerwG 2 C 32.65 - Buchholz 232 § 44 BBG Nr. 8 S. 21 sowie Finkelnburg/Dombert/Külpmann, Vorläufiger Rechtsschutz im Verwaltungsstreitverfahren, 6. Aufl. 2011, Rn. 1040 ff., 1047 m.w.N.).
6 2. Dieser Antrag hat Erfolg, denn der von der Klägerin fristgerecht erhobenen Klage kommt nach der Grundregel des § 80 Abs. 1 Satz 1 VwGO aufschiebende Wirkung zu. Anderes käme hier nur dann in Betracht, wenn die Klage mangels Klagebefugnis (§ 42 Abs. 2 VwGO) unzulässig wäre (Urteil vom 30. Oktober 1992 - BVerwG 7 C 24.92 - Buchholz 310 § 137 VwGO Nr. 175, <juris Rn. 21>; vgl. auch Puttler, in: Sodan/Ziekow, VwGO, 3. Aufl. 2008, § 80 Rn. 31 f.; Finkelnburg/Dombert/Külpmann, a.a.O. Rn. 646 ff., 650). An der Klagebefugnis fehlt es, wenn der Anfechtende nicht geltend machen kann, durch den angefochtenen Verwaltungsakt in seinen Rechten verletzt zu sein, wenn also offensichtlich und eindeutig nach keiner Betrachtungsweise die vom Kläger behaupteten Rechte bestehen oder ihm zustehen können (stRspr, siehe etwa Urteile vom 13. Juli 1973 - BVerwG 7 C 6.72 - BVerwGE 44, 1 <2 f.> = Buchholz 442.07 § 1 FeO Nr. 1 S. 2 f., vom 17. Juni 1993 - BVerwG 3 C 3.89 - BVerwGE 92, 313 <315 f.> = Buchholz 451.74 § 10 KHG Nr. 4 S. 3 und vom 16. Juni 2011 - BVerwG 4 CN 1.10 - BVerwGE 140, 41 <45> = Buchholz 310 § 47 VwGO Nr. 182 S. 41). Diese engen Voraussetzungen liegen hier nicht vor.
7 Die Antragstellerin wendet sich in erster Linie gegen die Belastung ihres Anwesens durch den vom Bahnbetrieb herrührenden Lärm und die Erschütterungen sowie gegen die zeitweilige Inanspruchnahme von Teilen eines ihrer Grundstücke während der Bauphase und die hierauf bezogenen Entschädigungsregelungen.
8 Die damit verbundene Möglichkeit der Geltendmachung einer Verletzung in eigenen Rechten, insbesondere dem Eigentumsrecht, kann nicht unter Hinweis auf den in § 18a Nr. 7 Satz 1 AEG geregelten und im gerichtlichen Verfahren fortwirkenden Einwendungsausschluss verneint werden, der an die Obliegenheit anknüpft, innerhalb der in § 18a AEG in Verbindung mit § 73 Abs. 4 Satz 1 VwVfG bestimmten Frist Einwendungen zu erheben. Es ist nämlich zweifelhaft, ob - wie die Beigeladene meint - der Beachtlichkeit des Einwendungsschreibens der Verfahrensbevollmächtigten der Antragstellerin vom 20. April 2011 die Angabe einer unzutreffenden Adresse des betroffenen Grundstücks entgegensteht. Denn das Schreiben verweist zum einen auf die Lage des Grundstücks unmittelbar an der Eisenbahnstrecke und nimmt zum anderen Bezug auf ein beigefügtes - soweit ersichtlich aber nicht zu den Verfahrensakten genommenes - Lichtbild, aus dem sich diese räumliche Situation ergeben soll. Für die Beigeladene musste sich das Vorliegen eines diesbezüglichen Irrtums demnach aufdrängen. Das führt dazu, dass der Antragstellerin die Möglichkeit, eine Verletzung in eigenen Rechten geltend zu machen, nicht offenkundig und nach jeder erdenklichen Betrachtungsweise wegen Einwendungsausschlusses abzusprechen ist. Angesichts dessen kann offen bleiben, ob ein umfassender Einwendungsausschluss ausnahmsweise nicht erst auf der Ebene der Begründetheitsprüfung zu berücksichtigen ist, sondern schon die Klagebefugnis entfallen lässt.
9 Soweit die Antragstellerin eine unzureichende Bewältigung der Lärmproblematik rügt, gilt zwar in der Regel, dass hieraus allenfalls ein Anspruch auf Ergänzung des Planfeststellungsbeschlusses um aktive oder passive Lärmschutzmaßnahmen folgt, den die Antragstellerin mit ihrem Hilfsantrag insoweit sachdienlich verfolgt. Auch insofern ist indessen ein Aufhebungsanspruch als Ansatzpunkt der aufschiebenden Wirkung der Klage nicht von vornherein ausgeschlossen; ein solcher Anspruch besteht nämlich dann, wenn aufgrund einer unbewältigten Lärmbelastung die gesamte fachplanerische Abwägung wegen mangelnder Ausgewogenheit keinen Bestand mehr haben könnte (vgl. zuletzt Beschluss vom 24. Januar 2012 - BVerwG 7 VR 13.11 - juris Rn. 15 m.w.N.). Darüber ist ebenfalls im Rahmen der Prüfung der Begründetheit der Klage zu entscheiden. Entsprechendes gilt für den Erschütterungsschutz.
10 Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 und 3, § 159 Satz 1 VwGO in Verbindung mit § 100 Abs. 1 ZPO. Die Voraussetzungen des § 154 Abs. 3 VwGO liegen vor, denn der im Klageverfahren ausdrücklich gestellte Abweisungsantrag gilt entsprechend für das Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes.
11 Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 53 Abs. 2 Nr. 2, § 52 Abs. 1 GKG.