Verfahrensinformation

Gegenstand des Revisionsverfahrens 2 C 7.24 ist eine Prüfung im Bachelor-Studiengang "Polizeivollzugsdienst" an der Hochschule der Sächsischen Polizei. Der Kläger bestand die schriftliche Modulprüfung "Rechts- und Handlungsgrundlagen zur Gewährleistung der Verkehrssicherheit" beim ersten Versuch nicht. Ende August 2018 nahm der Kläger an der Wiederholungsprüfung teil und erzielte im Modulteil "Verkehrsrecht" 49,5 von 50 möglichen Punkten. Der Prüfungsausschuss der Hochschule beschloss allerdings die Annullierung der Wiederholungsprüfung mit der Begründung, die Prüfungsaufgaben seien dem Kreis der Teilnehmer der Wiederholungsprüfung bekannt gewesen, sodass die Prüfung nach dem Grundsatz der Chancengleichheit zu wiederholen sei. Der Kläger bestand auch die weitere Wiederholungsprüfung des Moduls nicht. Dementsprechend stellte die Hochschule das endgültige Nichtbestehen der Prüfung und die Beendigung des Studiums fest.


Das Verwaltungsgericht hat die Klage des Klägers, mit der in der Sache anstrebt, den Beklagten unter Aufhebung der Bescheide zu der Feststellung zu verpflichten, dass er die Wiederholungsprüfung bestanden hat, durch Gerichtsbescheid abgewiesen. Demgegenüber hat das Oberverwaltungsgericht den Gerichtsbescheid geändert und der Klage stattgegeben. Zur Begründung hat es im Wesentlichen ausgeführt, zwar sei bei der hier gegebenen Prüfungssituation, in der eine Klausur unbeabsichtigt einem größeren Teilnehmerkreis bekannt gewesen sei, die Annullierung der Prüfung geboten. Die Annullierung der ersten Wiederholungsprüfung sei aber rechtswidrig, weil die maßgebliche Ausbildungs- und Prüfungsordnung die für die Annullierung einer Prüfung erforderlichen Regelungen nicht enthalte. Die Annullierung einer Prüfung sei ein Eingriff in die Berufsfreiheit des Prüflings i. S. v. Art. 12 GG, der eine normative Grundlage voraussetze, an der es hier jedoch fehle. Ein Rückgriff auf den aus Art. 3 Abs. 1 GG abgeleiteten Grundsatz der Chancengleichheit als Rechtsgrundlage für die Annullierung der Wiederholungsprüfung scheide aus, weil dieser Grundsatz nur zugunsten des Prüflings angewendet werden könne.


Die weiteren Revisionsverfahren betreffen dieselbe Rechtsfrage.


Beschluss vom 02.05.2024 -
BVerwG 2 B 29.23ECLI:DE:BVerwG:2024:020524B2B29.23.0

  • Zitiervorschlag

    BVerwG, Beschluss vom 02.05.2024 - 2 B 29.23 - [ECLI:DE:BVerwG:2024:020524B2B29.23.0]

Beschluss

BVerwG 2 B 29.23

  • VG Dresden - 06.05.2022 - AZ: 11 K 759/19
  • OVG Bautzen - 13.06.2023 - AZ: 2 A 301/22

In der Verwaltungsstreitsache hat der 2. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
am 2. Mai 2024
durch den Vorsitzenden Richter am Bundesverwaltungsgericht Dr. Kenntner und die Richter am Bundesverwaltungsgericht Dr. Hartung und Dr. Hissnauer
beschlossen:

  1. Die Entscheidung des Sächsischen Oberverwaltungsgerichts über die Nichtzulassung der Revision in seinem Urteil vom 13. Juni 2023 wird aufgehoben.
  2. Die Revision wird zugelassen.
  3. Die Entscheidung über die Kosten des Beschwerdeverfahrens folgt der Entscheidung in der Hauptsache.
  4. Der Wert des Streitgegenstandes wird für das Revisionsverfahren vorläufig auf 7 500 € festgesetzt.

Gründe

1 Die Beschwerde des Beklagten ist zulässig. Bei der Einreichung und Begründung der Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision hat der Beklagte die Formvorgaben des § 55a Abs. 2 VwGO i. V. m. § 2 Abs. 1 Satz 1 ERVV beachtet.

2 Die Beschwerde ist auch begründet.

3 Das vom Beklagten angegriffene Urteil des Oberverwaltungsgerichts betrifft eine Klage aus dem Beamtenverhältnis. Nach § 127 Nr. 2 BRRG und § 63 Abs. 3 Satz 2 BeamtStG kann die Revision deshalb auch darauf gestützt werden, dass das angefochtene Urteil auf der Verletzung von Landesrecht beruht. Dementsprechend ist die hier maßgebliche Verordnung des Sächsischen Staatsministeriums des Innern über Ausbildung, Studium und Prüfung für die Laufbahnen der Fachrichtung Polizei vom 3. August 2015 (SächsGVBl. S. 471 - SächsAPOPol) revisibel.

4 Die Sache hat auch grundsätzliche Bedeutung (§ 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO). Das Verfahren gibt dem Bundesverwaltungsgericht Gelegenheit zur weiteren Klärung der Reichweite des Vorbehalts des Gesetzes im Prüfungsrecht insbesondere bei Annullierung einer Prüfung wegen objektiver Ungeeignetheit einer schriftlichen Prüfungsaufgabe.

5 Die vorläufige Festsetzung des Werts des Streitgegenstands für das Revisionsverfahren beruht auf § 63 Abs. 1 Satz 1, § 47 Abs. 1 Satz 1, § 52 Abs. 1 GKG und Ziff. 36.1 des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit 2013.

Rechtsbehelfsbelehrung


Das Beschwerdeverfahren wird als Revisionsverfahren unter dem Aktenzeichen BVerwG 2 C 7.24 fortgesetzt. Der Einlegung einer Revision durch den Beschwerdeführer bedarf es nicht.
Die Revision ist innerhalb eines Monats nach Zustellung dieses Beschlusses zu begründen. Die Begründung ist bei dem Bundesverwaltungsgericht in Leipzig einzureichen.
Für die Beteiligten besteht Vertretungszwang; dies gilt auch für die Begründung der Revision. Die Beteiligten müssen sich durch Bevollmächtigte im Sinne von § 67 Abs. 4 Satz 3 bis 6 VwGO, § 5 Nr. 6 Alt. 2 RDGEG vertreten lassen.

Urteil vom 05.12.2024 -
BVerwG 2 C 7.24ECLI:DE:BVerwG:2024:051224U2C7.24.0

Ermächtigungsgrundlage zur Annullierung eines Teils einer beamtenrechtlichen Laufbahnprüfung

Leitsatz:

Fehlt in einer Prüfungsordnung eine ausdrückliche Ermächtigung, wonach der Prüfungsausschuss auch von Amts wegen anordnen kann, dass eine Prüfung ganz oder teilweise zu wiederholen ist, wenn das Prüfungsverfahren mit Mängeln behaftet ist, kann deren Annullierung zur Wahrung der Chancengleichheit aller Prüfungsteilnehmer sowie zur Gewährleistung der Gesetzmäßigkeit der öffentlichen Verwaltung auf die entsprechende Anwendung des § 48 VwVfG gestützt werden.

  • Rechtsquellen
    VwVfG §§ 2 und 48
    BeamtStG § 63
    BRRG § 127
    SächsVwVfZG § 2
    SächsAPOPol F2015 §§ 13, 15, 19, 38, 42 und 44

  • VG Dresden - 06.05.2022 - AZ: 11 K 759/19
    OVG Bautzen - 13.06.2023 - AZ: 2 A 301/22

  • Zitiervorschlag

    BVerwG, Urteil vom 05.12.2024 - 2 C 7.24 - [ECLI:DE:BVerwG:2024:051224U2C7.24.0]

Urteil

BVerwG 2 C 7.24

  • VG Dresden - 06.05.2022 - AZ: 11 K 759/19
  • OVG Bautzen - 13.06.2023 - AZ: 2 A 301/22

In der Verwaltungsstreitsache hat der 2. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
auf die mündliche Verhandlung vom 5. Dezember 2024
durch den Vorsitzenden Richter am Bundesverwaltungsgericht Dr. Kenntner,
die Richter am Bundesverwaltungsgericht Dr. von der Weiden und Dr. Hartung,
die Richterin am Bundesverwaltungsgericht Hampel und
den Richter am Bundesverwaltungsgericht Dr. Hissnauer
für Recht erkannt:

  1. Das Urteil des Sächsischen Oberverwaltungsgerichts vom 13. Juni 2023 wird aufgehoben.
  2. Die Berufung des Klägers gegen den Gerichtsbescheid des Verwaltungsgerichts Dresden vom 6. Mai 2022 wird zurückgewiesen.
  3. Der Kläger trägt die Kosten des Berufungs- und des Revisionsverfahrens.

Gründe

I

1 Gegenstand des Verfahrens ist die Annullierung einer Prüfung im Vorbereitungsdienst für den Erwerb einer Laufbahnbefähigung.

2 Der ... geborene Kläger wurde mit Wirkung zum 1. Oktober 2015 unter Berufung in das Beamtenverhältnis auf Widerruf zum Polizeikommissar-Anwärter ernannt und begann den Vorbereitungsdienst für den Erwerb der Laufbahnbefähigung für die erste Einstiegsebene der Laufbahngruppe 2 im Schwerpunkt Polizeivollzugsdienst. Ende März 2018 bestand der Kläger die schriftliche Modulprüfung M 9 ("Rechts- und Handlungsgrundlagen zur Gewährleistung der Verkehrssicherheit") nicht, die Voraussetzung für den Erwerb der Laufbahnbefähigung ist.

3 Am 28. August 2018 nahm der Kläger an der ersten Wiederholungsprüfung teil; im Modulteil "Verkehrsrecht" erreichte er 49,5 Punkte und im Modulteil "Verkehrslehre" 35 Punkte von jeweils 50 möglichen Punkten. Der Kläger wurde hierüber mündlich informiert. Der Prüfungsbescheid und die Urkunde über den Abschluss des Grundstudiums im Bachelor-Studiengang wurden dem Kläger aber nicht übersandt, weil der Prüfungsausschuss der Hochschule am 27. September 2018 die Annullierung dieser Prüfung beschlossen hatte. Mit Bescheid vom 1. Oktober 2018 wurde dem Kläger die Annullierung der Wiederholungsprüfung mit der Begründung mitgeteilt, die Prüfungsaufgaben seien den Teilnehmern der Wiederholungsprüfung bekannt gewesen. Der Kläger erhob Widerspruch, über den nicht entschieden wurde. Die von der Hochschule anberaumte zweite Wiederholungsprüfung bestand der Kläger nicht. Den hiergegen erhobenen Widerspruch wies der Beklagte zurück.

4 Die auf die Aufhebung des Bescheids vom 1. Oktober 2018 gerichtete Klage hat das Verwaltungsgericht mit der Begründung abgewiesen, zwar sei weder der maßgeblichen Prüfungsordnung noch dem allgemeinen Beamtenrecht eine ausdrückliche Grundlage für die Annullierung der ersten Wiederholungsprüfung zu entnehmen, diese könne jedoch auf den allgemeinen prüfungsrechtlichen Grundsatz der Chancengleichheit gestützt werden. Auf die Berufung des Klägers hat das Oberverwaltungsgericht den Gerichtsbescheid des Verwaltungsgerichts geändert, den Bescheid des Beklagten vom 1. Oktober 2018 aufgehoben und den Beklagten verpflichtet festzustellen, dass der Kläger die am 28. August 2018 abgelegte Wiederholungsprüfung bestanden hat. Zur Begründung hat es im Wesentlichen ausgeführt: Grundsätzlich sei bei der zugrundeliegenden Prüfungssituation, in der eine Klausur unbeabsichtigt einem größeren Teilnehmerkreis bekannt gewesen sei, die Annullierung der Prüfung geboten. Dies sei aber ein Eingriff in die Berufsfreiheit des Prüflings, der eine normative Grundlage voraussetze. Der maßgeblichen Prüfungsordnung sei eine Ermächtigung jedoch nicht zu entnehmen. Der prüfungsrechtliche Grundsatz der Chancengleichheit aller Teilnehmer einer Prüfung wirke nur zugunsten eines Prüflings und scheide als Rechtsgrundlage für einen Eingriff in die grundrechtlich geschützte Rechtsposition eines Prüfungsteilnehmers aus.

5 Hiergegen richtet sich die vom Senat wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache zugelassene Revision des Beklagten, mit der er beantragt,
das Urteil des Sächsischen Oberverwaltungsgerichts vom 13. Juni 2023 aufzuheben und die Berufung des Klägers gegen den Gerichtsbescheid des Verwaltungsgerichts Dresden vom 6. Mai 2022 zurückzuweisen.

6 Der Kläger beantragt,
die Revision zurückzuweisen.

II

7 Die Revision des Beklagten ist begründet. Das Berufungsurteil verletzt revisibles Recht. Zu Unrecht hat das Oberverwaltungsgericht den Bescheid der Hochschule vom 1. Oktober 2018 über die Annullierung der Wiederholungsprüfung vom 28. August 2018 mit der Begründung aufgehoben, es fehle an der erforderlichen Rechtsgrundlage. Die Sächsische Ausbildungs- und Prüfungsordnung für die Fachrichtung Polizei regelt die erforderliche Grundlage zwar nicht (1.). Auch eine unmittelbare Anwendung von § 2 Abs. 1 SächsVwVfZG und § 2 Abs. 3 Nr. 2 sowie § 48 VwVfG scheidet aus, weil die Bewertung einer einzelnen Modulprüfung und ihre mündliche Bekanntgabe gegenüber dem Prüfling nicht als Verwaltungsakt anzusehen sind (2.). Allerdings kann die Annullierung auf die entsprechende Anwendung der § 2 Abs. 1 SächsVwVfZG und § 2 Abs. 3 Nr. 2 sowie § 48 VwVfG gestützt werden (3.). Die hierfür erforderlichen Voraussetzungen liegen vor, weil die Klausur nicht den Anforderungen an § 15 Abs. 3 SächsAPOPol F2015 entsprach und die Wiederholungsprüfung damit rechtswidrig war (4.). Damit ist die Annullierung der Wiederholungsprüfung im Modul M 9 nicht zu beanstanden (5.).

8 Rechtsgrundlage für die streitige Annullierung ist die zum Zeitpunkt der ersten Wiederholungsprüfung vom August 2018 für die Laufbahnprüfung maßgebliche Verordnung des Sächsischen Staatsministeriums des Innern über Ausbildung, Studium und Prüfung für die Laufbahnen der Fachrichtung Polizei vom 3. August 2015 (SächsGVBl. S. 471), zuletzt geändert durch die Verordnung vom 26. Juli 2017 (SächsGVBl. S. 413 - SächsAPOPol F2015). Soweit die Vorschriften dieser Verordnung die vom Kläger abzulegende Laufbahnprüfung betreffen, sind sie revisibles Recht, weil sie materiell dem Landesbeamtenrecht zuzurechnen sind. Auch nach Aufhebung der Bundeskompetenz für den Erlass von Rahmenrecht bestimmt das auf Art. 74 Abs. 1 Nr. 1 GG gestützte Bundesrecht (vgl. BVerfG, Beschluss vom 2. Februar 1960 - 2 BvF 5/58 - BVerfGE 10, 285 <292, 301 f.> und BVerwG, Urteil vom 29. April 2010 - 2 C 77.08 - BVerwGE 137, 30 Rn. 6) in § 191 Abs. 2 VwGO und § 63 Abs. 3 Satz 2 BeamtStG i. V. m. § 127 Nr. 2 BRRG für eine Klage aus dem Beamtenverhältnis, dass die Revision gegen das Urteil eines Oberverwaltungsgerichts auch auf die Verletzung von Landesrecht gestützt werden kann. Der Regelungsgegenstand der Vorschriften der Verordnung steht in einem sachlichen Zusammenhang mit den Besonderheiten des Beamtenverhältnisses und bezieht sich auf einen beamtenrechtlichen Kontext (vgl. BVerwG, Urteile vom 23. Juni 2016 - 2 C 18.15 - Buchholz 421.20 Hochschulpersonalrecht Nr. 58 Rn. 26 ff. m. w. N. und vom 28. Juni 2018 - 2 C 14.17 -‌ Buchholz 11 Art. 33 Abs. 5 GG Nr. 148 Rn. 17). Dies gilt insbesondere deshalb, weil die hier maßgeblichen Regelungen der Sächsischen Ausbildungs- und Prüfungsordnung für die Fachrichtung Polizei unmittelbar Auswirkungen auf das Statusverhältnis des Beamten haben. Sie regeln die Prüfung für den Erwerb der Laufbahnbefähigung für die erste Einstiegsebene der Laufbahngruppe 2 im Schwerpunkt Polizeivollzugsdienst (§§ 1 bis 21 und 34 bis 45 SächsAPOPol F2015).

9 1. Die Annullierung der ersten Wiederholungsprüfung unter Hinweis auf einen irregulären Prüfungsverlauf nach Abschluss der schriftlichen Prüfungsleistung, ihrer Bewertung durch den Erstkorrektor und der mündlichen Mitteilung des positiven Ergebnisses an den Kläger bedarf wegen ihrer Auswirkungen auf die grundrechtlich geschützte Rechtsposition des Prüflings nach Art. 12 Abs. 1 GG einer normativen Grundlage. Bei erfolgreichem Abschluss auch des Moduls M 9 hätte der Kläger nach § 44 Abs. 1 SächsAPOPol F2015 die Laufbahnprüfung mit der Folge bestanden, dass er wie die erfolgreichen Teilnehmer seines Ausbildungsjahrgangs zum 1. Oktober 2018 zum Probebeamten ernannt worden wäre.

10 Die hier noch maßgebliche Fassung der Ausbildungs- und Prüfungsordnung regelt in § 19 lediglich die Folgen unlauteren Verhaltens eines Prüfungsteilnehmers, das allerdings zu einer Bewertung der betreffenden Prüfungsleistung mit "ungenügend" (0 Punkte) führt. Diese Vorschrift ist hier nicht heranzuziehen. Weder hat die Hochschule ein unlauteres Verhalten des Klägers nach § 19 Abs. 1 und 2 SächsAPOPol F2015 angenommen noch ist die erste Wiederholungsprüfung mit "ungenügend" bewertet worden.

11 Zwar kennt das Recht des Freistaates Sachsen in anderen Bereichen Regelungen, wonach der Prüfungsausschuss auch von Amts wegen anordnen kann, dass von Prüfungsteilnehmern eine Prüfung ganz oder teilweise zu wiederholen ist, wenn das Prüfungsverfahren mit Mängeln behaftet war, die die Chancengleichheit erheblich verletzt haben (vgl. z. B. § 10 Abs. 1 der Sächsischen Juristenausbildungs- und Prüfungsordnung vom 13. September 2021, SächsGVBl. S. 1124, oder § 29 Abs. 1 der Sächsischen Ausbildungs- und Prüfungsordnung allgemeiner Verwaltungsdienst und sozialwissenschaftlicher Dienst vom 19. Januar 2017, SächsGVBl. S. 20). Die hier maßgebliche Fassung der Sächsischen Ausbildungs- und Prüfungsordnung für die Fachrichtung Polizei sieht eine solche Regelung aber nicht vor.

12 Anderes folgt auch nicht aus dem Umstand, dass der Freistaat die Ausbildungs- und Prüfungsordnung für die Fachrichtung der Polizei am 6. August 2024 neu erlassen hat (SächsGVBl. S. 771). Diese Fassung entfaltet keine Rückwirkung und erfasst mit der Regelung über unlauteres Verhalten in ihrem § 31 Abs. 4 auch nicht den hier vorliegenden Fall. Denn die dort geregelte Ermächtigung zur Annullierung einer bereits durchgeführten Prüfung setzt voraus, dass eine Vielzahl von Prüflingen die Möglichkeit hatte, die Prüfungsaufgaben und Lösungen "unberechtigterweise" im Vorfeld der Prüfung zur Kenntnis zu nehmen. Den tatsächlichen Feststellungen im Verfahren ist zu entnehmen, dass die Teilnehmer der ersten Wiederholungsprüfung ihre Kenntnisse über die Lösungsskizze den Aussagen des Klausurstellers im regulären Unterricht entnommen haben, sodass eine unberechtigte Kenntnisnahme nicht gegeben ist.

13 Die beschriebenen Regelungslücken und Unterschiede zwischen den Prüfungsordnungen verschiedener Rechtsgebiete eines Landes ließen sich vermeiden, wenn eine allgemeine Prüfungsordnung bestünde (vgl. zur Rechtslage in Bayern § 34 Abs. 1 der Allgemeinen Prüfungsordnung in der Fassung der Bekanntmachung vom 14. Februar 1984, GVBl. S. 76 für Prüfungen im Sinne des Leistungslaufbahngesetzes).

14 2. Die unmittelbare Anwendung der § 2 Abs. 1 SächsVwVfZG und § 2 Abs. 3 Nr. 2 sowie § 48 VwVfG auf die Bewertung der Klausur und die Mitteilung des Ergebnisses der ersten Wiederholungsprüfung im Modul M 9 "Rechts- und Handlungsgrundlagen zur Gewährleistung der Verkehrssicherheit" scheidet aus. Die jeweilige Prüfungsordnung bestimmt, ob die Benotung einer einzelnen Prüfungsleistung Regelungsqualität i. S. v. § 35 Satz 1 VwVfG zukommt (BVerwG, Urteil vom 23. Mai 2012 - 6 C 8.11 - Buchholz 421.0 Prüfungswesen Nr. 413 Rn. 14). Nach der hier maßgeblichen Ausbildungs- und Prüfungsordnung ist die Bewertung einer einzelnen Modulprüfung und ihre mündliche Bekanntgabe nicht auf eine unmittelbare Rechtswirkung nach außen gerichtet. Nach § 44 Abs. 1 SächsAPOPol F2015 ist selbst der erfolgreiche Abschluss sämtlicher Module nur eine von mehreren Voraussetzungen für das Bestehen der Laufbahnprüfung.

15 3. Die Annullierung der ersten Wiederholungsprüfung kann aber auf die entsprechende Anwendung der § 2 Abs. 1 SächsVwVfZG und § 2 Abs. 3 Nr. 2 sowie § 48 VwVfG gestützt werden. Nach § 2 Abs. 1 SächsVwVfZG ist § 2 Abs. 3 Nr. 2 VwVfG für die Tätigkeit der Schulen und Hochschulen, die auf einer Leistungsbeurteilung beruhen, entsprechend anwendbar. Heranzuziehen sind danach auch die §§ 40 bis 52 VwVfG.

16 Wie dargelegt, wird dem Prüfungsteilnehmer im Hinblick auf die von ihm bereits erbrachte und für das Bestehen der Prüfung ausreichende Prüfungsleistung, deren Bewertung ihm bereits mitgeteilt worden ist, unter Verweis auf Art. 12 Abs. 1 GG eine schutzwürdige Rechtsposition mit der Folge zugebilligt, dass für die Annullierung dieser Prüfung eine ausreichende normative Grundlage gegeben sein muss. Ausgehend von der Annahme einer solchen Rechtsposition sind andererseits grundsätzlich auch diejenigen Vorschriften des allgemeinen Verwaltungsrechts heranzuziehen, die den Grundsatz der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung im Hinblick auf den Bestand von objektiv rechtswidrigen Vergünstigungen gewährleisten. Bei rechtswidrigem Handeln einer Behörde im Bereich der Leistungsbeurteilung in Form eines Verwaltungsakts gewährleisten § 2 Abs. 1 SächsVwVfZG und § 2 Abs. 3 Nr. 2 sowie § 48 VwVfG den Ausgleich zwischen dem Grundsatz der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung und dem Vertrauen des vom rechtswidrigen Verwaltungsakt Betroffenen oder Begünstigten. Hat die Verwaltung nicht in der Form des Verwaltungsakts gehandelt, ist zum Schutz des Betroffenen eine entsprechende Anwendung dieser Vorschriften geboten. Denn das Maß und die Wirksamkeit der Rechtsschutzgewährung richten sich nicht nach der von der Behörde gewählten Handlungsform, sondern nach der Intensität und der Dauer des staatlichen Rechtseingriffs (vgl. BVerfG, Urteil vom 18. Juli 2005 - 2 BvR 2236/04 - BVerfGE 113, 273 <310 f.> und Beschluss vom 30. Juni 2015 - 2 BvR 1282/11 - BVerfGE 139, 321 Rn. 128 ff.). Auch in anderen Bereichen des Dienstrechts werden die gesetzlichen Vorgaben für die Aufhebung von Verwaltungsakten zum Schutz des Betroffenen auf solche behördlichen Maßnahmen entsprechend angewendet, die nicht als Verwaltungsakt qualifiziert werden (z. B. BVerwG, Urteil vom 17. März 2016 - 2 A 4.15 - Buchholz 232.0 § 21 BBG 2009 Nr. 4 Rn. 16 zur Rechtmäßigkeit der Aufhebung einer bereits eröffneten dienstlichen Beurteilung). Weitergehenden Schutz als für Verwaltungsakte vorgesehen sieht die deutsche Rechtsordnung für Realakte nicht vor.

17 4. Die analoge Anwendung der § 2 Abs. 1 SächsVwVfZG und § 2 Abs. 3 Nr. 2 sowie § 48 Abs. 1 VwVfG bedingt die Rechtswidrigkeit des konkreten Verwaltungshandelns der Hochschule. Diese Voraussetzung ist erfüllt, weil die von der Hochschule für die erste Wiederholungsprüfung vom 28. August 2018 ausgegebene Klausur nach Maßgabe des § 15 Abs. 3 SächsAPOPol F2015 als Prüfungsaufgabe nicht geeignet ist. Die Bewertung der schriftlichen Bearbeitung dieser "Aufgabe" mit der nach § 5 Abs. 1 SächsAPOPol F2015 erforderlichen Mindestnote von 5,00 Punkten - oder besser - kann nicht das Bestehen des Moduls M 9 "Rechts- und Handlungsgrundlagen zur Gewährleistung der Verkehrssicherheit" i. S. v. § 38 Nr. 9 SächsAPOPol F2015 zur Folge haben. Dementsprechend stellt die Bewertung dieser Klausur und die mündliche Mitteilung der Hochschule gegenüber dem Kläger, er habe dieses Modul in der Wiederholungsprüfung bestanden, rechtswidriges Verwaltungshandeln dar.

18 § 15 Abs. 3 SächsAPOPol F2015 gibt vor, dass die Prüfungsaufgaben geheim zu halten und für jeden Prüfungstag getrennt in verschlossenen Umschlägen aufzubewahren sind und dass das Aufsichtspersonal den Umschlag zu Beginn der Prüfung in Gegenwart der Prüfungsteilnehmer zu öffnen hat. Danach liegt nur dann eine "Prüfungsaufgabe" i. S. v. § 15 Abs. 3 SächsAPOPol F2015 vor, wenn sie objektiv dazu geeignet ist, den Kenntnisstand der Kandidaten im jeweiligen Fachbereich tatsächlich zu überprüfen. Die Prüflinge müssen gehalten sein, die im Studium erworbenen theoretischen Kenntnisse auf einen ihnen unbekannten Sachverhalt anzuwenden und vertretbare Lösungen zu entwickeln. Konnten die Teilnehmer aufgrund von Äußerungen des Klausurstellers im regulären Unterricht auf den Gegenstand der Prüfung schließen und war ihnen infolgedessen die Lösungsskizze bekannt, können diese Kenntnisse und Fähigkeiten nicht abgeprüft werden.

19 Ungeachtet der Frage, ob die tatsächliche Feststellung des Oberverwaltungsgerichts zutrifft, die für die Wiederholungsprüfung gestellte Klausur sei unbeabsichtigt einem größeren Teilnehmerkreis bekannt geworden, ist jedenfalls aufgrund des Verweises im Berufungsurteil nach § 117 Abs. 3 Satz 2 VwGO davon auszugehen, dass den Teilnehmern der Wiederholungsprüfung die Lösungsskizze der Aufgabe im Modulteil "Verkehrsrecht" aufgrund der Angaben des für die Auswahl der Klausur zuständigen Dozenten im Detail bekannt war. Der Kläger hat in der Klageschrift selbst eingeräumt, die Lösungsskizze der im November 2017 besprochenen Übungsklausur, die mit der Prüfungsaufgabe in Bezug auf den Sachverhalt und den relevanten Straftatbeständen identisch ist, auswendig gelernt zu haben.

20 Bei der Bewertung der Klausur der Wiederholungsprüfung mit einer für das Bestehen des Moduls M 9 ausreichenden Punktzahl nach § 5 Abs. 1 SächsAPOPol F2015 und der mündlichen Bekanntgabe dieser Bewertung an den Kläger handelt es sich um eine begünstigende Maßnahme, sodass die Annullierung in entsprechender Anwendung des § 48 Abs. 1 Satz 2 VwVfG nur unter den Einschränkungen der Absätze 2 bis 4 zulässig ist. Allerdings liegt kein Fall des § 48 Abs. 2 VwVfG vor, sodass es auf die Vorgaben des § 48 Abs. 3 VwVfG ankommt, die hier jedoch nicht von Bedeutung sind. Die Frist des § 48 Abs. 4 VwVfG ist eingehalten.

21 5. Die gewählte Rechtsfolge der "Annullierung" der ersten Wiederholungsprüfung entspricht den für das Prüfungsrecht anerkannten Grundsätzen. Da es sich bereits um einen Fehler im Verfahren zur Ermittlung der Leistungen handelt, scheiden die bloße Änderung des Bewertungsmaßstabs oder die Zugrundelegung fiktiver Leistungen aus. Zur Beseitigung des Fehlers kommt von vornherein nur die Wiederholung der Prüfung in Betracht, weil eine zuverlässige Grundlage für die Ermittlung der tatsächlichen Kenntnisse und Fähigkeiten der Prüflinge fehlt und die Chancengleichheit aller Prüfungsteilnehmer verletzt ist (vgl. BVerwG, Beschluss vom 16. April 1980 - 7 B 58.80 - Buchholz 421.0 Prüfungswesen Nr. 127 und Fischer/​Jeremias/​Dieterich, Prüfungsrecht, 8. Aufl. 2022, Rn. 498 ff.).

22 Es ist auch nicht zu beanstanden, dass der Prüfungsausschuss der Hochschule, dem die Entscheidung nach § 13 Abs. 2 Satz 1 SächsAPOPol F2015 obliegt, die gesamte Wiederholungsprüfung des Moduls M 9 annulliert hat, obwohl lediglich die Lösungsskizze der Klausur zum Modulteil "Verkehrsrecht" bekannt war. Die Frage der Teilbarkeit einer Prüfung richtet sich nach dem jeweils maßgeblichen Prüfungsrecht (BVerwG, Urteil vom 19. Dezember 2001 - 6 C 14.01 -‌ Buchholz 421.0 Prüfungswesen Nr. 400 <39 ff.> und Beschluss vom 24. Juni 1983 - 7 B 80.83 - Buchholz 421.0 Prüfungswesen Nr. 177 <136>). Die Prüfung Modul M 9 besteht entsprechend § 42 Abs. 1 Satz 1 SächsAPOPol F2015 aus den Teilen "Verkehrsrecht" und "Verkehrslehre". Wie sich der Regelung in § 38 Nr. 9 SächsAPOPol F2015 entnehmen lässt, versteht die Prüfungsordnung diese mehrere Lehrinhalte abbildende Modulprüfung als eine Einheit.

23 Die Annullierung der ersten Wiederholungsprüfung vom August 2018 gewährleistet zum einen die Chancengleichheit derjenigen Angehörigen des Prüfungsjahrgangs des Klägers, die die ursprüngliche Klausur des Moduls M 9 vom März 2018 oder die zweite Wiederholungsklausur vom Februar 2019 ohne Kenntnis der jeweiligen Lösungsskizze bestanden haben. Zum anderen sichert die Annullierung die Funktionsfähigkeit der öffentlichen Verwaltung im Bereich des Polizeivollzugsdienstes. Die Gewährleistung der Verkehrssicherheit ist ein zentraler Bereich der Tätigkeit von Polizeivollzugsbeamten. Ohne Annullierung könnte der Kläger infolge des Bestehens der Laufbahnprüfung im Bereich der Verkehrssicherheit als Polizeivollzugsbeamter tätig werden, obwohl durch die Ergebnisse von zwei regelrecht durchgeführten Prüfungen des Moduls M 9 belegt ist, dass seine Kenntnisse über die Rechts- und Handlungsgrundlagen zur Gewährleistung der Verkehrssicherheit nicht den Mindestanforderungen genügen. Dementsprechend kann die dem Prüfungsausschuss der Hochschule nach § 13 Abs. 2 Satz 1 SächsAPOPol F2015 obliegende Ermessensentscheidung über die Annullierung der Prüfung in entsprechender Anwendung des § 48 Abs. 1 VwVfG nicht beanstandet werden.

24 Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO.