Urteil vom 03.08.2004 -
BVerwG 1 C 29.02ECLI:DE:BVerwG:2004:030804U1C29.02.0
Leitsätze:
1. Türkische Staatsangehörige, die ein Aufenthaltsrecht nach dem ARB 1/80 besitzen, dürfen nach den einschlägigen gemeinschaftsrechtlichen Grundsätzen nur noch auf der Grundlage einer ausländerbehördlichen Ermessensentscheidung gemäß §§ 45, 46 AuslG ausgewiesen werden. § 47 AuslG scheidet als Rechtsgrundlage aus (Änderung der bisherigen Rechtsprechung).
2. Für die gerichtliche Überprüfung von Ausweisungen türkischer Staatsangehöriger, die nach dem ARB 1/80 aufenthaltsberechtigt sind, ist auf die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung oder Entscheidung des Tatsachengerichts abzustellen (Änderung der bisherigen Rechtsprechung).
3. Liegen erhebliche neue Tatsachen vor, haben die Tatsachengerichte der Ausländerbehörde in gemeinschaftsrechtskonformer Anwendung von § 114 Satz 2 VwGO Gelegenheit zur Aktualisierung der Ermessensentscheidung zu geben (wie Urteil vom gleichen Tag im Verfahren BVerwG 1 C 30.02 ).
4. In allen zurzeit anhängigen und bis zum 31. Januar 2005 anhängig werdenden Verwaltungsstreitverfahren von nach dem ARB 1/80 aufenthaltsberechtigten türkischen Staatsangehörigen, die im Wege einer Ist- oder Regelausweisung nach § 47 Abs. 1 und 2 AuslG ausgewiesen worden sind, ist den Ausländerbehörden mit Rücksicht auf die Änderung der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts auch Gelegenheit zu geben, eine danach erforderliche Ermessensentscheidung nachzuholen.
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Rechtsquellen
AuslG §§ 45, 46, 47, 48 VwGO § 86 Abs. 1, § 114 Satz 2 EG(EGV i.d. Amsterdamer Fassung) Art. 39 Richtlinie 64/221/EWG Art. 3, 9 Beschluss Nr. 1/80 des Assoziationsrats EWG-Türkei über die Entwicklung der Assoziation - ARB 1/80 - Art. 6, 7, 14 EMRK Art. 8 -
Instanzenzug
OVG Münster - 07.08.2001 - AZ: OVG 18 A 2065/96 -
OVG für das Land Nordrhein-Westfalen - 07.08.2001 - AZ: OVG 18 A 2065/96
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Zitiervorschlag
BVerwG, Urteil vom 03.08.2004 - 1 C 29.02 - [ECLI:DE:BVerwG:2004:030804U1C29.02.0]
Urteil
BVerwG 1 C 29.02
- OVG Münster - 07.08.2001 - AZ: OVG 18 A 2065/96 -
- OVG für das Land Nordrhein-Westfalen - 07.08.2001 - AZ: OVG 18 A 2065/96
In der Verwaltungsstreitsache hat der 1. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
auf die mündliche Verhandlung vom 3. August 2004
durch die Richter am Bundesverwaltungsgericht Dr. M a l l m a n n , H u n d
und R i c h t e r , die Richterin am Bundesverwaltungsgericht B e c k und
den Richter am Bundesverwaltungsgericht Prof. Dr. D ö r i g
für Recht erkannt:
- Der Beschluss des Oberverwaltungsgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen vom 7. August 2001 wird aufgehoben.
- Die Sache wird zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das Oberverwaltungsgericht zurückverwiesen.
- Die Entscheidung über die Kosten bleibt der Schlussentscheidung vorbehalten.
I
Der Kläger, ein türkischer Staatsangehöriger, wendet sich gegen seine Ausweisung aus Deutschland.
Der im März 1959 geborene Kläger reiste im Herbst 1977 nach Deutschland ein, nachdem er in der Türkei das Abitur gemacht hatte. Er erhielt hier eine Aufenthaltserlaubnis zu Studienzwecken. 1980 wurde ihm eine Aufenthaltserlaubnis zur Aufnahme einer Erwerbstätigkeit erteilt. Der Kläger übte nach eigenen Angaben wechselnde unselbständige Tätigkeiten aus. Etwa ab 1983 war er wohl im Auto- und Autoersatzteilhandel mit der Türkei tätig. 1983 erhielt der Kläger eine unbefristete Aufenthaltserlaubnis, 1986 eine Aufenthaltsberechtigung. Aus seiner 1980 geschlossenen und inzwischen geschiedenen Ehe mit einer türkischen Staatsangehörigen sind zwei Kinder hervorgegangen, die im Bundesgebiet, jedoch nicht bei ihm leben.
Im Oktober 1990 wurde der Kläger wegen unerlaubter Einfuhr von mehr als zwölf Kilogramm Heroin an der deutsch-österreichischen Grenze festgenommen. Das Landgericht Passau verurteilte ihn wegen dieses Betäubungsmitteldelikts zu einer Freiheitsstrafe von zwölf Jahren. Der Kläger verbrachte bis Ende 1998 mehr als acht Jahre in Haft. Nach seinen Angaben im Revisionsverfahren ist der Kläger seit einem Jahr ununterbrochen erwerbstätig.
Mit Ordnungsverfügung vom 8. September 1992 wies der Beklagte den Kläger aus. Den Widerspruch des Klägers wies die Bezirksregierung Düsseldorf mit Bescheid vom 9. Juli 1993 zurück. Die vom Kläger hiergegen erhobene Klage hat das Verwaltungsgericht im Februar 1996 abgewiesen. Die Berufung des Klägers hat das Oberverwaltungsgericht ohne mündliche Verhandlung durch Beschluss vom 7. August 2001 zurückgewiesen. Zur Begründung hat es im Wesentlichen ausgeführt: Die Rechtmäßigkeit der Ausweisung sei nach der im Zeitpunkt der letzten Behördenentscheidung geltenden Sach- und Rechtslage zu beurteilen. Auszugehen sei von einer zwingenden Ausweisung gemäß § 47 Abs. 1 Nr. 1 AuslG. Da dem Kläger der besondere Ausweisungsschutz nach § 48 Abs. 1 AuslG zukomme, könne er nur aus schwerwiegenden Gründen der öffentlichen Sicherheit und Ordnung ausgewiesen werden. Solche schwerwiegenden Gründe seien hier unter spezialpräventiven Gesichtspunkten gegeben. Der Ausweisungsschutz bewirke weiterhin, dass der Ist-Ausweisungstatbestand zu einem Regel-Ausweisungstatbestand herabgestuft werde (§ 47 Abs. 3 Satz 1 AuslG). Gründe, die für einen Ausnahmefall im Sinne des § 48 Abs. 1 Satz 2 oder des § 47 Abs. 3 AuslG sprächen, lägen nicht vor. Atypische Besonderheiten ergäben sich insbesondere nicht aus den durch Art. 6 Abs. 1 GG geschützten Beziehungen des Klägers zu seiner - inzwischen von ihm geschiedenen - Ehefrau und seinen Kindern. Auch der Gesichtspunkt einer möglicherweise in der Türkei erfolgenden Doppelbestrafung führe nicht zu einem Abgehen vom Regelfall. Dies folge bereits aus der gesetzlichen Systematik, nach der gemäß § 53 Abs. 5 AuslG die Gefahr einer strafrechtlichen Verfolgung im Ausland eine Abschiebung nicht hindere. Es könne offen bleiben, ob dies auch dann gelte, wenn dem Kläger eine unter jedem Gesichtspunkt unangemessen harte Bestrafung drohe. Dies sei nach Abschaffung der Todesstrafe in der Türkei und der dort vorgesehenen Anrechnung einer im Ausland verbüßten Haftstrafe nicht der Fall.
Es könne dahinstehen, ob der Kläger Assoziationsberechtigter im Sinne der Art. 6 oder 7 des Beschlusses Nr. 1/80 des Assoziationsrats EWG-Türkei - ARB 1/80 - sei. Denn seine Ausweisung genüge auch den Anforderungen, die das gemäß Art. 14 Abs. 1 ARB 1/80 auf Assoziationsberechtigte anwendbare Gemeinschaftsrecht an die Ausweisung eines Gemeinschaftsangehörigen bzw. Assoziationsberechtigten stelle. Die vom Gemeinschaftsrecht geforderte Rechtfertigung der Ausweisung aus Gründen der öffentlichen Ordnung und Sicherheit sei gegeben, da der weitere Aufenthalt des Klägers im Bundesgebiet zu einer tatsächlichen und hinreichend schweren, das Grundinteresse der Gesellschaft berührenden Gefährdung führe. Das Gemeinschaftsrecht verlange nicht die Einräumung eines Ermessensspielraumes auf Seiten der Ausländerbehörde. Auch Art. 8 EMRK stehe der Ausweisung des Klägers nicht entgegen.
Hiergegen wendet sich der Kläger mit seiner Revision. Er verweist insbesondere auf die neuere Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften.
Der Beklagte tritt der Revision entgegen.
Der Vertreter des Bundesinteresses teilt im Wesentlichen die Rechtsauffassung des Beklagten.
II
Der Senat konnte trotz Ausbleibens des Beteiligten zu 1 in der mündlichen Verhandlung über die Revision verhandeln und entscheiden, weil in der Ladung darauf hingewiesen worden ist (§ 102 Abs. 2 VwGO).
Die Revision des Klägers ist begründet.
Die Entscheidung des Berufungsgerichts verletzt Bundesrecht (§ 137 Abs. 1 VwGO).
Zu Unrecht hat es die Abweisung der Klage auch für den Fall bestätigt, dass sich der Kläger auf ein Aufenthaltsrecht nach dem Beschluss Nr. 1/80 des Assoziationsrats EWG-Türkei über die Entwicklung der Assoziation - ARB 1/80 - berufen kann. Dann nämlich wäre die Ausweisung an zusätzlichen - über die bisherige Rechtsprechung auch des Bundesverwaltungsgerichts hinausreichenden - Anforderungen des Gemeinschaftsrechts (1.) zu messen. Das Berufungsgericht hätte deshalb nicht offen lassen dürfen, ob dem Kläger ein assoziationsrechtliches Aufenthaltsrecht zusteht. Da die Ausweisung im Übrigen nicht gegen innerstaatliches Recht verstößt (2.), kann der Senat in der Sache nicht abschließend entscheiden. Das Berufungsurteil ist daher aufzuheben und die Sache zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das Berufungsgericht zurückzuverweisen (§ 144 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 VwGO).
1. Aufgrund der Entscheidung des Gerichtshofes der Europäischen Gemeinschaften - EuGH - vom 29. April 2004 (Rs. C-482/01 und C-493/01 - Orfanopoulos und Oliveri - DVBl 2004, 876) ist auch bei türkischen Staatsangehörigen, die sich auf ein Aufenthaltsrecht nach dem ARB 1/80 berufen können, von veränderten gemeinschaftsrechtlichen Anforderungen an eine Ausweisung auszugehen. Diese Entscheidung bezieht sich zwar auf freizügigkeitsberechtigte Unionsbürger. Sie ist jedoch hinsichtlich ihrer materiellrechtlichen Grundsätze auf türkische Staatsangehörige zu übertragen, die ein assoziationsrechtliches Aufenthaltsrecht nach dem ARB 1/80 besitzen.
Welche rechtlichen Folgerungen sich aus der genannten Entscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften für die Ausweisung freizügigkeitsberechtigter Unionsbürger aus Deutschland ergeben und welche rechtlichen Maßstäbe nunmehr zugrunde zu legen sind, hat der Senat in seiner Entscheidung vom heutigen Tag, die einen portugiesischen Staatsangehörigen betrifft, im Einzelnen ausgeführt (Urteil vom 3. August 2004 - BVerwG 1 C 30.02 -, zur Veröffentlichung in der Entscheidungssammlung des Bundesverwaltungsgerichts vorgesehen). Die Entscheidung des Senats lässt sich dahin zusammenfassen, dass die in § 47 Abs. 1 und 2 AuslG geregelten Tatbestände einer zwingenden Ausweisung und einer Regelausweisung insoweit als Rechtsgrundlagen ausscheiden. Freizügigkeitsberechtigte Unionsbürger dürfen nach den einschlägigen gemeinschaftsrechtlichen Grundsätzen nur aufgrund einer ausländerbehördlichen Ermessensentscheidung nach §§ 45, 46 AuslG ausgewiesen werden. Erforderlich ist eine einzelfallbezogene Prüfung, die vom persönlichen Verhalten des Unionsbürgers ausgeht. Die dabei anzustellende Gefahrenprognose hat sich auf spezialpräventive Gesichtspunkte zu beschränken und darf sich nicht allein an einer strafgerichtlichen Verurteilung orientieren. Darüber hinaus hängt die Rechtmäßigkeit der Ausweisung eines Unionsbürgers davon ab, ob das öffentliche Interesse am Schutz der öffentlichen Ordnung im Sinne des Art. 39 Abs. 3 EG das private Interesse des Unionsbürgers an seinem Verbleib im Bundesgebiet deutlich überwiegt. Dem gemeinschaftsrechtlichen Grundsatz der Verhältnismäßigkeit kommt besondere Bedeutung zu. Maßgeblicher Zeitpunkt für die Beurteilung der Rechtmäßigkeit der Ausweisungsverfügung ist der Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung vor dem Tatsachengericht. Die Tatsachengerichte sind demnach im Rahmen der ihnen nach § 86 Abs. 1 VwGO obliegenden Aufklärungspflicht gehalten zu prüfen, ob die behördliche Gefahrenprognose und die Ermessensentscheidung bezogen auf den Zeitpunkt der gerichtlichen Verhandlung im Ergebnis auf einer zutreffenden tatsächlichen Grundlage beruhen. Liegen erhebliche neue Tatsachen vor, so hat das Gericht der Ausländerbehörde in gemeinschaftsrechtskonformer Anwendung des § 114 Satz 2 VwGO Gelegenheit zur Anpassung ihrer Entscheidung und insbesondere auch zu aktuellen Ermessenserwägungen zu geben. Hinsichtlich der näheren Einzelheiten nimmt der Senat auf seine Entscheidung im Verfahren BVerwG 1 C 30.02 Bezug.
Diese für die Ausweisung von freizügigkeitsberechtigten Unionsbürgern entwickelten Grundsätze sind auf die Ausweisung von türkischen Staatsangehörigen, die ein Aufenthaltsrecht nach dem Assoziationsratsbeschluss Nr. 1/80 besitzen, zu übertragen. Das ergibt sich aus den nachfolgenden Erwägungen.
Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften bildet der Assoziationsratsbeschluss Nr. 1/80 einen integrierenden Bestandteil der Gemeinschaftsrechtsordnung (vgl. etwa EuGH, Urteil vom 20. September 1990 - Rs. C-192/89 - Sevince - Slg. 1990 I-3461 <3503>). Die Vorschriften des hier maßgeblichen Abschnitts 1 von Kapitel II des ARB 1/80 stellten eine weitere Stufe bei der Herstellung der Freizügigkeit der Arbeitnehmer im Geiste der Art. 39 ff. EG dar (früher Art. 48 ff. EG-Vertrag). Der Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften hat aus dem Wortlaut des Art. 12 des Abkommens zur Gründung einer Assoziation zwischen der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und der Türkei vom 12. September 1963 (BGBl 1964 II S. 509) - Assoziierungsabkommen - und des Art. 36 des Zusatzprotokolls zum Assoziierungsabkommen vom 19. Mai 1972 (BGBl II S. 385) sowie aus dem Zweck des ARB 1/80 wiederholt hergeleitet, dass die im Rahmen der Art. 39 ff. EG geltenden Grundsätze so weit wie möglich auf die türkischen Arbeitnehmer, welche die im ARB 1/80 eingeräumten Rechte besitzen, übertragen werden sollen. Daraus hat der Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften gefolgert, dass bei der Bestimmung des Umfangs der in Art. 14 Abs. 1 ARB 1/80 vorgesehenen Beschränkung von Rechten nach dem ARB 1/80 aus Gründen der öffentlichen Ordnung darauf abzustellen ist, wie die gleiche Beschränkung der Rechte von freizügigkeitsberechtigten Unionsbürgern ausgelegt wird. Eine solche Auslegung sei umso mehr gerechtfertigt, als die genannte Vorschrift nahezu denselben Wortlaut habe wie Art. 39 Abs. 3 EG (vgl. EuGH, Urteil vom 20. Februar 2000 - Rs. C-340/97 - Nazli - InfAuslR 2000, 161 <164> Rn. 54 ff.; vgl. ferner Urteil des Senats vom 26. Februar 2002 - BVerwG 1 C 21.00 - BVerwGE 116, 55 <65 f.>; VGH Mannheim, Urteil vom 17. April 2002 - 11 S 1823/01 - InfAuslR 2002, 375 <379>; jeweils m.w.N.). Bereits im Hinblick hierauf liegt es nahe, den gemeinschaftsrechtlichen Ausweisungsschutz für nach dem ARB 1/80 aufenthaltsberechtigte Türken in gleicher Weise materiellrechtlich zu begründen und auszugestalten wie für freizügigkeitsberechtigte Unionsbürger.
Es sind keine Gründe ersichtlich, die einer Übertragung der nach dem Urteil des Senats im Verfahren BVerwG 1 C 30.02 anzuwendenden Maßstäbe entgegenstehen. Dies gilt auch für das Erfordernis einer Ermessensentscheidung und die Frage des für die gerichtliche Kontrolle maßgeblichen Zeitpunktes. Einerseits verlangt materielles Gemeinschaftsrecht in Gestalt von Art. 39 Abs. 3 EG und des diese Norm konkretisierenden Art. 3 der Richtlinie 64/221/EWG, jeden Anschein zu vermeiden, dass strafrechtliche Verurteilungen einer danach privilegierten Person keine andere Rechtsfolge zulassen als ihre Ausweisung oder jedenfalls eine gewisse "Vermutung" zugunsten ihrer Ausweisung begründen. Hieraus folgt, dass § 47 AuslG als Rechtsgrundlage für die Ausweisung freizügigkeitsberechtigter Unionsbürger ausscheidet. Für nach dem Assoziationsratsbeschluss Nr. 1/80 aufenthaltsberechtigte türkische Staatsangehörige kann nichts Anderes gelten. Auch diese dürfen nur nach §§ 45, 46 AuslG in Verbindung mit den einschlägigen gemeinschaftsrechtlichen Grundsätzen auf der Grundlage einer Ermessensentscheidung ausgewiesen werden. Andererseits darf nach materiellem Gemeinschaftsrecht eine Maßnahme der öffentlichen Ordnung oder Sicherheit - als Ausnahme vom Grundsatz der Freizügigkeit - nur auf ein Verhalten des Betroffenen gestützt werden, das eine gegenwärtige Gefährdung der öffentlichen Ordnung darstellt. Daraus ergibt sich, dass die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung oder Entscheidung des Tatsachengerichts sowohl für die gerichtliche Überprüfung freizügigkeitsberechtigter Unionsbürger als auch nach dem Assoziationsratsbeschluss Nr. 1/80 aufenthaltsberechtigter türkischer Staatsangehöriger maßgeblich ist (vgl. das bereits erwähnte Urteil des Senats vom 3. August 2004 - BVerwG 1 C 30.02 -).
Hingegen kann offen bleiben, ob bzw. inwieweit auf die Ausweisung aufenthaltsberechtigter türkischer Arbeitnehmer auch solche gemeinschaftsrechtlichen Grundsätze zu übertragen sind, die nur verfahrensrechtlichen Gehalt haben (vgl. insbesondere Art. 9 Abs. 1 der Richtlinie Nr. 64/221/EWG; vgl. dazu den Vorlagebeschluss des Österreichischen Verwaltungsgerichtshofs vom 18. März 2003, InfAuslR 2003, 217; vgl. ferner Urteil des Senats vom 29. September 1998 - BVerwG 1 C 8.96 - Buchholz 402.240 § 45 AuslG 1990 Nr. 16 sowie VGH Mannheim, Urteil vom 9. März 2004 - 10 S 1302/03 -; jeweils m.w.N.).
Mit Rücksicht auf die nach den vorstehenden Ausführungen vollzogene Änderung der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts zum Ausweisungsschutz auch für nach dem ARB 1/80 aufenthaltsberechtigte türkische Staatsangehörige ist den Ausländerbehörden während eines Übergangszeitraums auch Gelegenheit zur vollständigen Nachholung der Ermessensentscheidung zu geben, wenn die Ausweisung eines nach dem ARB 1/80 aufenthaltsberechtigten türkischen Staatsangehörigen als Ist- oder Regelausweisung nach § 47 Abs. 1 oder 2 AuslG ohne Ermessensausübung verfügt worden ist. Dies gilt für alle zurzeit anhängigen und bis zum 31. Januar 2005 (bis dahin wird die vorliegende Entscheidung etwa durch Veröffentlichungen in der Fachpresse hinreichend bekannt sein) anhängig werdenden Verwaltungsstreitverfahren nach dem ARB 1/80 aufenthaltsberechtigter türkischer Staatsangehöriger. Außerdem sind die Verwaltungsgerichte stets verpflichtet, den Ausländerbehörden in gemeinschaftsrechtskonformer Anwendung des § 114 Satz 2 VwGO Gelegenheit zur Aktualisierung der Ermessenserwägungen zu geben, soweit der gerichtlichen Kontrolle neue, nach Abschluss des Verwaltungsverfahrens entstandene Tatsachen zugrunde zu legen sind (vgl. auch hierzu im Einzelnen das Urteil vom heutigen Tage im Verfahren BVerwG 1 C 30.02 ).
2. Der Senat kann mangels ausreichender tatsächlicher Feststellungen des Berufungsgerichts nicht beurteilen, ob dem Kläger ein assoziationsrechtliches Aufenthaltsrecht nach dem ARB 1/80 zusteht. Ein solches Recht könnte sich möglicherweise aus Art. 6 Abs. 1 ARB 1/80 ergeben, da der Kläger nach eigenen Angaben auch als Arbeitnehmer tätig gewesen ist. Das Berufungsgericht wird in diesem Zusammenhang zu klären haben, ob der Kläger vor seiner Inhaftierung ein derartiges Recht erworben hat und ob er diese Rechtsposition etwa aufgrund seiner mehr als achtjährigen Strafhaft oder durch Aufnahme einer selbständigen Tätigkeit wieder verloren hat.
In Betracht kommt ferner eine Rechtsposition gemäß Art. 7 ARB 1/80. Insofern wird zu klären sein, ob dem damals bereits volljährigen Kläger die hier wohl maßgebliche Einreise im Herbst 1977 zur Familienzusammenführung im Sinne von Art. 7 Satz 1 ARB 1/80 erlaubt wurde, ob die weiteren Voraussetzungen für den Erwerb einer Rechtsposition als Familienangehöriger eines türkischen Arbeitnehmers vorliegen und ob der Kläger diese Rechtsposition wieder verloren hat (vgl. zur Frage des Verlusts einer Rechtsposition nach Art. 6 Abs. 1 oder Art. 7 Satz 2 ARB 1/80 die Vorlagebeschlüsse an den EuGH vom heutigen Tag - BVerwG 1 C 26.02 und 1 C 27.02 ).
Ob der Kläger durch eine etwaige selbständige Tätigkeit im Auto- bzw. Autoersatzteilhandel ein assoziationsrechtliches Aufenthaltsrecht erworben hat, ist tatsächlich und rechtlich zweifelhaft. Bisher ist ungeklärt, wann, in welcher Weise und in welchem Umfang der Kläger selbständig tätig gewesen sein soll (vgl. den angefochtenen Beschluss des Berufungsgerichts, BA S. 6 und das Urteil des Verwaltungsgerichts, UA S. 13). Selbst wenn sich ergeben sollte, dass der Kläger in nennenswertem Umfang selbständig tätig gewesen ist, würde ihm dies nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften keine assoziationsrechtliche Position verleihen, die der eines nicht selbständig Beschäftigten gleichkommt (vgl. Urteil des EuGH vom 11. Mai 2000 - Rs. C-37/98 - Savas - Slg. 2000 I-2927 Rn. 37 ff.; vgl. demgegenüber OVG Münster, Beschluss vom 13. Februar 2004 - 17 B 1227/02 - InfAuslR 2004, 224 <226 f.>). Dass sich insoweit für den Kläger auch aus der Stillhalteklausel des Art. 41 Abs. 1 des Zusatzprotokolls kein erhöhter Ausweisungsschutz ergeben könnte, hat der Senat bereits in seinem Urteil vom 26. Februar 2002 - BVerwG 1 C 21.00 - (BVerwGE 116, 55) ausgeführt; hieran ist festzuhalten.
3. Der Senat kann nicht abschließend in der Sache selbst entscheiden (§ 144 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 VwGO). Dies wäre hier nur dann möglich, wenn die angefochtene Ausweisungsverfügung bereits nach innerstaatlichem Recht rechtswidrig wäre. Dies ist jedoch nicht der Fall. Das Berufungsgericht ist zu Recht davon ausgegangen, dass die Ausweisung des Klägers den rechtlichen Anforderungen der §§ 47, 48 AuslG an eine Regelausweisung gerecht wird. Es hat insbesondere zutreffend dargelegt, dass eine Ausnahme von der Regel des § 47 Abs. 3 Satz 1 AuslG nicht vorliegt.
Die Ausweisung begegnet - vorbehaltlich neuer Erkenntnisse im anschließenden Berufungsverfahren - auch im Hinblick auf Art. 6 GG und Art. 8 EMRK keinen rechtlichen Bedenken, selbst wenn danach für die gerichtliche Kontrolle der Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung oder Entscheidung in der letzten gerichtlichen Tatsacheninstanz als maßgeblich anzusehen sein sollte (vgl. EGMR, Urteil vom 31. Oktober 2002 - Beschwerde-Nr. 37295/97 - Yildiz - InfAuslR 2003, 126 <127 f.> m.w.N.). Die Ausweisung des Klägers verstößt schließlich nicht deshalb gegen Grundrechte, weil sie ohne Befristung verfügt worden ist. Angesichts der Schwere der vom Kläger begangenen Straftat, seiner privaten und familiären Situation und seiner nach wie vor vorhandenen Beziehungen zur Türkei war es nach Art. 6 GG und nach Art. 8 EMRK auch unter Berücksichtigung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit bisher nicht geboten, die Ausweisung von vornherein zeitlich zu befristen (vgl. EGMR, Urteil vom 17. April 2003 - Beschwerde-Nr. 52853/99 - Yilmaz - NJW 2004, 2147 ff. m.w.N.; vgl. dazu allgemein auch BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des 2. Senats vom 1. März 2004 - 2 BvR 1570/03 - EuGRZ 2004, 317).