Verfahrensinformation

Chancen-Aufenthaltsrecht bei Minderjährigkeit


Die im März 2007 geborene Klägerin ist (ohne Angabe ihres Geburtsorts und ohne eigenes Lichtbild) in den ukrainischen Inlandspass ihrer Mutter eingetragen. Sie ist mit ihren Eltern 2008 in das Bundesgebiet eingereist; mehrere Asylverfahren der Familie, in denen die Eltern der Klägerin über ihre Identität und Staatsangehörigkeit getäuscht hatten, sind ohne Erfolg geblieben. Die Klage der Klägerin auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 25a AufenthG, hilfsweise einer Aufenthaltserlaubnis nach Kapitel 2 Abschnitt 5 des Aufenthaltsgesetzes, war vor dem Oberverwaltungsgericht teilweise erfolgreich. Das Oberverwaltungsgericht hat die Beklagte u. a. verpflichtet, der Klägerin eine Aufenthaltserlaubnis nach § 104c Abs. 1 AufenthG (sogenanntes Chancen-Aufenthaltsrecht) zu erteilen. Diese Rechtsgrundlage sei auch auf Minderjährige anwendbar. Dem Anspruch stehe nicht entgegen, dass ein Bekenntnis der Klägerin zur freiheitlichen demokratischen Grundordnung der Bundesrepublik Deutschland nicht vorliege. Diese in § 104c Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AufenthG geregelte Voraussetzung brauche die im Entscheidungszeitpunkt 15-jährige Klägerin nicht zu erfüllen, weil sie im Anschluss eine Aufenthaltserlaubnis nach § 25a AufenthG anstrebe, die ein positives (schriftliches) Bekenntnis anders als § 25b AufenthG nicht voraussetze. Gegen diese Rechtsauffassungen wendet sich die Beklagte mit ihrer Revision.


Pressemitteilung Nr. 12/2025 vom 27.02.2025

Chancen-Aufenthaltsrecht bei Minderjährigkeit

Die Aufenthaltserlaubnis nach § 104c Abs. 1 AufenthG (sogenanntes Chancen-Aufenthaltsrecht) setzt keine Volljährigkeit des Ausländers voraus. Minderjährige sind von dem Erfordernis der Abgabe eines Bekenntnisses zur freiheitlichen demokratischen Grundordnung befreit, wenn sie das 16. Lebensjahr noch nicht vollendet haben. Das hat das Bundesverwaltungsgericht in Leipzig heute entschieden.


Die im März 2007 in der Ukraine geborene Klägerin reiste mit ihren Eltern 2008 in das Bundesgebiet ein. Mehrere Asylverfahren der Familie, in denen die Eltern der Klägerin über ihre Identität und Staatsangehörigkeit getäuscht hatten, blieben ohne Erfolg. Die Klage der Klägerin auf Erteilung einer humanitären Aufenthaltserlaubnis hat das Verwaltungsgericht abgewiesen. Auf ihre Berufung hat das Oberverwaltungsgericht die Beklagte unter anderem verpflichtet, der Klägerin eine Aufenthaltserlaubnis nach § 104c Abs. 1 AufenthG zu erteilen. Diese Rechtsgrundlage sei auch auf Minderjährige anwendbar. Dem Anspruch stehe nicht entgegen, dass ein Bekenntnis der Klägerin zur freiheitlichen demokratischen Grundordnung der Bundesrepublik Deutschland nicht vorliege. Diese in § 104c Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AufenthG geregelte Voraussetzung brauche die im Entscheidungszeitpunkt 15-jährige Klägerin nicht zu erfüllen, weil sie im Anschluss eine Aufenthaltserlaubnis nach § 25a AufenthG anstrebe, die ein positives (schriftliches) Bekenntnis anders als § 25b AufenthG nicht voraussetze.


Das Bundesverwaltungsgericht hat die Revision der Beklagten zurückgewiesen. Eine Aufenthaltserlaubnis nach § 104c Abs. 1 AufenthG kann auch Minderjährigen erteilt werden. Das Chancen-Aufenthaltsrecht soll dem Titelinhaber auf der Grundlage eines erlaubten Aufenthalts ermöglichen, noch fehlende Voraussetzungen für einen Aufenthalt nach § 25a oder § 25b AufenthG nachzuholen (z.B. Klärung der Identität und Erfüllung der Passpflicht). Die Aufenthaltserlaubnis nach § 25a Abs. 1 AufenthG richtet sich an Jugendliche und junge Volljährige bis zur Vollendung des 27. Lebensjahres. Es ist keine tragfähige Begründung für die Annahme ersichtlich, dass der Gesetzgeber die durch § 104c Abs. 1 AufenthG ermöglichte "Brücke" zu einem verfestigungsoffenen Aufenthalt Volljährigen vorbehalten und einen Teil der (jedenfalls) durch die Anschlussnorm des § 25a AufenthG Berechtigten hiervon ausschließen wollte.


Im Ergebnis zutreffend hat das Berufungsgericht zudem entschieden, dass die Klägerin kein Bekenntnis zur freiheitlichen demokratischen Grundordnung abgeben muss. Es handelt sich hierbei um eine höchstpersönliche Erklärung, die nur von Personen zu verlangen ist, die das 16. Lebensjahr bereits vollendet haben. Zwar sieht der Wortlaut des § 104 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AufenthG - anders als § 10 Abs. 1 Satz 2 Staatsangehörigkeitsgesetz (StAG) für das bei der Einbürgerung abzugebende Bekenntnis - eine solche Altersgrenze nicht vor. Er ist insoweit allerdings planwidrig zu weit gefasst. Dieses Regelungsdefizit ist durch eine entsprechende Anwendung des § 10 Abs. 1 Satz 2 StAG zu schließen. Danach muss ein Ausländer, der das 16. Lebensjahr noch nicht vollendet hat, ein Bekenntnis zur freiheitlichen demokratischen Grundordnung nicht abgeben. Hiervon gehen im Ergebnis auch die Anwendungshinweise des Bundesministeriums des Innern und für Heimat zur Einführung eines Chancen-Aufenthaltsrechts aus.


BVerwG 1 C 13.23 - Urteil vom 27. Februar 2025

Vorinstanzen:

VG Magdeburg, VG 8 A 228/19 MD - Urteil vom 24. August 2020 -

OVG Magdeburg, OVG 2 L 102/20 - Urteil vom 08. März 2023 -


Beschluss vom 29.08.2023 -
BVerwG 1 B 16.23ECLI:DE:BVerwG:2023:290823B1B16.23.0

  • Zitiervorschlag

    BVerwG, Beschluss vom 29.08.2023 - 1 B 16.23 - [ECLI:DE:BVerwG:2023:290823B1B16.23.0]

Beschluss

BVerwG 1 B 16.23

  • VG Magdeburg - 24.08.2020 - AZ: 8 A 228/19 MD
  • OVG Magdeburg - 08.03.2023 - AZ: 2 L 102/20

In der Verwaltungsstreitsache hat der 1. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
am 29. August 2023
durch den Vorsitzenden Richter am Bundesverwaltungsgericht Dr. Keller,
den Richter am Bundesverwaltungsgericht Böhmann und
die Richterin am Bundesverwaltungsgericht Dr. Wittkopp
beschlossen:

  1. Die Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts des Landes Sachsen-Anhalt über die Nichtzulassung der Revision gegen sein Urteil vom 8. März 2023 wird geändert.
  2. Die Revision wird zugelassen, soweit die Beklagte verpflichtet worden ist, der Klägerin eine Aufenthaltserlaubnis nach § 104c Abs. 1 AufenthG zu erteilen.
  3. Im Übrigen wird die Beschwerde der Beklagten verworfen.
  4. Die Entscheidung über die Kosten des Beschwerdeverfahrens folgt der Kostenentscheidung in der Hauptsache.
  5. Der Wert des Streitgegenstandes wird für das Beschwerdeverfahren und für das Revisionsverfahren - insoweit vorläufig - auf jeweils 5 000 € festgesetzt.

Gründe

1 Die auf den Zulassungsgrund der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache gestützte Beschwerde der Beklagten hat in dem im Tenor bezeichneten Umfang Erfolg.

2 1. Soweit die Beklagte verpflichtet worden ist, über den Antrag der Klägerin auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 25a AufenthG unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts erneut zu entscheiden, ist die Beschwerde unzulässig. Sie macht insoweit Zulassungsgründe weder geltend noch legt sie solche den Anforderungen des § 133 Abs. 3 Satz 3 VwGO entsprechend dar.

3 2. Die Revision ist aber wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache (§ 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO) zuzulassen, soweit die Beklagte unter entsprechender Aufhebung der entgegenstehenden Bescheide verpflichtet worden ist, der Klägerin eine Aufenthaltserlaubnis nach § 104c Abs. 1 AufenthG zu erteilen. Die Revision kann dem Senat Gelegenheit geben, die Anwendbarkeit des § 104c Abs. 1 AufenthG sowie die Bedeutung des in § 104c Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AufenthG vorausgesetzten Bekenntnisses zur freiheitlichen demokratischen Grundordnung der Bundesrepublik Deutschland bei minderjährigen Antragstellern näher zu klären.

4 3. Die Teilzulassung der Revision ist zulässig, weil dem Ausgangsverfahren unterschiedliche Streitgegenstände zugrunde liegen, die nicht in einem der Teilzulassung entgegenstehenden Abhängigkeitsverhältnis voneinander stehen. Die Klage ist mit dem Hauptantrag auf die Verpflichtung der Beklagten zur Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 25a AufenthG und mit dem Hilfsantrag unter anderem auf die Verpflichtung zur Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 104c Abs. 1 AufenthG gerichtet. Hierbei handelt es sich ungeachtet dessen, dass beide Vorschriften humanitäre Aufenthaltserlaubnisse nach Kapitel 2 Abschnitt 5 des Aufenthaltsgesetzes regeln (vgl. § 104c Abs. 3 Satz 2 AufenthG), wegen der unterschiedlichen Rechtsfolgen um verschiedene Streitgegenstände (zu vergleichbaren Fallgestaltungen BVerwG, Urteile vom 11. Januar 2011 - 1 C 22.09 - BVerwGE 138, 336 Rn. 19 f. und vom 18. Dezember 2019 - 1 C 34.18 - BVerwGE 167, 211 Rn. 17). Das befristete Chancen-Aufenthaltsrecht nach § 104c AufenthG soll die Gelegenheit zur Erfüllung der Voraussetzungen für die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 25a oder § 25b AufenthG geben (BT-Drs. 20/3717 S. 2, 17), unterscheidet sich aber von diesen Aufenthaltstiteln in den Voraussetzungen und in den Rechtsfolgen.

5 Die Streitwertfestsetzung folgt aus § 47 Abs. 1 und 3, § 52 Abs. 2 und § 63 Abs. 1 Satz 1 GKG.

Rechtsbehelfsbelehrung


Soweit die Revision zugelassen worden ist, wird das Beschwerdeverfahren als Revisionsverfahren unter dem Aktenzeichen BVerwG 1 C 13.23 fortgesetzt. Der Einlegung einer Revision durch den Beschwerdeführer bedarf es nicht.
Die Revision ist innerhalb eines Monats nach Zustellung dieses Beschlusses zu begründen. Die Begründung ist bei dem Bundesverwaltungsgericht in Leipzig einzureichen.
Für die Beteiligten besteht Vertretungszwang; dies gilt auch für die Begründung der Revision. Die Beteiligten müssen sich durch Bevollmächtigte im Sinne von § 67 Abs. 4 Satz 3 bis 6 VwGO, § 5 Nr. 6 Alt. 2 RDGEG vertreten lassen.