Urteil
In der Verwaltungsstreitsache hat der 6. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
auf die mündliche Verhandlung vom 17. Dezember 2014
durch den Vorsitzenden Richter am Bundesverwaltungsgericht Neumann
und die Richter am Bundesverwaltungsgericht Dr. Graulich, Dr. Möller, Hahn und Prof. Dr. Hecker
für Recht erkannt:
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Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des Hessischen Verwaltungsgerichtshofs vom 31. Januar 2013 geändert. Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts Frankfurt am Main vom 3. Februar 2012 wird zurückgewiesen.
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Der Kläger trägt die Kosten des Berufungs- und des Revisionsverfahrens.
Gründe
I
1
Der Kläger wendet sich gegen eine Verfügung, durch welche ihm die beklagte Stadt Frankfurt am Main untersagt hat, das Hinterhaus auf einem ihm gehörenden Hausgrundstück für einen bordellartigen Betrieb zur Verfügung zu stellen.
2
Der Kläger vermietete die Räume eines Hinterhauses auf einem ihm gehörenden Hausgrundstück in Frankfurt am Main zum Betrieb eines sogenannten Massagestudios, in dem Prostituierte sexuelle Dienstleistungen anboten. Am Grundstück selbst wurde nicht auf diese Nutzung hingewiesen. Für das Massagestudio wurde auf einer Werbetafel im Bereich der Frankfurter Hauptwache und im Internet geworben. Das Grundstück liegt in einem bauplanungsrechtlich ausgewiesenen Mischgebiet, an das ein allgemeines Wohngebiet angrenzt. Etwa 200 Meter entfernt befinden sich zwei Kindertagesstätten, etwa 100 Meter entfernt befindet sich eine Realschule.
3
Für den Bereich des Grundstücks verbietet die Verordnung des Regierungspräsidiums Darmstadt zum Schutze der Jugend und des öffentlichen Anstands in Frankfurt am Main vom 23. Dezember 1986 (Sperrgebietsverordnung) unter anderem, in Prostituiertenwohnheimen, Prostituiertenunterkünften und ähnlichen Einrichtungen (unter anderem in sogenannten Massagesalons und sonstigen überwiegend von Prostituierten genutzten Häusern) der Prostitution nachzugehen.
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Gestützt auf einen Verstoß gegen die Sperrgebietsverordnung untersagte die Beklagte dem Kläger durch die angegriffene Verfügung, seine Liegenschaft zur Ausübung der Prostitution zur Verfügung zu stellen.
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Nach Zurückweisung seines hiergegen eingelegten Widerspruchs hat der Kläger gegen die Verfügung Klage erhoben, die das Verwaltungsgericht abgewiesen hat.
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Auf die Berufung des Klägers hat der Verwaltungsgerichtshof die Verfügung der Beklagten aufgehoben: Die Verfügung könne nicht auf einen Verstoß gegen die Sperrgebietsverordnung gestützt werden. Rechtsgrundlage für deren Erlass sei Art. 297 Abs. 1 EGStGB. Die weitgehende Legalisierung der Prostitution durch das Prostitutionsgesetz mache diese Verordnungsermächtigung zwar nicht obsolet; das Prostitutionsgesetz und der darin manifestierte Wandel der gesellschaftlichen Akzeptanz der Prostitution verböten es jedoch, bei der Anwendung der Ermächtigungsgrundlage des Art. 297 EGStGB die Ausübung der Prostitution außerhalb ausgewiesener Toleranzzonen als Störung der öffentlichen Sicherheit oder Ordnung einzustufen, ohne die aus ihrer Ausübung resultierenden schädlichen Auswirkungen auf die Nachbarschaft, insbesondere auf dort lebende Jugendliche und Kinder konkret zu bewerten. Eine öffentlich nicht wahrnehmbare Ausübung der Prostitution könne deshalb nicht mehr durch den Vollzug einer Sperrgebietsverordnung unterbunden werden, die keine konkrete Belästigung der Öffentlichkeit durch Begleiterscheinungen der Prostitution voraussetze. Die Sperrgebietsverordnung sei bundesrechtskonform dahin auszulegen, dass die dort beschriebene Ausübung der Prostitution außerhalb der Toleranzzonen nur noch dann verboten sei, wenn sie nach außen in Erscheinung trete und eine „milieubedingte Unruhe“ befürchten lasse. Beides sei hier offensichtlich nicht gegeben.
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Mit ihrer Revision begehrt die Beklagte, die Berufung des Klägers gegen das klagabweisende Urteil des Verwaltungsgerichts zurückzuweisen: Art. 297 EGStGB sei auch nach Erlass des Prostitutionsgesetzes eine geeignete Ermächtigungsgrundlage für eine Sperrgebietsverordnung, durch welche aufgrund einer typisierenden Betrachtung der Prostitution von ihr ausgehende abstrakte Gefahren der Belästigung der Wohnbevölkerung und der Jugend unterbunden werden sollten.
8
Der Kläger tritt der Revision entgegen und verteidigt das angefochtene Urteil.
II
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Die Revision der Beklagten ist begründet. Das angefochtene Urteil verletzt Bundesrecht (§ 137 Abs. 1 VwGO). Der Verwaltungsgerichtshof hat Art. 297 Abs. 1 EGStGB zu Unrecht einschränkend ausgelegt. Entgegen seiner Auffassung ermächtigt diese Vorschrift nicht nur zum Erlass solcher Sperrgebietsverordnungen, welche die Prostitution nur unter der Voraussetzung verbieten, dass mit ihr im konkreten Fall Belästigungen der Öffentlichkeit durch Begleiterscheinungen der Prostitution verbunden sind. Hiervon ausgehend gebietet Bundesrecht nicht, § 1 Abs. 2 Halbs. 2 der Verordnung des Regierungspräsidiums Darmstadt zum Schutze der Jugend und des öffentlichen Anstands in Frankfurt am Main vom 23. Dezember 1986 (Sperrgebietsverordnung) einschränkend dahin auszulegen, dass die dort beschriebene Ausübung der Prostitution nur dann verboten ist, wenn sie nach außen in Erscheinung tritt und Belästigungen der Anwohner als milieubedingte Begleiterscheinungen der Prostitution befürchten lässt. Bei zutreffender Auslegung des Art. 297 Abs. 1 EGStGB hätte der Verwaltungsgerichtshof vielmehr zu dem Ergebnis kommen müssen, dass die Ausübung der Prostitution auf dem Hausgrundstück des Klägers gegen § 1 Abs. 2 der Sperrgebietsverordnung verstößt, deshalb zugleich einen Verstoß gegen die öffentliche Sicherheit im Sinne des § 11 HSOG darstellt und - weil auch die übrigen Voraussetzungen für ein ordnungsbehördliches Einschreiten vorliegen - nach dieser Vorschrift untersagt werden durfte. Weiterer tatsächlicher Feststellung bedarf es hierfür nicht. Der Senat kann deshalb in der Sache entscheiden (§ 144 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 VwGO) und die Berufung des Klägers gegen das klagabweisende Urteil des Verwaltungsgerichts zurückweisen.
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Nach Art. 297 Abs. 1 EGStGB kann die Landesregierung oder nach Abs. 2 eine von ihr bestimmte Behörde zum Schutz der Jugend oder des öffentlichen Anstands für Teile des Gebiets einer Gemeinde durch Rechtsverordnung verbieten, der Prostitution nachzugehen.
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Schon der eindeutige Wortlaut steht einem Verständnis der Norm entgegen, nach dem der Verordnungsgeber das Verbot von der Voraussetzung abhängig machen muss, dass die Ausübung der Prostitution im konkreten Einzelfall eine Belästigung der Öffentlichkeit durch die Begleiterscheinungen der Prostitution hervorruft. Von einer solchen Einschränkung ist in der Vorschrift nicht die Rede.
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Es gibt keinen verfassungsrechtlichen Grundsatz, der es geböte, den Schutz ordnungsrechtlicher Belange stets in der Weise auszugestalten, dass nur ein Verhalten rechtlich untersagt wird, von dem im konkreten Einzelfall erwiesen ist, dass es diese Belange tatsächlich beeinträchtigt. Für den Erlass einer Verordnung genügt die Prognose, dass das betroffene Verhalten (hier die Ausübung der Prostitution) in hinreichender Weise die abstrakte Möglichkeit einer Beeinträchtigung der Schutzgüter begründet. Es bestehen deshalb keine verfassungsrechtlichen Bedenken, wenn der Gesetzgeber den Verordnungsgeber ermächtigt, die Prostitution unter der Voraussetzung zu verbieten, dass deren Ausübung abstrakte Gefahren für den öffentlichen Anstand oder den Schutz der Jugend begründet.
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Demgemäß kann der Erlass einer Sperrgebietsverordnung zum Schutze des öffentlichen Anstands gerechtfertigt sein, wenn die Eigenart des betroffenen Gebietes durch eine besondere Schutzbedürftigkeit und Sensibilität, z.B. als Gebiet mit hohem Wohnanteil sowie Schulen, Kindergärten, Kirchen und sozialen Einrichtungen gekennzeichnet ist und wenn eine nach außen in Erscheinung tretende Ausübung der Prostitution typischerweise damit verbundene Belästigungen Unbeteiligter und „milieubedingte Unruhe“, wie zum Beispiel das Werben von Freiern und anstößiges Verhalten gegenüber Passantinnen und Anwohnerinnen, befürchten lässt (VGH Kassel, Urteil vom 31. Oktober 2003 - 11 N 2952/00 - NVwZ-RR 2004, 470 <471>; VGH Mannheim, Urteil vom 15. Dezember 2008 - 1 S 2256/07 - VBlBW 2009, 220). Für den Erlass der Verordnung genügt die Prognose, dass die Ausübung der Prostitution typischerweise damit verbundene Belästigungen hervorruft. Ist ein Gebiet durch eine besondere Schutzbedürftigkeit und Sensibilität, z.B. als Gebiet mit hohem Wohnanteil sowie Schulen, Kindergärten, Kirchen und sozialen Einrichtungen gekennzeichnet, darf der Verordnungsgeber davon ausgehen, dass die Ausübung der Prostitution die abstrakte Gefahr von derartigen Beeinträchtigungen des öffentlichen Anstands begründet.
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Der Erlass des Gesetzes zur Regelung der Rechtsverhältnisse der Prostituierten (Prostitutionsgesetz - ProstG) vom 20. Dezember 2001 (BGBl. I S. 3983) führt nicht dazu, dass Art. 297 EGStGB in dieser Auslegung nunmehr gegen das Gebot der Normenklarheit und Widerspruchsfreiheit gesetzlicher Regelungen verstößt. Der Gesetzgeber hat sich mit dem Prostitutionsgesetz darauf beschränkt, zum einen die Rechtswirksamkeit des Anspruchs der Prostituierten auf das vereinbarte Entgelt (§ 1 ProstG), die fehlende Abtretbarkeit des Anspruchs und den weitgehenden Ausschluss von Einwendungen gegen diesen (§ 2 ProstG) und den Zugang zur Sozialversicherung trotz des nur eingeschränkten Weisungsrechts gegenüber abhängig beschäftigten Prostituierten (§ 3 ProstG) zu regeln sowie zum anderen die Strafbarkeit der Förderung der Prostitution und der Zuhälterei einzuschränken (Art. 2 ProstG). Dabei ging er ausweislich der Gesetzesbegründung davon aus, dass die Vereinbarung über ein Entgelt für sexuelle Leistungen und auch die Tätigkeit selbst nicht gegen die guten Sitten verstoßen (vgl. BT-Drs. 14/5958 S. 4, 6).
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Die Legalisierung der Prostitutionsausübung im zivil- und sozialversicherungsrechtlichen Bereich und die Einschränkung der Strafbarkeit durch das Prostitutionsgesetz schließen es ebenso wenig wie der Wegfall des Vorwurfs der Sittenwidrigkeit der Prostitution aus, dass die Prostitutionsausübung in bestimmten Erscheinungsformen und damit einhergehenden sozialtypischen Begleiterscheinungen namentlich mit Blick auf sensible Gemeindegebiete gegen den öffentlichen Anstand verstoßen kann. Davon ausgehend stellt die Festsetzung von Sperrbezirken auf der Grundlage des Art. 297 EGStGB weder die zivilrechtliche Wirksamkeit des Entgeltanspruchs der Prostituierten noch den Zugang zur Sozialversicherung in Frage; sie ist auch nicht mit dem generellen Vorwurf der Sittenwidrigkeit der Ausübung der Prostitution im Sperrbezirk verbunden, sondern dient der lokalen Steuerung der Prostitutionsausübung aus ordnungsrechtlichen Gründen (BVerfG, Kammerbeschluss vom 28. April 2009 - 1 BvR 224/07 - NVwZ 2009, 905 <906 f.>). Die Legalität dieser gewerblichen Betätigung bedeutet hier ebenso wenig wie in anderen Fällen legaler Gewerbe, dass sie an jedem beliebigen Ort ausgeübt werden darf. Dem Gesetz- und Verordnungsgeber bleibt es überlassen, potentiell miteinander unverträgliche Nutzungen räumlich zu trennen.
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§ 1 Abs. 2 der Sperrgebietsverordnung stimmt, soweit es auf die Norm hier entscheidungserheblich ankommt, mit diesen bundesrechtlichen Anforderungen an den Erlass einer Sperrgebietsverordnung überein.
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Das Grundstück des Klägers liegt in einem Gebiet, das durch eine besondere Schutzbedürftigkeit und Sensibilität gekennzeichnet ist. Nach den tatsächlichen Feststellungen des Verwaltungsgerichtshofs befinden sich dort Kindertagesstätten und eine Schule sowie Wohnanlagen.
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Weil das hier in Rede stehende Gebiet diese Eigenart aufweist, durfte der Verordnungsgeber davon ausgehen, dass die Ausübung der Prostitution dort die abstrakte Gefahr von Beeinträchtigungen des öffentlichen Anstands begründet. Für die lokale Steuerung der Prostitution, welcher die Sperrgebietsverordnung zulässigerweise dient, musste der Verordnungsgeber nicht für jedes einzelne Grundstück, das von dem Verbotsbereich erfasst werden soll, konkret feststellen, ob es in einer Weise genutzt wird, die dort die abzuwehrenden Gefahren und Belästigungen der Prostitutionsausübung erwarten lassen. Die Abgrenzung muss nicht grundstücksscharf getroffen werden, sondern kann größere durch ihre Eigenart geprägte Gebiete erfassen. Dies genügt dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, der bei der Abgrenzung der Verbotsbereiche zu berücksichtigen ist.
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Ob § 1 Abs. 2 der Sperrgebietsverordnung bezogen auf den hier in Rede stehenden Bereich zugleich durch den Schutz der Jugend getragen wird, bedarf keiner abschließenden Entscheidung, da die Verordnung bereits von dem Schutz des öffentlichen Anstands getragen wird. Jedenfalls sind die Erwägungen, mit denen der Verwaltungsgerichtshof dies verneint hat, zumindest teilweise mit Bundesrecht nicht vereinbar. Der Verwaltungsgerichtshof hat entscheidungstragend darauf abgestellt, es sei auszuschließen, dass die Schüler und Schülerinnen der nahegelegenen Schule bei Kenntnisnahme von der Werbung für das Massagestudio seelischen Schaden nähmen, weil Kinder und Jugendliche dieser Altersgruppe - zumal in einer Großstadt wie Frankfurt am Main - jederzeit durch allgemein zugängliche Quellen und geradezu zwangsläufig mit Prostitution konfrontiert würden und sich im Zuge ihres Reifeprozesses mit diesem mittlerweile gesellschaftlich als unvermeidlich akzeptierten Phänomen auch auseinandersetzen sollten. Diese Erwägungen verkennen den bundesrechtlich eingeräumten Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers. Der Staat ist berechtigt, von Kindern und Jugendlichen Einflüsse fernzuhalten, welche sich, zum Beispiel wegen der Kommerzialisierung sexueller Handlungen, auf ihre Einstellung zur Sexualität und damit auf die Entwicklung ihrer Persönlichkeit nachteilig auswirken können. Es obliegt dem Gesetzgeber zu entscheiden, ob, wo und wann Jugendliche mit dem gesellschaftlichen Phänomen der Prostitution konfrontiert werden sollen (Bundesverfassungsgericht, Kammerbeschluss vom 28. April 2009 - 1 BvR 224/07 - NVwZ 2009, 905).
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Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit ist hinsichtlich des Verbotstatbestandes gewahrt. Gegenteiliges lässt sich nicht aus dem Kammerbeschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 28. April 2009 - 1 BvR 224/07 - (NVwZ 2009, 905) herleiten. Das Bundesverfassungsgericht hat dort zwar angemerkt, die Wohnungsprostitution werde häufig deutlich weniger wahrnehmbar sein als die Straßen- und die Bordellprostitution; bei Erlass der jeweiligen Sperrgebietsverordnung könne unter Abwägung aller betroffenen Rechtspositionen und öffentlichen Belange auch einer geringeren öffentlichen Sichtbarkeit der Wohnungsprostitution beim Ausgleich aller Interessen angemessen Rechnung getragen werden.
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§ 1 Abs. 2 der Sperrgebietsverordnung erfasst jedoch keine Wohnungsprostitution in dem Sinne, wie dieser Begriff üblicherweise verstanden wird und ersichtlich auch vom Bundesverfassungsgericht verwendet wird. Die Prostitution wird hier auch tatsächlich nicht in der Gestalt einer Wohnungsprostitution ausgeübt. Die Prostitution wird nicht in einer einzelnen Wohnung ausgeübt, in welcher die Prostituierte wohnt und dabei nebenher der Prostitution nachgeht. Vielmehr dient das Hinterhaus ausschließlich der Ausübung der Prostitution und ist damit eine ähnliche Einrichtung im Sinne des § 1 Abs. 2 der Sperrgebietsverordnung (Massagesalons und sonstige überwiegend von Prostituierten genutzte Häuser).
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Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 und 2 VwGO.