Beschluss vom 16.10.2024 -
BVerwG 8 C 7.22ECLI:DE:BVerwG:2024:161024B8C7.22.0
Vorlagebeschluss zur Auslegung des Begriffs der "Anbringung einer Aufschrift" auf einer nichtselbsttätigen Waage
Leitsatz:
Die Frage, ob eine nichtselbsttätige Waage den Anforderungen des Art. 6 Abs. 5 Unterabs. 2 i. V. m. Anhang III Nr. 1.1.iv), 1.1.v) und 1.1.vi) der Richtlinie 2014/31/EU entspricht, wenn die Angaben zu Höchstlast, Mindestlast und Eichwert nicht in verkörperter Form auf dem Gerät angebracht sind, sondern ausschließlich digital und alternierend bei Betrieb der Waage angezeigt werden, bedarf einer Vorabentscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Union.
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Rechtsquellen
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Instanzenzug
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Zitiervorschlag
Beschluss
BVerwG 8 C 7.22
- VG Köln - 21.04.2021 - AZ: 1 K 2672/20
- OVG Münster - 09.09.2022 - AZ: 4 A 1278/21
In der Verwaltungsstreitsache hat der 8. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
auf die mündliche Verhandlung am 16. Oktober 2024
durch den Vorsitzenden Richter am Bundesverwaltungsgericht Dr. Keller,
die Richterin am Bundesverwaltungsgericht Hoock und
die Richter am Bundesverwaltungsgericht Dr. Seegmüller, Dr. Meister und
Dr. Naumann
beschlossen:
- Das Verfahren wird ausgesetzt.
- Es wird gemäß Art. 267 AEUV eine Vorabentscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Union zu folgender Frage eingeholt:
- Entspricht eine nichtselbsttätige Waage den Anforderungen des Art. 6 Abs. 5 Unterabs. 2 i. V. m. Anhang III Nr. 1.1.iv), 1.1.v) und 1.1.vi) der Richtlinie 2014/31/EU, wenn die Angaben zu Höchstlast, Mindestlast und Eichwert nicht in verkörperter Form auf dem Gerät angebracht sind, sondern ausschließlich digital und alternierend bei Betrieb der Waage angezeigt werden?
Gründe
I
1 Die Beteiligten streiten über die Form, in der bestimmte messtechnische Angaben auf einzelnen Handelswaagentypen dargestellt werden müssen.
2 Die Klägerin produziert Waagen zur Verwendung im geschäftlichen Verkehr, die beim Wägen das Eingreifen einer Bedienperson erfordern (sogenannte nichtselbsttätige Waagen). Ihr hier streitgegenständliches Modell stellt seine Angaben zu Höchstlast (Max), Mindestlast (Min) und Eichwert (e) der Waage ausschließlich digital und alternierend über die Anzeigeeinrichtung des Geräts dar, wo sie bei deren Betrieb mit dem gemessenen Wägeergebnis zu sehen sind. Ausweislich einer von der NMi Certin B.V. 2020 für das Gerätemodell ausgestellten EU-Baumusterprüfbescheinigung ist der Zugang zu der für die Anzeige verantwortlichen Software durch Eichsiegel gesichert. Im Inneren des Gehäuses der Wiegeplattform befindet sich eine Justiersperre. Welche Software zur Anzeige der primären Indikationen auf den Geräten zugelassen ist, gibt Nr. 2.1.1 der EU-Baumusterprüfbescheinigung vor. Jede Änderung und jedes Herunterladen von relevanter Software werden im Ereignislogger protokolliert.
3 Nachdem Mitarbeiter des Beklagten anlässlich einer Kontrolle eines dieser Geräte auf die Wiedergabe der Werte Max, Min, e in ausschließlich digitaler Form aufmerksam geworden waren, teilte der Beklagte der Klägerin im Februar 2020 mit, dies entspreche nicht den Vorgaben der Richtlinie 2014/31/EU. Die zwingend geforderte Dauerhaftigkeit der Angabe fehle, da bei Ausschalten der Waage auch die Anzeige dieser messtechnischen Werte im Display erlösche. Diese Beanstandung wies die Klägerin zurück. Nach Sinn und Zweck gehe es den Vorgaben aus Anhang III Nr. 1.1 der Richtlinie 2014/31/EU um die Manipulationssicherheit der Angaben. Diese sollten während der gesamten Lebensdauer der Waage dort vorhanden sein und dem Verwender zuverlässig Auskunft darüber geben, für welchen Anwendungsbereich (d. h. Minimal- und Maximallast) sowie für welche Genauigkeit der Anzeige (Teilungswerte) die Waage konzipiert und im eichpflichtigen Verkehr zugelassen sei. Dies sei über das Waagen-Display gewährleistet.
4 Mit Bescheid vom 29. April 2020 untersagte der Beklagte der Klägerin, ab dem 1. Juni 2020 in Nordrhein-Westfalen nichtselbsttätige Waagen in Verkehr zu bringen, die die Werte von Max, Min und e nur digital in der Anzeigeeinrichtung der Waage darstellten und bei denen diese Angaben an keiner anderen Stelle dauerhaft aufgebracht seien. Zur Begründung der auf § 50 Abs. 2 MessEG gestützten Anordnung hieß es im Wesentlichen, es bestehe mehr als ein begründeter Verdacht, dass Waagen der Klägerin nicht die Anforderungen gemäß § 6 Abs. 5 MessEG erfüllten.
5 Die hiergegen erhobene Klage hat das Verwaltungsgericht abgewiesen. Die Verfügung sei rechtmäßig. Die Anforderung, wonach alle auf Messgeräten vorgesehenen Aufschriften gut sichtbar, lesbar und dauerhaft angebracht werden müssten, werde durch digitale Anzeigen nicht erfüllt.
6 Auf die Berufung der Klägerin hat das Oberverwaltungsgericht das Urteil des Verwaltungsgerichts geändert und die angegriffene Verfügung des Beklagten aufgehoben. Entgegen der Ansicht des Verwaltungsgerichts sei die Klage begründet. Die angefochtene Ordnungsverfügung sei rechtswidrig und verletze die Klägerin in ihren Rechten. Die Voraussetzungen, unter denen die Marktüberwachungsbehörden nach § 50 Abs. 2 MessEG einschreiten dürften, lägen nicht vor. Es bestehe kein begründeter Verdacht, dass die nichtselbsttätigen Waagen der Klägerin die Anforderungen nach Abschnitt 2 des Mess- und Eichgesetzes nicht erfüllten. Den Anforderungen, die §§ 13, 15 Mess- und Eichverordnung für ein Inverkehrbringen solcher Messgeräte aufstellten, genügten die hier in Streit stehenden Geräte. Der Wortlaut der einschlägigen nationalen wie unionsrechtlichen Rechtsvorschriften schließe eine rein digitale Anzeige nicht aus. Für dieses Verständnis spreche auch die Entstehungsgeschichte der Vorschrift, wobei nicht außer Betracht bleiben könne, dass die Europäische Union bei Erlass der Richtlinie völkerrechtlich an das "Agreement on Technical Barriers to Trade" gebunden gewesen sei. Die auf dieser Grundlage beschlossenen Empfehlungen der Internationalen Organisation für das gesetzliche Messwesen akzeptierten explizit die rein digitale Anzeige der Werte Max, Min und e. Angesichts der völkerrechtlichen Verpflichtung zum Abbau von Handelshemmnissen komme dem besondere Bedeutung zu.
7 Gegen diese Entscheidung richtet sich die von dem Beklagten eingelegte Revision, mit der dieser weiter im Wesentlichen geltend macht, dass eine rein digitale und alternierende Displayanzeige nicht den Vorgaben des nationalen Rechts und der Richtlinie genügen würde.
8 Die Klägerin verteidigt das angegriffene Urteil.
II
9 Das Verfahren ist auszusetzen und eine Vorabentscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Union gemäß Art. 267 Abs. 3 AEUV einzuholen. Die Auslegung des Art. 6 Abs. 5 Unterabs. 2 der Richtlinie 2014/31/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Februar 2014 zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten betreffend die Bereitstellung nichtselbsttätiger Waagen auf dem Markt (ABl. L 96 S. 107) und der im Tenor bezeichneten Bestimmungen ihres Anhangs III ist nicht derart offenkundig, dass kein Raum für vernünftige Zweifel bliebe und davon ausgegangen werden könnte, dass auch für die Gerichte der übrigen Mitgliedstaaten der Europäischen Union die gleiche Gewissheit über ihre Auslegung bestünde (zu diesem Kriterium vgl. EuGH, Urteil der Großen Kammer vom 6. Oktober 2021 - C-561/19 [ECLI:EU:C:2021:799], Consorzio - Rn. 40).
10 Die vorgelegte Frage ist für die Revisionsentscheidung erheblich. Die Revision des Beklagten ist zulässig. Für die Begründetheit der Revision ist maßgeblich, ob aus den genannten Vorschriften folgt, dass auch eine rein digitale und alternierende Anzeige der Werte Max, Min und e im Display von nichtselbsttätigen Waagen ausreicht oder ob diese in verkörperter Form an dem Gerät dauerhaft angebracht sein müssen. Trifft Letzteres zu, so ist die Revision begründet, weil die Klage entgegen der Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts in diesem Fall abzuweisen ist.
11
Das einschlägige nationale Recht lautet wie folgt:
Mess- und Eichgesetz (Auszug)
§ 50 Marktüberwachungsmaßnahmen
(1) Die Marktüberwachungsbehörden kontrollieren anhand angemessener Stichproben auf geeignete Weise und in angemessenem Umfang, ob Messgeräte und sonstige Messgeräte die Anforderungen nach Abschnitt 2 und Fertigpackungen und andere Verkaufseinheiten die Anforderungen nach Abschnitt 4 erfüllen.
(2) Die Marktüberwachungsbehörden treffen die erforderlichen Maßnahmen, wenn sie den begründeten Verdacht haben, dass die Produkte die genannten Anforderungen nicht erfüllen. Sie sind insbesondere befugt,
...
5. zu verbieten, dass ein Produkt auf dem Markt bereitgestellt wird,
...
§ 50a Formale Nichtkonformität
(1) Die Marktüberwachungsbehörde hat den betreffenden Wirtschaftsakteur aufzufordern, die Nichtkonformität zu korrigieren, wenn sie feststellt, dass
1. die Konformitätskennzeichnung oder die zusätzliche Metrologie-Kennzeichnung nach einer Rechtsverordnung nach § 30 Nummer 4 nicht angebracht wurde,
2. die Konformitätskennzeichnung oder die zusätzliche Metrologie-Kennzeichnung nach einer Rechtsverordnung nach § 30 Nummer 4 unter Nichteinhaltung von § 6 Absatz 4 angebracht wurde,
...
7. die in § 6 Absatz 5, § 23 Absatz 2 bis 4 oder § 25 Absatz 2 bis 4 genannten Angaben fehlen, falsch oder unvollständig sind ...
(2) Besteht die Nichtkonformität weiter, so hat die Marktüberwachungsbehörde die erforderlichen Maßnahmen zu treffen, um die Bereitstellung des Messgeräts auf dem Markt zu beschränken oder zu untersagen oder um dafür zu sorgen, dass es zurückgerufen oder zurückgenommen wird.
Mess- und Eichverordnung (Auszug)
§ 13 Gemeinsame Vorschriften für Kennzeichnungen und Aufschriften von Messgeräten und sonstigen Messgeräten
(1) Kennzeichnungen und Aufschriften müssen gut sichtbar, lesbar und dauerhaft auf dem Messgerät oder dem sonstigen Messgerät angebracht sein; sie müssen klar, unauslöschlich, eindeutig und nicht übertragbar sein. Für Kennzeichnungen und Aufschriften müssen lateinische Buchstaben und arabische Ziffern verwendet werden. Andere Buchstaben oder Ziffern dürfen zusätzlich verwendet werden.
(2) Ist ein Messgerät zu klein oder zu empfindlich, um die erforderlichen Kennzeichnungen oder Aufschriften zu tragen, sind die Kennzeichnung oder Aufschriften auf den nach § 17 beizufügenden Informationen und auf der Verpackung anzubringen. Satz 1 ist anzuwenden auf Gewichtstücke, sofern andernfalls die Messrichtigkeit beeinträchtigt wäre.
§ 15 Aufschriften auf Messgeräten
...
(3) Messgeräte in Form nichtselbsttätiger Waagen sind zusätzlich zu den Angaben nach den Absätzen 1 und 2 mit folgenden Aufschriften zu versehen:
1. der Genauigkeitsklasse, die in einem Oval oder zwischen zwei durch Halbkreise miteinander verbundenen horizontalen Linien anzugeben ist,
2. der Höchstlast, wobei dem Massewert die Buchstabenfolge "Max" vorangestellt ist,
3. der Mindestlast, wobei dem Massewert die Buchstabenfolge "Min" vorangestellt ist,
4. dem Wert in Masseeinheiten zur Einstufung und zur Eichung einer Waage (Eichwert), wobei dem Wert die Zeichenfolge "e =" vorangestellt ist,
...
Die Höchstlast, die Mindestlast, der Eichwert und der Teilungswert müssen in der Nähe der Gewichtsanzeige angebracht sein. Jede Auswerteeinrichtung, die an einen oder mehrere Lastträger angeschlossen oder anschließbar ist, muss auch die entsprechenden Aufschriften für diese Lastträger aufweisen.
12 Der angegriffene Verwaltungsakt wäre gemessen an dem nationalen Recht während seiner gesamten Geltungsdauer rechtmäßig. Ermächtigungsgrundlage bei Erlass des Bescheids war § 50 Abs. 2 Satz 2 Nr. 5 MessEG. Der am 15. Juni 2021 - also während des gerichtlichen Verfahrens - in Kraft getretene § 50a Abs. 2 i. V. m. § 50a Abs. 1 Satz 1 Nr. 7 MessEG, der für den hier in Rede stehenden Fall der formalen Nichtkonformität einschlägig ist, kann nach deutschem Verfahrensrecht als speziellere Ermächtigungsgrundlage ab dem Zeitpunkt seines Inkrafttretens durch die Gerichte herangezogen werden. Einer entsprechenden Änderung des Bescheids durch die Behörde bedarf es nicht. Den durch § 50a Abs. 1 MessEG statuierten formellen Anforderungen ist der Beklagte durch die vorherige Beanstandung der Waagen der Klägerin gerecht geworden.
13 Der Bescheid ist nach nationalem Recht materiell rechtmäßig. Gemäß § 15 Abs. 3 MessEV müssen Messgeräte in Form nichtselbsttätiger Waagen unter anderen mit den Aufschriften Max, Min und e versehen sein. Die Angaben müssen in der Nähe der Gewichtsanzeige angebracht sein. Gemäß § 13 Abs. 1 MessEV müssen Aufschriften gut sichtbar, lesbar und dauerhaft angebracht sein.
14 Der Wortlaut der nationalen Vorschrift spricht deutlich für eine Auslegung, die ein verkörpertes Anbringen dieser Aufschriften in Form einer Plakette, einer Gravur oder eines Aufklebers erfordert. Denn "Anbringen" bedeutet insbesondere, etwas an einer Stelle befestigen. Auch das Wort "Aufschrift" spricht deutlich dafür, dass die Angaben auf etwas darauf geschrieben werden müssen, und nicht für eine bloß digitale Anzeige. Schließlich ist mit dem Wort "dauerhaft" nach dem allgemeinen Wortverständnis gemeint, dass diese Aufschriften stets sichtbar sein müssen und nicht nur während des Betriebs der Anzeige. Das nationale Recht lässt auch nicht erkennen, dass die normierten Kennzeichnungspflichten technologieoffen in dem Sinne gemeint sein könnten, dass digitale Anzeigen möglich sind. Zwar spricht die Begründung der Verordnung davon, dass die Regelung die Art der technischen Realisierung von Kennzeichnungen und Aufschriften nicht grundsätzlich auf bestimmte Technologien einschränkt. Die Verordnungsbegründung stellt jedoch zugleich klar, dass dabei die in § 13 Abs. 1 MessEV genannten Anforderungen beachtet werden müssen (vgl. BR-Drs. 493/14 S. 143 f.).
15 Dieser Interpretation könnten Vorschriften des Unionsrechts entgegenstehen. Die Vorschriften des nationalen Rechts dienen der Umsetzung der Richtlinie 2014/31/EU. Entsprechend der ständigen Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union ist das zur Umsetzung einer Richtlinie erlassene nationale Recht richtlinienkonform auszulegen. Im vorliegenden Fall ist deshalb entscheidungserheblich, ob nach den Regelungen der Richtlinie 2014/31/EU auch eine rein digitale und alternierende Anzeige der Werte Max, Min und e im Display der nichtselbsttätigen Waage ausreichend ist. Ist dies der Fall, so wäre das nationale Recht richtlinienkonform in diesem Sinne auszulegen.
16 Nach Auffassung des Senats spricht der Wortlaut der Richtlinie 2014/31/EU gegen eine solche Auslegung. Diese verwendet in ihrer deutschen Fassung in Art. 6 Abs. 5 Unterabs. 2 die Wendung "bringen die Hersteller die ... Aufschriften an". Dies impliziert, dass die Hersteller selbst die Aufschrift anbringen und nicht lediglich eine Einrichtung - wie etwa ein Display - in die Waage einbauen, die die entsprechenden Werte anzeigen kann. Auch die englische und französische Sprachfassung weisen in diese Richtung, wobei insbesondere die Verben "affix" und "apposer" nach dem Verständnis des Senats eine verkörperte Anbringung nahelegen und auch nach diesen Sprachfassungen der Vorgang unmittelbar durch die Hersteller bewirkt werden muss. Dass in Anhang III 1.4. der Richtlinie 2014/31/EU in der englischen Sprachfassung das Verb "shown" und in der französischen Sprachfassung das Verb "apparaître" genutzt wird, spricht gleichfalls nicht für die Möglichkeit einer ausschließlich digitalen Anzeige. Denn beide Sprachfassungen machen durch die Worte "also" bzw. "également" deutlich, dass hier nur das Erfordernis einer zusätzlichen Anzeige, nicht jedoch die Zulässigkeit einer ausschließlich digitalen Anzeige normiert wird. Gerade die Tatsache, dass die Verben "shown" und "apparaître", denen eine digitale Anzeige eindeutig unterfallen würde, nur im Kontext einer weiteren Anzeige genutzt werden, spricht dagegen, dass auch eine einzige Aufschrift digital angezeigt werden kann.
17 Schließlich lassen die Erwägungsgründe der Richtlinie keinen sicheren Schluss auf ein anderes Ergebnis zu. Die in diesen enthaltenen Ziele, die Allgemeinheit vor unrichtigen Wägeergebnissen zu schützen (Erwägungsgrund 5), das hohe Niveau des Schutzes der durch die Richtlinie geschützten öffentlichen Interessen (Erwägungsgrund 7) zu gewährleisten, die Vorgaben auf die wesentlichen messtechnischen und technischen Anforderungen zu beschränken (Erwägungsgrund 17) und das Funktionieren des Binnenmarktes sicherzustellen (Erwägungsgrund 47), sind allesamt zur richtigen Form der Anzeige der Angaben zu Max, Min und e wenig aussagekräftig.
18 Etwas anderes ergibt sich auch nicht aus den Empfehlungen R 76-1 2006 der Organisation Internationale de Métrologie Légale (OIML). Diese Empfehlungen lassen zwar anders als die Vorgängerempfehlungen aus dem Jahr 1988 rein display-gestützte Anzeigen der Angaben Max, Min und e explizit zu. Sie haben jedoch für die Auslegung des Unionsrechts keine bindende Wirkung. Eine solche Wirkung kommt schon WTO-Recht grundsätzlich nicht zu (vgl. EuGH, Urteil vom 23. November 1999 - C-149/96 [ECLI:EU:C:1999:574], Portugal - Rn. 42). Die fehlende Rechtsverbindlichkeit der Empfehlungen folgt zudem auch aus deren Rechtsgrundlagen. Sie beruhen auf dem Übereinkommen über technische Handelshemmnisse. Dessen Artikel 2.4. verpflichtet die Mitglieder lediglich, die von internationalen Normierungsorganisationen beschlossenen internationalen Normen, hier also jener der OIML, als Grundlage ihrer eigenen technischen Vorschriften zu verwenden. Eine strikte Bindung wird hiermit nicht festgelegt. Vielmehr stellt das genannte Übereinkommen schon in seinen Erwägungsgründen klar, dass kein Mitglied daran gehindert werden soll, für erforderlich gehaltene Maßnahmen zu treffen, soweit diese nicht Mittel zur willkürlichen oder ungerechtfertigten Diskriminierung zwischen unterschiedlichen Mitgliedstaaten sind. Folgerichtig bezeichnet die OIML die von ihr ausgearbeiteten Standards als "Empfehlungen". Sind die genannten Empfehlungen demnach nicht rechtsverbindlich, so spricht Überwiegendes dafür, dass der Richtliniengeber durch die unveränderte wörtliche Wiederholung der Empfehlungen aus dem Jahr 1988, die eine ausschließlich digitale Anzeige noch nicht - jedenfalls nicht explizit - erlaubten, und nicht jener aus dem Jahr 2006, in denen diese Möglichkeit vorgesehen war, rein digitale Anzeigen nicht zuzulassen beabsichtigte.
19 Relevante Zweifel an dieser Auslegung bestehen aber deshalb, weil im Amtsblatt der Europäischen Union vom 11. September 2015 (ABl. C 300 S. 3) ein Hinweis auf die DIN EN 45501:2015 veröffentlicht wurde. Deren Ziffer 7.1.2 Buchst. a sieht vor, dass die Werte Max, Min und e - alternativ zu einer Anbringung am Gerät - dauerhaft und gleichzeitig auf der Anzeigeeinrichtung für das Wägeergebnis angezeigt werden, solange die Waage eingeschaltet ist. Hierdurch wird eine rein digitale Form der Anzeige, wie sie sich auf den klägerischen Waagen findet, erlaubt.
20 Diese Diskrepanz zwischen dem Wortlaut der Richtlinie und dem Inhalt der harmonisierten Norm führt nach Auffassung des Senats dazu, dass keine zweifelsfreie Beantwortung der aufgeworfenen Frage möglich und deshalb eine Vorlage an den Gerichtshof der Europäischen Union erforderlich ist. Insoweit ist zunächst zu beachten, dass aus der Normenhierarchie des Gemeinschaftsrechts folgen dürfte, dass eine harmonisierte Vorschrift von den Vorgaben eines Sekundärrechtsakts nicht abweichen kann (zum Charakter solcher Standardisierungen als Teil des Unionsrechts vgl. zuletzt EuGH, Urteil vom 5. März 2024 - C-588/21 P [ECLI:EU:C:2024:201], Public Resource - Rn. 70). Zugleich bringt die Kommission mit der Mitteilung der harmonisierten Vorschrift im Amtsblatt gemäß Art. 10 Abs. 5 Satz 2 und Abs. 6 der Verordnung (EU) Nr. 1025/2012 zum Ausdruck, dass die harmonisierte Norm ihrer Auffassung nach der Richtlinie 2014/31/EU entspricht. Dabei folgt aus einer harmonisierten Norm grundsätzlich eine Konformitätsvermutung für ein ihr entsprechendes Produkt. Diese Konformitätsvermutung besteht nach Art. 12 und 13 Richtlinie 2014/31/EU zwar nur mit den wesentlichen Anforderungen gemäß Anhang I der Richtlinie. Die vorliegend streitigen Regelungen der Richtlinie finden sich jedoch in ihrem Anhang III. Allerdings enthält Erwägungsgrund 17 der Richtlinie eine solche Einschränkung der Bedeutung der Konformitätsvermutung für Anforderungen aus Anhang I nicht. Inwieweit die Konformitätsvermutung vorliegend einschlägig ist, bleibt deshalb unklar. Unabhängig von der Anwendbarkeit der Konformitätsvermutung dürfte im Übrigen einer harmonisierten Vorschrift lediglich eine widerlegliche Vermutung der Übereinstimmung mit sekundärrechtlichen Vorgaben zu entnehmen sein, die insbesondere dann entfällt, wenn die harmonisierte Vorschrift mangelhaft ist, vgl. Art. 37 Abs. 5 Satz 2 Buchst. b Richtlinie 2014/31/EU. Die Frage der richtigen Auslegung des Art. 6 Abs. 5 Unterabs. 2 i. V. m. Anhang III Nr. 1.1.iv), 1.1.v) und 1.1.vi) der Richtlinie 2014/31/EU ist deshalb dem Gerichtshof der Europäischen Union vorbehalten.