Verfahrensinformation

Der Kläger ist türkischer Staatsangehöriger und Vater eines 2011 geborenen Sohnes mit bulgarischer Staatsangehörigkeit, der an Leukämie erkrankt ist. Er wendet sich gegen die Feststellung des Verlusts seines Freizügigkeitsrechts. Diese war unter anderem damit begründet worden, der Kläger habe bereits ein assoziationsrechtliches Aufenthaltsrecht nach Art. 6 Abs. 1 des Assoziationsratsbeschlusses EWG-Türkei Nr. 1/80 (ARB 1/80) als Arbeitnehmer in ordnungsgemäßem Beschäftigungsverhältnis, so dass der minderjährige Unionsbürger bei Versagung eines Freizügigkeitsrechts aus Art. 21 Abs. 1 AEUV seinen Vater nicht entbehren müsse. Die Klage hatte in erster Instanz keinen Erfolg. Der Verwaltungsgerichtshof hat die Verlustfeststellung hingegen aufgehoben. Der Kläger besitze ein aus Art. 21 Abs. 1 AEUV folgendes Freizügigkeitsrecht, weil er tatsächlich die Sorge für einen minderjährigen Unionsbürger wahrnehme und diesem Unterhalt gewähre. Der Sohn sei trotz Bezugs von Sozialleistungen aus eigenem Recht freizügigkeitsberechtigt, weil er inzwischen über seine Mutter ein Daueraufenthaltsrecht erworben habe. Die Mutter erfülle die erforderlichen Zeiten als Arbeitnehmerin; sie habe diese Eigenschaft nicht durch eine vorübergehende Arbeitslosigkeit von 2 ¼ Jahren verloren. Dass sie wegen der lebensbedrohlichen Erkrankung ihres sehr kleinen Kindes und besonderen Betreuungserfordernissen während dieser Zeit nicht habe arbeiten können, sei der Erwerbsminderung wegen eigener Krankheit im Sinne von Art. 7 Abs. 3 RL 2004/38/EG und § 2 Abs. 3 FreizügG/EU gleichzustellen. Das Freizügigkeitsrecht des Klägers aus Art. 21 Abs. 1 AEUV sei auch nicht dadurch entfallen, dass dieser aufgrund seiner mehr als vierjährigen Beschäftigung im Bundesgebiet im Juni 2019 die dritte Verfestigungsstufe des Art. 6 Abs. 1 3. Spiegelstrich ARB 1/80 erreicht und damit ein assoziationsrechtliches Aufenthaltsrecht erworben habe.


Gegen diese Rechtsauffassung wendet sich der Beklagte, der das Freizügigkeitsrecht aus Art. 21 AEUV insoweit für subsidiär hält, mit seiner Revision.


Pressemitteilung Nr. 32/2024 vom 13.06.2024

Unionsrechtliches Freizügigkeitsrecht kann neben anderweitigem Aufenthaltsrecht bestehen

Das abgeleitete Freizügigkeitsrecht, das ein drittstaatsangehöriger Elternteil eines Unionsbürgerkindes unter bestimmten Voraussetzungen aus Art. 21 Abs. 1 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) herleiten kann, setzt nicht voraus, dass diesem kein anderweitiges Aufenthaltsrecht zusteht. Insbesondere steht der Besitz eines assoziationsrechtlichen Aufenthaltsrechts als türkischer Arbeitnehmer dem Erwerb oder Fortbestand des Freiheitszügigkeitsrechts nicht entgegen. Dies hat das Bundesverwaltungsgericht in Leipzig heute entschieden.


Der Kläger ist türkischer Staatsangehöriger und Vater eines 2011 geborenen Sohnes mit bulgarischer Staatsangehörigkeit. Er wendet sich gegen die Feststellung des Verlusts seines Freizügigkeitsrechts (§ 5 Abs. 4 Freizügigkeitsgesetz/EU). Diese war unter anderem damit begründet worden, der Kläger habe bereits ein assoziationsrechtliches Aufenthaltsrecht nach Art. 6 Abs. 1 des Assoziationsratsbeschlusses EWG-Türkei Nr. 1/80 (ARB 1/80) als Arbeitnehmer in ordnungsgemäßem Beschäftigungsverhältnis erworben, so dass der minderjährige Unionsbürger bei Versagung eines Freizügigkeitsrechts aus Art. 21 Abs. 1 AEUV nicht von seinem Vater getrennt werde. Die Klage hatte in erster Instanz keinen Erfolg. Der Verwaltungsgerichtshof hat die Verlustfeststellung hingegen aufgehoben. Der Kläger besitze ein aus Art. 21 Abs. 1 AEUV folgendes Freizügigkeitsrecht, weil er tatsächlich die Sorge für einen minderjährigen Unionsbürger wahrnehme und diesem Unterhalt gewähre. Der Sohn sei trotz Bezugs von Sozialleistungen aus eigenem Recht freizügigkeitsberechtigt, weil er inzwischen über seine Mutter ein Daueraufenthaltsrecht erworben habe. Das Freizügigkeitsrecht des Klägers aus Art. 21 Abs. 1 AEUV sei nicht dadurch entfallen, dass er ein assoziationsrechtliches Aufenthaltsrecht erworben habe.


Der 1. Senat des Bundesverwaltungsgerichts hat die Revision des Beklagten zurückgewiesen. Das Berufungsgericht hat im Einklang mit Bundesrecht entschieden, dass der Kläger ein Aufenthaltsrecht aus Art. 21 Abs. 1 AEUV erworben und im maßgeblichen Zeitpunkt noch besessen hat. Dem steht nicht entgegen, dass der Kläger auch über ein assoziationsrechtliches Aufenthaltsrecht als türkischer Arbeitnehmer nach Art. 6 Abs. 1 ARB 1/80 verfügen mag. Für eine Nachrangigkeit der Freizügigkeitsrechte aus Art. 21 AEUV und der Richtlinie 2004/38/EG gegenüber anderen unionsrechtlichen (oder nationalen) Aufenthaltsrechten bieten die einschlägigen unionsrechtlichen Regelungen auch unter Berücksichtigung ihrer Systematik und Zielsetzung keine ernsthaften Anhaltspunkte. Der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union lässt sich im Gegenteil entnehmen, dass das Bestehen eines Aufenthaltsrechts aus abgeleitetem Unionsrecht lediglich einem Aufenthaltsrecht aus Art. 20 AEUV entgegensteht, nicht aber einem Aufenthaltsrecht aus Art. 21 AEUV, das den Freizügigkeitsrechten nach der Richtlinie 2004/38/EG gleichsteht. Abgeleitetes Unionsrecht in diesem Sinne sind auch die Beschlüsse des Assoziationsrats EWG-Türkei.


BVerwG 1 C 5.23 - Urteil vom 13. Juni 2024

Vorinstanzen:

VGH München, VGH 10 B 20.2616 - Urteil vom 16. November 2022 -

VG Augsburg, VG Au 6 K 18.116, VG Au 6 K 18.395 - Urteil vom 17. Juni 2020 -


Urteil vom 13.06.2024 -
BVerwG 1 C 5.23ECLI:DE:BVerwG:2024:130624U1C5.23.0

Unionsrechtliches Freizügigkeitsrecht neben anderweitigem Aufenthaltsrecht möglich

Leitsatz:

Das abgeleitete Freizügigkeitsrecht aus Art. 21 AEUV, das einem drittstaatsangehörigen Elternteil eines Unionsbürgerkindes unter bestimmten Voraussetzungen zur Führung eines normalen Familienlebens im Aufnahmemitgliedstaat des Unionsbürgers zusteht, besteht unabhängig davon, ob der Elternteil ein anderweitiges Aufenthaltsrecht aus nationalem Recht oder abgeleitetem Unionsrecht besitzt (Fortführung von BVerwG, Urteil vom 23. September 2020 - 1 C 27.19 - NVwZ 2021, 164).

  • Rechtsquellen
    AEUV Art. 20, 21
    RL 2004/38/EG Art. 2 Nr. 2 Buchst. d, Art. 3 Abs. 1, Art. 7 Abs. 1 und 2, Art. 16
    FreizügG/EG § 1 Abs. 2 Nr. 3, § 2 Abs. 1 und 2 Nr. 6 und 7, §§ 3, 3a, 4a, 5 Abs. 4, § 11 Abs. 1 und 14, § 12a
    ARB 1/80 Art. 6

  • VG Augsburg - 17.06.2020 - AZ: Au 6 K 18.116
    VGH München - 16.11.2022 - AZ: 10 B 20.2616

  • Zitiervorschlag

    BVerwG, Urteil vom 13.06.2024 - 1 C 5.23 - [ECLI:DE:BVerwG:2024:130624U1C5.23.0]

Urteil

BVerwG 1 C 5.23

  • VG Augsburg - 17.06.2020 - AZ: Au 6 K 18.116
  • VGH München - 16.11.2022 - AZ: 10 B 20.2616

In der Verwaltungsstreitsache hat der 1. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
auf die mündliche Verhandlung vom 13. Juni 2024
durch den Vorsitzenden Richter am Bundesverwaltungsgericht Dr. Keller,
die Richter am Bundesverwaltungsgericht Dollinger und Böhmann
und die Richterinnen am Bundesverwaltungsgericht Dr. Wittkopp und Fenzl
für Recht erkannt:

  1. Die Revision des Beklagten gegen das Urteil des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs vom 16. November 2022 wird zurückgewiesen.
  2. Der Beklagte trägt die Kosten des Revisionsverfahrens.

Gründe

I

1 Der Kläger wendet sich gegen die Feststellung des Beklagten, dass er sein Freizügigkeitsrecht als drittstaatsangehöriger Familienangehöriger eines Unionsbürgers verloren habe.

2 Der Kläger, ein türkischer Staatsangehöriger, reiste zuletzt 2008 im Wege des Ehegattennachzugs zu einer deutschen Staatsangehörigen in das Bundesgebiet ein. Nach Trennung von der Ehefrau wurde seine Aufenthaltserlaubnis im April 2010 nicht weiter verlängert; die Ehe wurde geschieden.

3 Im September 2011 erkannte der Kläger die Vaterschaft für den Sohn einer bulgarischen Staatsangehörigen an, der im Juni 2011 geboren wurde und ebenfalls die bulgarische Staatsangehörigkeit besitzt. Er lebte zunächst mit dem Sohn und dessen Mutter zusammen. Im März 2012 erhielt er eine Aufenthaltskarte für einen Familienangehörigen nach § 5 Abs. 2 Satz 1 FreizügG/EU a. F. mit einer Gültigkeit von fünf Jahren.

4 Ab August 2014 lebte der Kläger getrennt von seinem Sohn und dessen Mutter. Im April 2017 trug er vor, sein Sohn sei mittlerweile an Leukämie erkrankt. Er leiste für diesen monatlich 160,00 € Unterhalt, besuche ihn drei- oder viermal in der Woche jeweils für etwa drei Stunden und am Wochenende sei der Sohn bei ihm. Die Personensorge liege bei der Mutter. Die Kindesmutter erklärte, sie habe aufgrund von Fehltagen wegen der Betreuung ihres Sohnes die von 2011 bis 2014 ausgeübte Arbeit durch Kündigung verloren. Seit dem Jahr 2016 absolviere sie in Teilzeit eine Ausbildung. Aus einer Bestätigung der Universitätsklinik in U. ging hervor, dass die (teil-)stationäre Behandlung der lebensgefährlichen Erkrankung des Kindes insgesamt zwei Jahre dauern werde und dass während der gesamten Therapie aus medizinischen Gründen zwingend eine Bezugsperson ständig vor Ort sein müsse. Im Oktober 2017 gaben der Kläger und die Mutter des Sohnes eine Erklärung über die gemeinsame elterliche Sorge für den Sohn ab.

5 Im August 2017 stellte das Landratsamt G. dem Kläger im Hinblick auf dessen durchgehende Erwerbstätigkeit seit Juni 2015 eine Aufenthaltserlaubnis nach § 4 Abs. 5 AufenthG a. F. in Verbindung mit Art. 6 ARB 1/80 aus.

6 Mit Bescheid vom 27. Februar 2018 lehnte das Landratsamt einen Antrag des Klägers auf Ausstellung einer Daueraufenthaltskarte nach dem Freizügigkeitsgesetz/EU ab (Nr. 1), stellte nach § 5 Abs. 4 dieses Gesetzes den Verlust des Rechts auf Einreise und Aufenthalt für die Bundesrepublik Deutschland fest und forderte den Kläger zur Rückgabe der Aufenthaltskarte auf (Nr. 2). Die Erteilung einer Niederlassungserlaubnis lehnte es ab (Nr. 3). Die Verlustfeststellung begründete das Landratsamt damit, der Kläger unterfalle nicht dem Freizügigkeitsgesetz/EU und habe auch kein Freizügigkeitsrecht nach Art. 21 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV), weil das Unionsbürgerkind sein Freizügigkeitsrecht bereits von seiner freizügigkeitsberechtigten Mutter ableiten könne. Jedenfalls habe der Kläger als türkischer Arbeitnehmer ein Aufenthaltsrecht im Bundesgebiet nach Art. 6 ARB 1/80, sodass das Unionsbürgerkind bei Versagung eines Anspruchs aus Art. 21 AEUV seinen Vater nicht entbehren müsse und daher in der Ausübung des Freizügigkeitsrechts nicht behindert werde.

7 Die Klage gegen diesen Bescheid hatte vor dem Verwaltungsgericht keinen Erfolg. Mit seiner Berufung wandte sich der Kläger nur noch gegen die Verlustfeststellung und die Aufforderung zur Rückgabe der Aufenthaltskarte und hatte insoweit Erfolg. Der Verwaltungsgerichtshof hat diese Regelungen mit Urteil vom 16. November 2022 als rechtswidrig aufgehoben, weil der Kläger ein unmittelbar aus Art. 21 Abs. 1 AEUV abgeleitetes Freizügigkeitsrecht besitze. Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union bestehe ein solches Freizügigkeitsrecht, wenn ein tatsächlich das Sorgerecht wahrnehmender Elternteil, der Staatsangehöriger eines Drittstaats sei, dem minderjährigen Unionsbürger Unterhalt gewähre. Voraussetzung sei, dass das Unionsbürgerkind aus eigenem Recht freizügigkeitsberechtigt sei. Es müsse daher entweder über ausreichende Existenzmittel im Sinne von Art. 7 Abs. 1 Buchst. b RL 2004/38/EG oder bereits über ein Daueraufenthaltsrecht verfügen. Diese Voraussetzungen lägen vor. Der Sohn habe inzwischen - über seine Mutter - ein Daueraufenthaltsrecht nach § 4a Abs. 1 Satz 1 FreizügG/EU erworben. Die Kindesmutter habe als Arbeitnehmerin ein solches Daueraufenthaltsrecht erworben, weil sie mindestens fünf Jahre ununterbrochen die Freizügigkeitsvoraussetzungen des Art. 7 Abs. 1 RL 2004/38/EG erfüllt habe. Die von der Kindesmutter ausgeübten beruflichen Tätigkeiten im Zeitraum Oktober 2011 bis Juli 2018 begründeten sämtlich die Arbeitnehmereigenschaft im Sinne von Art. 45 Abs. 1 AEUV. Diese Eigenschaft sei auch nicht dadurch verloren gegangen, dass ihr aufgrund von Fehlzeiten, die auf der Krankheit des Sohnes beruhten, gekündigt worden sei, sodass sie von Juni 2014 bis zum September 2016 arbeitslos gewesen sei und in dieser Zeit den leukämiekranken Sohn gepflegt habe. Die Mutter sei in diesem Zeitraum entsprechend § 2 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 FreizügG/EU als infolge Krankheit oder vergleichbar anerkennenswerter Gründe vorübergehend erwerbsgemindert anzusehen. Sie habe deshalb mit Ablauf des 18. Oktober 2016 ein Daueraufenthaltsrecht erlangt. Damit sei auch der Sohn daueraufenthaltsberechtigt geworden und verfüge seither über ein Freizügigkeitsrecht aus eigenem Recht.

8 Das vom Kläger erworbene Freizügigkeitsrecht aus Art. 21 Abs. 1 AEUV sei nicht dadurch entfallen, dass er seit dem 1. Juni 2019 aufgrund seiner mittlerweile mehr als vierjährigen Beschäftigung im Bundesgebiet die dritte Verfestigungsstufe des Art. 6 Abs. 1 Spiegelstrich 3 ARB 1/80 erreicht und damit ein assoziationsrechtliches Aufenthaltsrecht erworben habe. Ein solches anderweitiges Aufenthaltsrecht stehe nur einem Aufenthaltsrecht aus Art. 20 AEUV entgegen; für Art. 21 AEUV gelte dies nicht.

9 Gegen das Urteil hat der Beklagte die vom Verwaltungsgerichtshof zugelassene Revision eingelegt. Er vertritt die Auffassung, das aus Art. 21 Abs. 1 AEUV abgeleitete Freizügigkeitsrecht des Klägers sei jedenfalls mit dem Erwerb eines supranationalen assoziationsrechtlichen Aufenthaltsrechts nach Art. 6 Abs. 1 Spiegelstrich 3 ARB 1/80 entfallen.

10 Der Kläger verteidigt das angefochtene Urteil.

11 Die Vertreterin des Bundesinteresses bezweifelt das Rechtsschutzinteresse des Klägers und hält die Klärung des Verhältnisses zwischen dem Bestehen eines Freizügigkeitsrechts und einem sonstigen Aufenthaltsrecht durch den Gerichtshof der Europäischen Union für erforderlich.

II

12 Die zulässige Revision ist unbegründet. Der Verwaltungsgerichtshof hat im Einklang mit Bundesrecht (§ 137 Abs. 1 Nr. 1 VwGO) entschieden, dass die angefochtene Verlustfeststellung nicht von § 5 Abs. 4 des Gesetzes über die allgemeine Freizügigkeit von Unionsbürgern (Freizügigkeitsgesetz/EU - FreizügG/EU) gedeckt ist und daher aufzuheben war.

13 Maßgeblich für die rechtliche Beurteilung der Feststellung des Verlusts des Freizügigkeitsrechts ist grundsätzlich die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung oder Entscheidung des Tatsachengerichts (BVerwG, Urteil vom 16. Juli 2015 - 1 C 22.14 [ECLI:​​DE:​​BVerwG:​​2015:​​160715U1C22.14.0] - Buchholz 402.261 § 4a FreizügG/EU Nr. 4 Rn. 11). Rechtsänderungen während des Revisionsverfahrens sind zu beachten, wenn das Berufungsgericht - entschiede es anstelle des Bundesverwaltungsgerichts - sie zu berücksichtigen hätte (BVerwG, Urteil vom 16. Juli 2015 - 1 C 22.14 - Buchholz 402.261 § 4a FreizügG/EU Nr. 4 Rn. 11). Der revisionsgerichtlichen Beurteilung zugrunde zu legen ist daher das Freizügigkeitsgesetz/EU vom 30. Juli 2004 (BGBl. I S. 1950, 1986), zuletzt geändert durch Art. 4 des Gesetzes zur Verbesserung der Rückführung vom 21. Februar 2024 (BGBl. I Nr. 54), das am 27. Februar 2024 in Kraft getreten ist.

14 1. Die Klage gegen die Verlustfeststellung und die Aufforderung zur Rückgabe der Aufenthaltskarte ist als Anfechtungsklage statthaft und auch im Übrigen zulässig. Dem Kläger fehlt nicht deshalb das Rechtsschutzinteresse, weil er nach der unstreitigen Auffassung der Beteiligten über ein assoziationsrechtliches Aufenthaltsrecht nach Art. 6 Abs. 1 des Assoziationsratsbeschlusses EWG-Türkei Nr. 1/80 (ARB 1/80) als türkischer Arbeitnehmer verfügt. Das Rechtsschutzbedürfnis fehlt nur, wenn die Klage für den Kläger offensichtlich keinerlei rechtliche oder tatsächliche Vorteile bringen kann. Die Nutzlosigkeit muss eindeutig sein. Im Zweifel ist das Rechtsschutzbedürfnis zu bejahen (vgl. BVerwG, Urteil vom 10. Oktober 2019 - 10 C 3.19 [ECLI:​​DE:​​BVerwG:​​2019:​​101019U10C3.19.0] - BVerwGE 166, 368 Rn. 14). So liegt es hier. Auch wenn ein - vom Kläger hier beanspruchtes - unmittelbar aus Art. 21 Abs. 1 AEUV abgeleitetes Aufenthaltsrecht nicht nach § 4a FreizügG/EG verfestigungsfähig sein sollte (so wohl EuGH, Urteil vom 10. März 2022 - C-247/20 [ECLI:​​EU:​​C:​​2022:​​177], VI - Rn. 56), genießen Unionsbürger und ihre - auch drittstaatsangehörigen - Familienangehörigen etwa gemäß Art. 24 der Richtlinie 2004/38/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 (ABl. L 229 S. 35) - RL 2004/38/EG - ein weiterreichendes Recht auf Inländergleichbehandlung als assoziationsberechtigte türkische Staatsangehörige (vgl. insoweit Art. 10 ARB 1/80). Es ist nicht ausgeschlossen, dass sich darauf auch Drittstaatsangehörige mit einem Aufenthaltsrecht nach Art. 21 AEUV berufen können. Zudem könnte die Bestandskraft der Verlustfeststellung dem Kläger bei einem Wegfall des assoziationsrechtlichen Aufenthaltsrechts entgegengehalten werden.

15 2. Die Anfechtungsklage ist begründet. Die Verlustfeststellung und die Aufforderung zur Rückgabe der Aufenthaltskarte sind rechtswidrig und verletzen den Kläger in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO), weil der Kläger im maßgeblichen Zeitpunkt freizügigkeitsberechtigt war.

16 Rechtsgrundlage für die Verlustfeststellung ist § 5 Abs. 4 FreizügG/EU. Danach kann der Verlust des Rechts nach § 2 Abs. 1 FreizügG/EU festgestellt und bei Familienangehörigen, die nicht Unionsbürger sind, die Aufenthaltskarte eingezogen werden, wenn die Voraussetzungen dieses Rechts innerhalb von fünf Jahren nach Begründung des ständigen rechtmäßigen Aufenthalts im Bundesgebiet entfallen sind oder diese nicht vorliegen. Nach Ablauf dieser Frist erwerben Unionsbürger und ihre Familienangehörigen regelmäßig ein Daueraufenthaltsrecht und erlischt die Möglichkeit einer Verlustfeststellung nach § 5 Abs. 4 FreizügG/EU (vgl. BVerwG, Urteil vom 28. März 2019 - 1 C 9.18 [ECLI:​​DE:​​BVerwG:​​2019:​​280319U1C9.18.0] - BVerwGE 165, 128 Rn. 10). Diese Voraussetzungen für eine Verlustfeststellung hat das Berufungsgericht zutreffend als nicht erfüllt angesehen, weil der Kläger im maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung vor dem Berufungsgericht freizügigkeitsberechtigt war. Dies folgt zwar nicht aus einer unmittelbaren Anwendung der Regelungen des Freizügigkeitsgesetzes/EU (a). Dem Kläger steht aber in Anwendung der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union (Gerichtshof) ein Aufenthaltsrecht aus Art. 21 Abs. 1 AEUV zu, welches ebenfalls ein Freizügigkeitsrecht im Sinne des § 2 Abs. 1 FreizügG/EU vermittelt (b). Dem Erwerb und Fortbestand dieses Freizügigkeitsrechts steht nicht entgegen, dass der Kläger auch über ein anderweitiges Aufenthaltsrecht - hier nach Art. 6 Abs. 1 ARB 1/80 als türkischer Arbeitnehmer - verfügen mag (c).

17 a) Der Kläger hat zunächst nicht schon dadurch ein Freizügigkeitsrecht erworben, dass ihm nach § 5 Abs. 1 FreizügG/EU eine Aufenthaltskarte als drittstaatsangehörigem Familienangehörigen eines Unionsbürgers ausgestellt worden ist. Die Aufenthaltskarte ist kein Verwaltungsakt; sie wirkt nicht rechtsbegründend, sondern dokumentiert das Bestehen eines unionsrechtlichen Aufenthaltsrechts nach dem Freizügigkeitsgesetz/EU lediglich deklaratorisch (BVerwG, Urteil vom 23. September 2020 - 1 C 27.19 [ECLI:​​DE:​​BVerwG:​​2020:​​230920U1C27.19.0] - NVwZ 2021, 164 Rn. 14).

18 Der Kläger ist nicht nach § 2 Abs. 2 Nr. 6 i. V. m. § 1 Abs. 1 Nr. 4 und Abs. 2 Nr. 3 Buchst. d sowie §§ 3 und 4 FreizügG/EU als Familienangehöriger eines Unionsbürgers, der von seinem Freizügigkeitsrecht Gebrauch gemacht hat, freizügigkeitsberechtigt. Ein Drittstaatsangehöriger, der seinem freizügigkeitsberechtigten Unionsbürgerkind Unterhalt gewährt und nicht - wie in den zitierten Regelungen vorausgesetzt - von diesem Unterhalt erhält, kann sich nicht auf Art. 2 Nr. 2 Buchst. d RL 2004/38/EG und § 1 Abs. 2 Nr. 3 Buchst. d FreizügG/EU berufen (BVerwG, Urteil vom 23. September 2020 - 1 C 27.19 - NVwZ 2021, 164 Rn. 17; EuGH, Urteil vom 8. November 2012 - C-40/11 [ECLI:​​EU:​​C:​​2012:​​691], Iida - Rn. 55). Zutreffend hat das Berufungsgericht ferner das Vorliegen der Voraussetzungen für die Verleihung eines Aufenthaltsrechts als "nahestehende Person" eines Unionsbürgers (§ 3a FreizügG/EU) verneint.

19 Aus § 12a FreizügG/EU kann der Kläger unmittelbar kein Freizügigkeitsrecht herleiten. Mit dieser durch Gesetz vom 12. November 2020 (BGBl. I S. 2416) geschaffenen Regelung hat der Gesetzgeber die Rechtsprechung des Gerichtshofs zu Fallgestaltungen, in denen drittstaatsangehörige Familienmitglieder eines Unionsbürgers zwar nicht aus der Richtlinie 2004/38/EG, jedoch unmittelbar aus Art. 21 Abs. 1 AEUV ein abgeleitetes Aufenthaltsrecht in einem Mitgliedstaat herleiten können, teilweise in das Freizügigkeitsgesetz/EU übernommen (vgl. BT-Drs. 19/21750 S. 35 f.). Das gilt jedoch nur für die Fallkonstellationen von Familienangehörigen und nahe stehenden Personen von Deutschen, die von ihrem Recht auf Freizügigkeit nach Art. 21 AEUV nachhaltig Gebrauch gemacht haben; die hier betroffene Fallgruppe der Sorge für einen in einem anderen Mitgliedstaat als dem, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt, lebenden freizügigkeitsberechtigten Unionsbürger (dazu näher unter b) aa)) ist hingegen nicht erfasst (siehe auch BVerwG, Urteil vom 23. September 2020 - 1 C 27.19 - NVwZ 2021, 164 Rn. 22). Ob insoweit die Voraussetzungen für eine analoge Anwendung erfüllt sind (so wohl Dienelt, in: Bergmann/​Dienelt, Ausländerrecht, 14. Aufl. 2022, § 12a FreizügG/EU Rn. 26-34), kann offenbleiben, da der unmittelbare Rückgriff auf Art. 21 AEUV (siehe unter b)) der Sache nach zum gleichen Ergebnis führt.

20 b) Mit dem Verwaltungsgerichtshof ist davon auszugehen, dass der Anwendungsbereich des Art. 21 Abs. 1 AEUV für das vom Kläger als drittstaatsangehörigem Familienangehörigen eines Unionsbürgers beanspruchte Aufenthaltsrecht eröffnet ist.

21 aa) Gemäß Art. 21 Abs. 1 AEUV hat jeder Unionsbürger das Recht, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten vorbehaltlich der in den Verträgen und in den Durchführungsvorschriften vorgesehenen Beschränkungen und Bedingungen frei zu bewegen und aufzuhalten (Freizügigkeitsrecht). Der Gerichtshof hat in besonders gelagerten Fallkonstellationen anerkannt, dass drittstaatsangehörige Familienangehörige eines Unionsbürgers, die zwar aus der Richtlinie 2004/38/EG kein abgeleitetes Recht auf Aufenthalt in einem Mitgliedstaat herleiten können, dennoch auf der Grundlage von Art. 21 Abs. 1 AEUV die Anerkennung eines Rechts erreichen können (EuGH, Urteile vom 12. März 2014 - C-456/12 [ECLI:​​EU:​​C:​​2014:​​135], O. und B. - Rn. 44 ff., vom 10. Mai 2017 - C-133/15 [ECLI:​​EU:​​C:​​2017:​​354], Chavez-Vilchez u. a. - Rn. 54 und vom 27. Juni 2018 - C-230/17 [ECLI:​​EU:​​C:​​2018:​​497], Altiner und Ravn - Rn. 27 m. w. N.). Ein unmittelbar aus Art. 21 Abs. 1 AEUV hergeleitetes Aufenthaltsrecht für Familienangehörige eines Unionsbürgers vermittelt nicht nur ein Recht auf Einreise, Aufenthalt und Wohnsitznahme, sondern ein Freizügigkeitsrecht im Sinne des § 2 Abs. 1 FreizügG/EU. In Art. 21 Abs. 1 AEUV ist die Freizügigkeit der Unionsbürger primärrechtlich verankert, die auch das Recht umfasst, im Aufnahmemitgliedstaat ein normales Familienleben zu führen. Dieses Aufenthaltsrecht steht auf einer Stufe mit den Freizügigkeitsrechten aus der Richtlinie 2004/38/EG. Es darf in den Voraussetzungen für die Gewährung nicht strenger sein als das Aufenthaltsrecht nach der Richtlinie 2004/38/EG, die darauf anzuwenden ist (vgl. BVerwG, Urteil vom 23. September 2020 - 1 C 27.19 - NVwZ 2021, 164 Rn. 19; EuGH, Urteile vom 12. März 2014 - C-456/12 - Rn. 50 und 61 und vom 14. November 2017 - C-165/16 [ECLI:​​EU:​​C:​​2017:​​862], Lounes - Rn. 45 und 61).

22 Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs steht Verwandten in aufsteigender Linie, die mangels Unterhaltsgewährung durch den Unionsbürger nicht Familienangehörige im Sinne von Art. 2 Nr. 2 Buchst. d RL 2004/38/EG sind, dennoch aus Art. 21 AEUV und der Richtlinie 2004/38/EG ein Aufenthaltsrecht als drittstaatsangehöriger Elternteil im Aufnahmemitgliedstaat des Kindes zu, wenn sie tatsächlich für das Kind sorgen und dieses über ausreichende Existenzmittel im Sinne von Art. 7 Abs. 1 Buchst. b RL 2004/38/EG verfügt (vgl. EuGH, Urteile vom 10. Oktober 2013 - C-86/12 [ECLI:​​EU:​​C:​​2013:​​645], Alokpa u. a. - Rn. 29, vom 8. November 2012 - C-40/11 - Rn. 68 f. und vom 19. Oktober 2004 - C-200/02 [ECLI:​​EU:​​C:​​2004:​​639], Zhu und Chen - Rn. 45). Ansonsten würde dem Aufenthaltsrecht des Kindes jede praktische Wirksamkeit genommen. Denn der Genuss des Aufenthaltsrechts durch ein Kind im Kleinkindalter setzt offenkundig voraus, dass sich die für das Kind tatsächlich sorgende Person bei diesem aufhalten darf (EuGH, Urteil vom 19. Oktober 2004 - C-200/02 - Rn. 45).

23 bb) Im Einzelnen setzt das aus Art. 21 Abs. 1 AEUV folgende Aufenthaltsrecht eines Drittstaatsangehörigen voraus, dass sich der minderjährige Unionsbürger, von dem es abgeleitet wird, in einem anderen Mitgliedstaat aufhält, als demjenigen, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt (1), dass der Drittstaatsangehörige tatsächlich die Sorge für diesen Unionsbürger ausübt (2), und dass der Unionsbürger aus eigenem Recht freizügigkeitsberechtigt ist (3). Diese Voraussetzungen sind sämtlich erfüllt.

24 (1) Der minderjährige Unionsbürger muss sich in einen anderen als den Mitgliedstaat, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt, begeben haben oder sich dort aufhalten (vgl. Art. 3 Abs. 1 RL 2004/38/EG). Andernfalls wäre lediglich der durch Art. 20 AEUV vermittelte "Kernbestandsschutz" der Unionsbürgerschaft eröffnet (vgl. dazu etwa EuGH, Urteile vom 8. März 2011 - C-34/09 [ECLI:​​EU:​​C:​​2011:​​124], Ruiz Zambrano - Rn. 42 ff. und vom 27. Februar 2020 - C-836/18 [ECLI:​​EU:​​C:​​2020:​​119] - Rn. 33 ff.). Ausreichend dafür ist, dass der Unionsbürger - wie hier der Sohn des Klägers - in einem anderen Mitgliedstaat als demjenigen, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt, geboren wurde und sich dort seither unverändert aufhält (EuGH, Urteil vom 19. Oktober 2004 - C-200/02 - Rn. 18 f.).

25 (2) Die Voraussetzung der tatsächlichen Sorge für einen minderjährigen Unionsbürger ist ebenfalls erfüllt. Nach den für das Revisionsgericht bindenden tatsächlichen Feststellungen des Berufungsurteils nimmt der Kläger für seinen minderjährigen Sohn tatsächlich - gemeinsam mit der Kindesmutter — die elterliche Sorge wahr und leistet diesem auch Unterhalt.

26 (3) Der Sohn des Klägers ist aus eigenem Recht freizügigkeitsberechtigt.

27 (a) Nach der Rechtsprechung des Senats muss der Unionsbürger aus eigenem Recht - und nicht nur abgeleitet von dem anderen Elternteil - freizügigkeitsberechtigt sein. Denn nach Art. 7 Abs. 2 RL 2004/38/EG ist für ein abgeleitetes Aufenthaltsrecht eines drittstaatsangehörigen Familienangehörigen erforderlich, dass die Referenzperson ihrerseits aus eigenem Recht (also nach Art. 7 Abs. 1 Buchst. a bis c RL 2004/38/EG) und nicht lediglich aus abgeleitetem Recht (nach Art. 7 Abs. 1 Buchst. d RL 2004/38/EG) freizügigkeitsberechtigt ist (BVerwG, Urteil vom 23. September 2020 - 1 C 27.19 - NVwZ 2021, 164 Rn. 26 f.). Über ein eigenständiges Freizügigkeitsrecht im Aufnahmemitgliedstaat verfügt der minderjährige Unionsbürger jedenfalls dann, wenn er die Voraussetzungen des Art. 7 Abs. 1 Buchst. b RL 2004/38/EG erfüllt, also über ausreichende Existenzmittel und einen umfassenden Krankenversicherungsschutz verfügt. Ausreichend ist, wenn diese Mittel dem Unionsbürger zur Verfügung stehen, auch wenn sie letztlich von einem Elternteil stammen (BVerwG, Urteil vom 23. September 2020 - 1 C 27.19 - NVwZ 2021, 164 Rn. 31; EuGH, Urteil vom 10. Oktober 2013 - C-86/12 - Rn. 27). Das Fehlen ausreichender Existenzmittel und eines umfassenden Krankenversicherungsschutzes in der Person des Kindes steht einem abgeleiteten Aufenthaltsrecht des Elternteils aus Art. 21 AEUV indes nicht entgegen, wenn das Kind ein Daueraufenthaltsrecht nach § 4a FreizügG/EU erworben hat. Diese vom Berufungsgericht vertretene Rechtsauffassung ist mit Bundesrecht vereinbar. Ein Daueraufenthaltsrecht nach § 4a Abs. 1 FreizügG/EU, Art. 16 Abs. 1 RL 2004/38/EG ist nicht mehr an die Voraussetzungen des Kapitels III der Richtlinie und insbesondere von Art. 7 Abs. 1 Buchst. b RL 2004/38/EG geknüpft (vgl. EuGH, Urteile vom 13. September 2016 - C-165/14 [ECLI:​​EU:​​C:​​2016:​​675], Rendón Marín - Rn. 47 und 53 und vom 10. März 2022 - C-247/20 - Rn. 54 und 60). Mit dem - auch abgeleiteten - Erwerb eines Daueraufenthaltsrechts wird das Aufenthaltsrecht des Kindes von demjenigen des Elternteils, von dem es den Erwerb gegebenenfalls ableitet, unabhängig und stellt mithin ein Freizügigkeitsrecht aus eigenem Recht dar.

28 (b) Auf der Grundlage seiner für den Senat bindenden (§ 137 Abs. 2 VwGO) tatsächlichen Feststellungen ist das Berufungsgericht zutreffend zu dem Ergebnis gekommen, dass der Sohn des Klägers im maßgeblichen Zeitpunkt der zweitinstanzlichen mündlichen Verhandlung bereits ein Daueraufenthaltsrecht nach § 4a Abs. 1 Satz 1 FreizügG/EU bzw. Art. 16 Abs. 1 RL 2004/38/EG innehatte. Dass er nicht über ausreichende Existenzmittel im Sinne von Art. 7 Abs. 1 Buchst. b RL 2004/38/EG verfügte, ist deshalb unschädlich.

29 Der Sohn des Klägers hat sich seit fünf Jahren ständig rechtmäßig im Bundesgebiet aufgehalten, weil er während einer Aufenthaltszeit von mindestens fünf Jahren ununterbrochen die Freizügigkeitsvoraussetzungen des Art. 7 Abs. 1 RL 2004/38/EG erfüllt hat (vgl. hierzu BVerwG, Urteil vom 16. Juli 2015 - 1 C 22.14 - ZAR 2015, 399 Leitsatz 2). Die hinsichtlich des Sohnes allein in Betracht kommende Variante des Art. 7 Abs. 1 Buchst. d RL 2004/38/EG setzt voraus, dass er ein Familienangehöriger ist, der einen Unionsbürger, der die Voraussetzungen des Buchstabens a), b) oder c) erfüllt, begleitet oder ihm nachzieht. Diese Voraussetzungen liegen vor.

30 Der Sohn des Klägers ist im Sinne von § 1 Abs. 2 Nr. 3 Buchst. c FreizügG/EU bzw. Art. 2 Nr. 2 Buchst. c RL 2004/38/EG ein Familienangehöriger seiner die Unionsbürgerschaft besitzenden Mutter. Er hat seine Mutter im Sinne von § 3 Abs. 1 Satz 1 FreizügG/EU begleitet. Zutreffend geht der Verwaltungsgerichtshof davon aus, dass der weit auszulegende Begriff des "Begleitens" auch Fälle erfasst, in denen die familiäre Beziehung erst in dem Aufnahmemitgliedstaat - etwa wie hier durch Geburt - begründet wurde (vgl. EuGH, Urteil vom 25. Juli 2008 - C-127/08 [ECLI:​​EU:​​C:​​2008:​​449], Metock u. a. - Rn. 91 ff.).

31 Die Mutter des Kindes hat im Oktober 2016 ihrerseits ein Daueraufenthaltsrecht nach § 4a Abs. 1 Satz 1 FreizügG/EU erworben. Denn sie hat nach der auf der Grundlage der festgestellten Tatsachen nicht zu beanstandenden Rechtsauffassung des Berufungsgerichts während einer Aufenthaltszeit von fünf Jahren ab Oktober 2011 ununterbrochen als Arbeitnehmerin die Freizügigkeitsvoraussetzungen des § 7 Abs. 1 Buchst. a RL 2004/38/EG erfüllt. Die darauf bezogenen Ausführungen des Verwaltungsgerichtshofs (UA Rn. 43 ff.), die der Revisionsführer ausdrücklich teilt, sind revisionsrechtlich nicht zu beanstanden.

32 Mit Bundesrecht vereinbar ist insbesondere die Annahme, die Kindesmutter habe die Eigenschaft als Arbeitnehmerin im Sinne von Art. 45 Abs. 1 AEUV und § 2 Abs. 2 Nr. 1 FreizügG/EU nicht dadurch verloren, dass ihr aufgrund der durch die Krankheit des Sohnes bedingten Fehlzeiten gekündigt worden sei, sodass sie vom 7. Juni 2014 bis zum 4. September 2016 arbeitslos gewesen sei und in diesem Zeitraum den leukämiekranken Sohn gepflegt habe. Nach § 2 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 FreizügG/EU, der Art. 7 Abs. 3 Buchst. a RL 2004/38/EG umsetzt, bleibt das Recht auf Einreise und Aufenthalt für Arbeitnehmer unter anderem bei vorübergehender Erwerbsminderung infolge Krankheit oder Unfall unberührt; der Begriff der Erwerbsminderung umfasst bei richtlinienkonformem Verständnis auch die Arbeitsunfähigkeit. Das Berufungsgericht hat seine Entscheidung ohne Verletzung von Bundesrecht auf eine entsprechende Anwendung dieser Regelung gestützt. Es hat zutreffend ausgeführt, dass Art. 7 Abs. 3 RL 2004/38/EG nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs keine abschließende Aufzählung der Umstände enthält, unter denen einem Arbeitnehmer, der sich nicht mehr in einem Arbeitsverhältnis befindet, dennoch weiterhin die Arbeitnehmereigenschaft zuerkannt werden kann. Dass eine Person dem Arbeitsmarkt des Aufnahmemitgliedstaats zeitweilig nicht zur Verfügung gestanden hat, bedeutet nicht zwingend, dass sie während dieser Zeit nicht weiterhin in den betreffenden Arbeitsmarkt eingegliedert ist, sofern sie - bei Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls - innerhalb eines angemessenen Zeitraums ihre Beschäftigung wieder aufnimmt oder eine andere Beschäftigung findet (vgl. EuGH, Urteile vom 19. Juni 2014 - C-507/12 [ECLI:​​EU:​​C:​​2014:​​2007], Saint Prix - Rn. 38, 42 f. m. w. N. und vom 13. September 2018 - C-618/16 [ECLI:​​EU:​​C:​​2018:​​719], Prefeta - Rn. 37). Trotz der Länge des Zeitraums von hier mehr als zwei Jahren, während dessen die Kindesmutter dem deutschen Arbeitsmarkt nicht zur Verfügung gestanden hat, ist das Berufungsgericht einzelfallbezogen zutreffend davon ausgegangen, dass dieser noch nicht als unangemessen anzusehen ist. Auf die entsprechenden Ausführungen wird Bezug genommen (UA Rn. 48).

33 c) Entgegen der Auffassung der Revision steht dem Erwerb und Fortbestand des Freizügigkeitsrechts des Klägers aus Art. 21 Abs. 1 AEUV nicht entgegen, dass dieser auch über ein anderweitiges unionsrechtliches Aufenthaltsrecht - hier nach Art. 6 Abs. 1 ARB 1/80 als türkischer Arbeitnehmer - verfügen mag. Im Einklang mit Bundesrecht hat der Verwaltungsgerichtshof erkannt, dass ein anderweitiges Aufenthaltsrecht lediglich bei der Prüfung eines Aufenthaltsrechts aus Art. 20 AEUV von anspruchsausschließender Bedeutung ist, nicht aber im Rahmen von Art. 21 AEUV.

34 aa) Der Senat hat bereits entschieden, dass einem unmittelbar aus Art. 21 Abs. 1 AEUV abgeleiteten Aufenthaltsrecht die Möglichkeit der Erteilung eines nationalen Aufenthaltstitels nicht entgegensteht. Ein solches Aufenthaltsrecht vermittelt ein Freizügigkeitsrecht im Sinne des § 2 Abs. 1 FreizügG/EU, auf das die Richtlinie 2004/38/EG entsprechend anwendbar ist. Anders als ein aus Art. 20 AEUV resultierendes Aufenthaltsrecht, das nur "ausnahmsweise" bei "Vorliegen ganz besondere(r) Sachverhalte" besteht, handelt es sich bei dem aus Art. 21 Abs. 1 AEUV folgenden Freizügigkeitsrecht um ein vollwertiges und eigenständiges Recht, in das Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats einzureisen und sich dort aufzuhalten (BVerwG, Urteil vom 23. September 2020 - 1 C 27.19 - NVwZ 2021, 164 Rn. 24). Es wird unmittelbar kraft primären Unionsrechts oder, je nach Sachlage, durch die zu dessen Umsetzung ergangenen Bestimmungen erworben, ohne dass es der Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis bedarf (so bereits BVerwG, Urteil vom 11. September 2019 - 1 C 48.18 [ECLI:​​DE:​​BVerwG:​​2019:​​110919U1C48.18.0] - BVerwGE 166, 251 Rn. 28; siehe auch EuGH, Urteil vom 8. April 1976 - C-48/75 [ECLI:​​EU:​​C:​​1976:​​57], Royer - Rn. 31 ff.). Die Bezeichnung des Rechts als "eigenständig" verkennt nicht, dass es sich bei diesem Recht - ebenso wie bei den aus der Richtlinie folgenden Aufenthaltsrechten drittstaatsangehöriger Familienangehöriger - nicht um ein eigenes Recht des Familienangehörigen, sondern um ein vom Unionsbürger abgeleitetes Freizügigkeitsrecht handelt. Sie bringt vielmehr zum Ausdruck, dass das Freizügigkeitsrecht nicht von anderweitigen Rechtsregimen oder Erlaubnissen außerhalb der die Freizügigkeit der Unionsbürger regelnden Normen (Art. 21 AEUV und Richtlinie 2004/38/EG) abhängig oder diesen nachrangig ist.

35 bb) Für eine Nachrangigkeit der Freizügigkeitsrechte aus Art. 21 AEUV und der Richtlinie 2004/38/EG gegenüber anderen - auch unionsrechtlichen - Aufenthaltsrechten bieten die einschlägigen unionsrechtlichen Regelungen unter Berücksichtigung ihres Wortlauts, ihrer Systematik und Zielsetzung keine ernsthaften Anhaltspunkte. Keiner Bestimmung der Richtlinie lässt sich entnehmen, dass die dort begründeten Freizügigkeitsrechte nicht entstehen oder entfallen sollen, wenn ein anderes (unionsrechtliches) Aufenthaltsrecht besteht. Art. 21 AEUV und die Freizügigkeitsrichtlinie begründen ein eigenständiges aufenthaltsrechtliches Rechtsregime für Unionsbürger und ihre - auch drittstaatsangehörigen - Familienangehörigen, das diesen im Interesse der Unionsbürger eine gegenüber anderen Ausländern privilegierte Rechtsstellung zuteilwerden lässt. Das gilt auch im Vergleich zu assoziationsberechtigten türkischen Staatsangehörigen, deren ebenfalls privilegierte Rechtsstellung in verschiedenen Punkten (etwa bei der Inländergleichbehandlung) hinter derjenigen der freizügigkeitsberechtigten Ausländer zurückbleibt. Damit wäre die Annahme eines "Zurücktretens" einer parallel bestehenden Freizügigkeitsberechtigung hinter einem Aufenthaltsrecht aus dem ARB 1/80 nicht zu vereinbaren. Das Freizügigkeitsrecht des Unionsbürgers, das durch abgeleitete Aufenthaltsrechte seiner drittstaatsangehörigen Familienangehörigen praktische Wirksamkeit erhält, wird in Art. 21 AEUV und den konkretisierenden Regelungen des Sekundärrechts abschließend geregelt. Durch einen Assoziationsratsbeschluss, der ausschließlich die Rechtsstellung türkischer Staatsangehöriger und ihrer Familienangehörigen betrifft, kann es nicht geschmälert werden.

36 cc) Dem entspricht, dass das nationale Recht im Gegenteil von einem Vorrang des Freizügigkeitsrechts ausgeht: Nach § 11 FreizügG/EU regelt das Freizügigkeitsgesetz/EU die Rechtsstellung der von diesem Gesetz erfassten Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen grundsätzlich abschließend. Die Regelungen des Aufenthaltsgesetzes, die auch für diesen Personenkreis entsprechende Anwendung finden, sind in § 11 Abs. 1 FreizügG/EU im Einzelnen aufgelistet. Zu diesen Regelungen zählt § 4 Abs. 2 AufenthG nicht. Ein türkischer Staatsangehöriger, der als Familienangehöriger eines Unionsbürgers nach der Richtlinie freizügigkeitsberechtigt ist, ist deshalb nicht gemäß § 4 Abs. 2 AufenthG verpflichtet, das etwaige gleichzeitige Bestehen eines Aufenthaltsrechts nach dem Assoziationsabkommen EWG/Türkei durch den Besitz einer Aufenthaltserlaubnis nachzuweisen. Das Aufenthaltsgesetz vermittelt insoweit auch keine günstigere Rechtsstellung als das Freizügigkeitsgesetz/EU (vgl. § 11 Abs. 14 Satz 1 FreizügG/EU).

37 dd) Ebenso wie ein Freizügigkeitsrecht in unmittelbarer Anwendung der Freizügigkeitsrichtlinie nicht voraussetzt, dass dem Betroffenen kein anderweitiges Aufenthaltsrecht zusteht, ist auch das aus Art. 21 Abs. 1 AEUV folgende Freizügigkeitsrecht nicht an eine solche Voraussetzung geknüpft. Dadurch unterscheidet sich das in Art. 21 AEUV gründende Freizügigkeitsrecht von einem - stets subsidiären - Aufenthaltsrecht aus Art. 20 AEUV, das dem drittstaatsangehörigen Familienangehörigen eines Unionsbürgers in dem Mitgliedstaat, dessen Staatsangehörigkeit der Unionsbürger besitzt, zu gewähren ist, wenn andernfalls sowohl der Drittstaatsangehörige als auch der Unionsbürger gezwungen wären, das Gebiet der Union als Ganzes zu verlassen (sogenannter Kernbereichsschutz). Diese auch vom Berufungsgericht vertretene Rechtsauffassung findet ihre Bestätigung in der Rechtsprechung des Gerichtshofs. Nur zu Art. 20 AEUV hat der Gerichtshof bisher festgestellt, die Gewährung eines solchen Aufenthaltsrechts könne nur dann in Betracht gezogen werden, wenn der Drittstaatsangehörige, der zur Familie des Unionsbürgers gehört, nicht die Voraussetzungen erfüllt, um auf der Grundlage anderer Bestimmungen und insbesondere nach dem für die Familienzusammenführung geltenden nationalen Recht ein Aufenthaltsrecht in dem Mitgliedstaat zu erhalten, dessen Staatsangehörigkeit der Unionsbürger besitzt (vgl. EuGH, Urteil vom 27. Februar 2020 - C-836/18 - Rn. 41; Fleuß, VerwArch 2022, 201 <234, 241 f.>). Der Gerichtshof hat überdies entschieden, dass auch ein anderweitiges sekundärrechtliches Aufenthaltsrecht nur einem Aufenthaltsrecht nach Art. 20 AEUV entgegensteht (vgl. EuGH, Urteil vom 30. Juni 2016 - C-115/15 [ECLI:​​EU:​​C:​​2016:​​487], NA - Rn. 74), nicht aber einem solchen nach Art. 21 AEUV. Er hat nämlich in einem Fall, in dem ein - zuvor geprüftes - Aufenthaltsrecht aus Art. 20 AEUV daran scheiterte, dass dem minderjährigen Unionsbürger und seinem allein sorgeberechtigten drittstaatsangehörigen Elternteil ein Aufenthaltsrecht nach einer Bestimmung des abgeleiteten Unionsrechts zustand, ausgeführt, Art. 21 AEUV verleihe einem minderjährigen Unionsbürger ein Aufenthaltsrecht im Aufnahmemitgliedstaat, sofern er die in Art. 7 Abs. 1 RL 2004/38/EG vorgesehenen Voraussetzungen erfülle. Sei dies der Fall, erlaube es diese Bestimmung dem die elterliche Sorge für den Unionsbürger tatsächlich wahrnehmenden Elternteil, sich mit ihm im Aufnahmemitgliedstaat aufzuhalten (EuGH, Urteil vom 30. Juni 2016 - C-115/15 - Rn. 69-81).

38 ee) Der Senat war nicht verpflichtet, die Frage des Verhältnisses eines aus Art. 21 AEUV abgeleiteten Freizügigkeitsrechts zu einem anderweitigen Aufenthaltsrecht aus abgeleitetem Unionsrecht dem Gerichtshof zur Vorabentscheidung vorzulegen (zu den Kriterien vgl. EuGH, Urteil vom 6. Oktober 2021 - C-561/19 [ECLI:​​EU:​​C:​​2021:​​799]). Dieses Verhältnis ist durch die vorstehend zitierte Rechtsprechung des Gerichtshofs hinreichend geklärt (acte éclairé).

39 Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO.