Urteil vom 08.12.2022 -
BVerwG 1 C 59.20ECLI:DE:BVerwG:2022:081222U1C59.20.0
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Zitiervorschlag
BVerwG, Urteil vom 08.12.2022 - 1 C 59.20 - [ECLI:DE:BVerwG:2022:081222U1C59.20.0]
Urteil
BVerwG 1 C 59.20
- VG Berlin - 28.06.2019 - AZ: 38 K 41.19 V
- OVG Berlin-Brandenburg - 22.09.2020 - AZ: 3 B 38.19
In der Verwaltungsstreitsache hat der 1. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
auf die mündliche Verhandlung vom 8. Dezember 2022
durch den Vorsitzenden Richter am Bundesverwaltungsgericht Dr. Keller,
die Richter am Bundesverwaltungsgericht Prof. Dr. Fleuß, Dollinger, Böhmann und die Richterin am Bundesverwaltungsgericht Fenzl
für Recht erkannt:
- Die Revision der Kläger gegen das Urteil des Oberverwaltungsgerichts Berlin-Brandenburg vom 22. September 2020 wird zurückgewiesen.
- Die Kläger tragen die Kosten des Revisionsverfahrens mit Ausnahme der außergerichtlichen Kosten der Beigeladenen, die diese selbst trägt.
Gründe
I
1 Die Kläger sind syrische Staatsangehörige und begehren die Erteilung von Visa zum Familiennachzug zu ihrem im Bundesgebiet lebenden und als subsidiär schutzberechtigt anerkannten Sohn beziehungsweise Bruder (Stammberechtigter).
2 Die Kläger zu 1 und 2 sind die Eltern, der Kläger zu 3 ist der Bruder des am 1. Januar 2001 in Syrien geborenen Stammberechtigten. Dieser reiste im Oktober 2015 gemeinsam mit seinem später als Vormund bestellten Onkel in das Bundesgebiet ein und stellte am 18. März 2016 einen Asylantrag. Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bundesamt) erkannte ihm mit Bescheid vom 14. September 2016 den subsidiären Schutzstatus zu und lehnte den Antrag im Übrigen ab. Im Mai 2017 wurde ihm erstmals eine Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 2 Satz 1 Alt. 2 AufenthG erteilt, die jeweils verlängert wurde.
3 Am 7. November 2018 beantragten die Kläger die Erteilung von Visa zum Familiennachzug beim Generalkonsulat in Erbil/Irak. Die Anträge wurden mit Bescheiden der Auslandsvertretung vom 18. Dezember 2018 abgelehnt.
4 Die hiergegen gerichtete Klage ist erfolglos geblieben. Das Oberverwaltungsgericht hat auch die Berufung der Kläger mit Urteil vom 22. September 2020 zurückgewiesen. Die Versagung der Erteilung von Visa zum Familiennachzug durch die Beklagte sei rechtmäßig. Der Stammberechtigte sei zum maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung nicht mehr minderjährig gewesen. Nach Sinn und Zweck und dem systematischen Zusammenhang von § 36a AufenthG gehe der im Ermessen der Beklagten stehende Anspruch der Eltern auf Nachzug zu ihre im Bundesgebiet lebenden subsidiär schutzberechtigten Kind unter, wenn das bei der Visumantragstellung noch minderjährige Kind im Laufe des Verwaltungsverfahrens oder des verwaltungsgerichtlichen Verfahrens volljährig werde. Sei das Kind bereits vor der Einreise der Eltern volljährig geworden, könnten diese nach ihrer Einreise in das Bundesgebiet keine "reguläre" Aufenthaltserlaubnis (mehr) erlangen, weil weder § 36a AufenthG noch eine sonstige Vorschrift ein von dem Aufenthaltsrecht des Kindes unabhängiges Aufenthaltsrecht der Eltern normiere. Dies stehe mit höherrangigem Recht im Einklang. Die Kläger zu 1 und 2 könnten sich insbesondere nicht auf die zu Art. 10 Abs. 3 Buchst. a RL 2003/86/EG ergangene Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union berufen, die allein den Elternnachzug zu minderjährigen unbegleiteten Flüchtlingen betreffe. Diese Richtlinie sei auf den Familiennachzug von Drittstaatsangehörigen zu einem subsidiär Schutzberechtigten nicht anwendbar. Auf den in Art. 23 RL 2011/95/EU geregelten Schutz des Familienverbandes könnten sich die Kläger nicht berufen, da sich diese nicht bereits im Mitgliedstaat befänden. Schließlich widerspräche es weder menschenrechtlichen noch verfassungsrechtlichen Vorgaben, den Elternnachzug im Sinne von § 36a Abs. 1 Satz 2 AufenthG zu versagen, wenn das bereits im Bundesgebiet lebende Kind während des Verwaltungsverfahrens oder des verwaltungsgerichtlichen Verfahrens volljährig geworden sei. Dem stehe nicht entgegen, dass die nachzugswilligen Eltern den Verlust ihres Anspruchs auf ermessensfehlerfreie Entscheidung aus § 36a Abs. 1 Satz 2 AufenthG nicht steuern könnten, weil die Dauer des Visumverfahrens und eines sich gegebenenfalls daran anschließenden Verwaltungsstreitverfahrens in der Regel ihrem Einfluss entzogen sei. Der nach Art. 19 Abs. 4 GG gebotene Rechtsschutz könne bei drohendem Zeitablauf wegen bevorstehender Volljährigkeit im Wege einstweiliger Anordnung gemäß § 123 VwGO erreicht werden. Die Voraussetzungen des § 22 Satz 1 und § 36 Abs. 2 AufenthG lägen offensichtlich nicht vor. Da den Klägern zu 1 und 2 kein Anspruch auf Familiennachzug zustehe, könne auch der Kläger zu 3 als ihr minderjähriger Sohn kein derartiges Visum beanspruchen.
5 Zur Begründung der Revision machen die Kläger geltend, dass die Entscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Union vom 12. April 2018 - C-550/16 [ECLI:EU:C:2018:248] - auch für den Nachzug zum subsidiär Schutzberechtigten gelten müsse. Das Recht auf Familienzusammenführung aus der Richtlinie 2003/86/EG und damit die Bestimmung des für die Beurteilung der Minderjährigkeit maßgeblichen Zeitpunkts sei nicht in das Ermessen der Mitgliedstaaten gestellt. Die Abhängigkeit des Rechts auf Familienzusammenführung vom Zeitpunkt der behördlichen Entscheidung dürfe nicht dessen praktische Wirksamkeit infrage stellen. Dies laufe nicht nur den Zielen der Richtlinie entgegen, sondern auch den Grundsätzen der Gleichbehandlung und der Rechtssicherheit. Die Auffassung, dass die deutsche Rechtslage, nach der die nachgezogenen Eltern eines unbegleiteten minderjährigen Flüchtlings ein abgeleitetes Aufenthaltsrecht nur bis zu dessen Volljährigkeit haben, sei mit Art. 16 Abs. 1 RL 2003/86/EG und der zu Art. 10 Abs. 3 und Art. 2 Buchst. f der Richtlinie ergangenen Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union nicht vereinbar. Die vom Berufungsgericht vorgenommene Differenzierung zwischen Flüchtlingseigenschaft und subsidiärem Schutzstatus verstoße gegen die Richtlinie und den Gleichheitsgrundsatz.
6 Die Beklagte verteidigt das Urteil des Oberverwaltungsgerichts.
II
7 Die zulässige Revision der Kläger ist nicht begründet. Im Einklang mit Bundesrecht (§ 137 Abs. 1 Nr. 1 VwGO) hat das Oberverwaltungsgericht erkannt, dass die Kläger keinen Anspruch auf Erteilung eines nationalen Visums (§ 6 Abs. 3 AufenthG) zum Familiennachzug zu dem als subsidiär schutzberechtigt anerkannten Stammberechtigten haben. Zum maßgeblichen Zeitpunkt der Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts (1.) hatten sie keinen Nachzugsanspruch nach § 36a AufenthG, weil der Stammberechtigte nicht mehr minderjährig war (2.). Nach den bindenden Feststellungen des Oberverwaltungsgerichts liegt weder eine durch die familiäre Situation begründete außergewöhnliche Härte im Sinne von § 36 Abs. 2 AufenthG vor (3.), noch haben die Kläger einen Anspruch auf Familiennachzug aus dringenden humanitären Gründen nach § 22 Satz 1 AufenthG (4.).
8 1. Maßgeblich für die Beurteilung der Sach- und Rechtslage ist bei Verpflichtungsklagen auf Erteilung eines Aufenthaltstitels - wie der vorliegenden - grundsätzlich der Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung oder Entscheidung in der Tatsacheninstanz. Rechtsänderungen, die danach eintreten, sind vom Revisionsgericht zu berücksichtigen, wenn sie das Tatsachengericht, wenn es jetzt entschiede, zu beachten hätte (stRspr, vgl. BVerwG, Urteile vom 17. Dezember 2015 - 1 C 31.14 - BVerwGE 153, 353 Rn. 9 und vom 21. August 2018 - 1 C 22.17 - NVwZ 2019, 417 Rn. 11 m. w. N.). Der Entscheidung sind daher zum einen das Gesetz über den Aufenthalt, die Erwerbstätigkeit und die Integration von Ausländern im Bundesgebiet (Aufenthaltsgesetz - AufenthG) vom 30. Juli 2004 (BGBl. I S. 1950) in der Fassung der Bekanntmachung vom 25. Februar 2008 (BGBl. I S. 162), zuletzt geändert durch Art. 3 des Gesetzes vom 9. Juli 2021 zur Weiterentwicklung des Ausländerzentralregisters (BGBl. I S. 2467 <2502>), sowie das Asylgesetz in der Fassung der Bekanntmachung vom 2. September 2008 (BGBl. I S. 1798), zuletzt geändert durch das Gesetz vom 23. Mai 2022, zugrunde zu legen. Unionsrechtlich maßgeblich sind die Richtlinie 2003/86/EG des Rates vom 22. September 2003 betreffend das Recht auf Familienzusammenführung (ABl. L 251 S. 12 - RL 2003/86/EG) und die Richtlinie 2011/95/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Dezember 2011 über Normen für die Anerkennung von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Personen mit Anspruch auf internationalen Schutz, für einen einheitlichen Status für Flüchtlinge oder für Personen mit Anrecht auf subsidiären Schutz und für den Inhalt des zu gewährenden Schutzes (ABl. L 337 S. 9 - RL 2011/95/EU).
9 2. Im Einklang mit Bundesrecht hat das Oberverwaltungsgericht einen Anspruch der Kläger auf Familiennachzug verneint.
10 a) Ein solcher Anspruch der Kläger zu 1 und 2 auf Elternnachzug folgt nicht aus § 36 Abs. 1 AufenthG in der bis zum 31. Juli 2018 gültigen Fassung. Die Vorschrift findet nach § 104 Abs. 13 Satz 1 AufenthG Anwendung auf den Familiennachzug zu Ausländern, denen bis zum 17. März 2016 eine Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 2 Satz 1 Alt. 2 AufenthG erteilt worden ist, wenn der Antrag auf erstmalige Erteilung eines Aufenthaltstitels zum Zwecke des Familiennachzuges zu dem Ausländer bis zum 31. Juli 2018 gestellt worden ist. Diese Voraussetzungen sind hier nicht erfüllt. Dem Stammberechtigten wurde eine Aufenthaltserlaubnis im Mai 2017 erteilt. Die Kläger stellten ihren Visumantrag am 7. November 2018. Der Kläger zu 3 hat keinen Anspruch auf Kindernachzug nach § 32 Abs. 1 AufenthG, weil seine Eltern nicht im Besitz des erforderlichen Aufenthaltstitels sind.
11 b) Einen Anspruch der Kläger zu 1 und 2 nach § 36a AufenthG hat das Oberverwaltungsgericht zutreffend verneint, weil der Stammberechtigte zum maßgeblichen Zeitpunkt der Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts am 22. September 2020 bereits volljährig war.
12 aa) Nach § 6 Abs. 3 i. V. m. § 36a Abs. 1 Satz 2 i. V. m. Satz 1 AufenthG kann den Eltern eines minderjährigen Ausländers, der eine Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 2 Satz 1 Alt. 2 AufenthG (als subsidiär Schutzberechtigter) besitzt, aus humanitären Gründen ein nationales Visum für die Einreise und den Aufenthalt zum Familiennachzug erteilt werden, wenn sich kein personensorgeberechtigter Elternteil im Bundesgebiet aufhält. Die beispielhafte Aufzählung ("insbesondere") der zwingenden humanitären Gründe für die Zusammenführung in § 36a Abs. 2 Satz 1 AufenthG nennt unter Nr. 1 die Unmöglichkeit der Herstellung der familiären Lebensgemeinschaft seit langer Zeit und in Nr. 2 die Betroffenheit eines minderjährigen Kindes.
13 bb) Die sich daraus ergebende Ungleichbehandlung des Familiennachzuges zum anerkannten Flüchtling nach § 36 Abs. 1 AufenthG einerseits und zum subsidiär Schutzberechtigten nach § 36a AufenthG andererseits verstößt nicht gegen höherrangiges Recht.
14 Sie ist insbesondere mit dem allgemeinen Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG vereinbar. Soweit dieser dem Normgeber gebietet, wesentlich Gleiches gleich und wesentlich Ungleiches ungleich zu behandeln, und dies sowohl für ungleiche Belastungen als auch ungleiche Begünstigungen gilt (BVerfG, Beschluss vom 11. Oktober 1988 - 1 BvR 777/85 u. a. - BVerfGE 79, 1 <17>), kann offenbleiben, ob anerkannte Flüchtlinge einerseits und subsidiär Schutzberechtigte andererseits im Hinblick auf die nach dem sekundären Unionsrecht bestehenden Unterschiede im Schutzstatus überhaupt vergleichbar sind. Denn eine Ungleichbehandlung wäre jedenfalls sachlich gerechtfertigt. Sowohl nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zu Art. 3 GG (BVerfG, Beschlüsse vom 15. Dezember 1959 - 1 BvL 10/55 - BVerfGE 10, 234 <246> und vom 3. Oktober 1989 - 1 BvL 78/86 u. a. - BVerfGE 81, 1 <8>; vgl. auch Nußberger, in: Sachs, Grundgesetz, 9. Aufl. 2021, Art. 3 Rn. 14 ff.) als auch des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte zu Art. 14 EMRK (EGMR <GK>, Urteil vom 24. Mai 2016 - Nr. 38590/10, Biao v. Denmark - Rn. 90) kommt es nach dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit maßgeblich auf die Gewichtung der durch die Ungleichbehandlung beeinträchtigten Freiheitsrechte an. Im Hinblick auf den Familiennachzug von und zu Minderjährigen sind dabei der Familienschutz nach Art. 6 GG und Art. 8 EMRK sowie das Kindeswohl und Kinderrechte zu berücksichtigen.
15 Weder Art. 6 GG noch Art. 8 EMRK vermitteln einen unmittelbaren Anspruch auf Familienzusammenführung (BVerfG, Beschluss vom 18. Juli 1979 - 1 BvR 650/77 - BVerfGE 51, 386 <395>; EGMR <GK>, Urteil vom 3. Oktober 2014 - Nr. 12738/10, Jeunesse v. the Netherlands - Rn. 107). Bei Entscheidungen über Aufenthaltsrechte sind die familiären Bindungen angemessen zu berücksichtigen. Erforderlich ist eine Einzelfallbetrachtung, bei der die familiären Bindungen, aber auch sonstige Umstände wie die Trennungsdauer oder die Möglichkeit der Herstellung der Familieneinheit nur im Bundesgebiet, abzuwägen sind (vgl. EGMR <GK>, Urteil vom 3. Oktober 2014 - Nr. 12738/10 - Rn. 106; BVerfG, Kammerbeschlüsse vom 10. Mai 2008 - 2 BvR 588/08 - InfAuslR 2008, 347 <348>, vom 5. Juni 2013 - 2 BvR 586/13 - NVwZ 2013, 1207 <1208> und vom 9. Dezember 2021 - 2 BvR 1333/21 - NVwZ 2022, 406 Rn. 45). Berühren aufenthaltsrechtliche Entscheidungen den Umgang mit einem Kind, ist im Rahmen der Abwägung maßgeblich auf die Sicht des Kindes abzustellen und im Einzelfall zu untersuchen, ob tatsächlich eine persönliche Verbundenheit besteht, auf deren Aufrechterhaltung das Kind zu seinem Wohl angewiesen ist. Sind Minderjährige betroffen, sind im Rahmen des dann einschlägigen Art. 3 der UN-Kinderrechtskonvention (KRK) das Alter der betroffenen Kinder, die Situation in ihrem Herkunftsland und die Abhängigkeit von ihren Eltern bei der Entscheidung in die Abwägung einzustellen. Auch aus einer Zusammenschau des Art. 3 KRK mit Art. 9 Abs. 1 und Art. 10 Abs. 1 KRK folgt allerdings kein Anspruch auf einen voraussetzungslosen Kinder- oder Elternnachzug und auch das Kindeswohl hat keinen unbedingten Vorrang (vgl. BVerwG, Urteil vom 13. Juni 2013 - 10 C 16.12 - NVwZ 2013, 1493 Rn. 24).
16 Die in § 36a AufenthG vorgesehene Beschränkung des Familiennachzuges auf einen Ermessensanspruch im Rahmen einer Kontingentierung (§ 36a Abs. 2 Satz 2 AufenthG) genügt den dargestellten verfassungs-, konventions- und völkerrechtlichen Anforderungen. Den aufgeführten, in die Einzelfallbetrachtung einzustellenden familiären Belangen kann im Rahmen der Erteilung von Aufenthaltserlaubnissen nach § 22 Satz 1 AufenthG, der gemäß § 36a Abs. 1 Satz 4 AufenthG unberührt bleibt, ausreichend Rechnung getragen werden. Die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 22 Satz 1 AufenthG ist grundsätzlich auch in Fällen möglich, in denen die Voraussetzungen für einen Familiennachzug nicht vorliegen. Denn bei der Frage der Vereinbarkeit einschränkender Familiennachzugsregelungen mit Art. 6 GG ist zu berücksichtigen, inwieweit Härtefällen durch die Erteilung von humanitären Aufenthaltserlaubnissen gemäß § 22 Satz 1 AufenthG Rechnung getragen werden kann, insbesondere auch dann, wenn die besondere Härte durch Umstände in der Person des subsidiär Schutzberechtigten begründet wird. Damit lassen sich mit dem besonderen Schutz von Ehe und Familie nach Art. 6 GG und Art. 8 EMRK sowie Art. 7 und 24 GRC nicht zu vereinbarende Familientrennungen in besonderen Einzelfällen über die Erteilung eines Aufenthaltstitels aus dringenden humanitären Gründen gemäß § 22 AufenthG vermeiden (BVerwG, Beschluss vom 4. Juli 2019 - 1 B 26.19 - Buchholz 402.242 § 36 AufenthG Nr. 6 Rn. 13 unter Hinweis u. a. auf BVerfG, Beschluss vom 20. März 2018 - 2 BvR 1266/17 - Asylmagazin 2018, 179 und BT-Drs. 19/2438 S. 22).
17 Unionsrecht steht der Anwendung von § 36a AufenthG nicht entgegen. Die Richtlinie 2003/86/EG regelt den Familiennachzug zu subsidiär Schutzberechtigten nicht. Sie findet nach ihrem Art. 3 Abs. 2 Buchst. c unter anderem dann keine Anwendung, wenn dem Zusammenführenden der Aufenthalt in einem Mitgliedstaat aufgrund subsidiärer Schutzformen gemäß internationalen Verpflichtungen genehmigt wurde. Dies erfasst auch Personen, denen der vom Unionsrecht vorgesehene subsidiäre Schutzstatus zukommt (vgl. EuGH, Urteil vom 7. November 2018 - C-380/17 [ECLI:EU:C:2018:877] - Rn. 27 ff.).
18 Art. 23 RL 2011/95/EU trifft ebenfalls keine Regelung des Familiennachzuges aus dem Ausland zu subsidiär Schutzberechtigten, die sich in Deutschland befinden. Der persönliche Anwendungsbereich der Vorschrift ist in diesen Fällen nicht eröffnet. Sie ist nur auf Familienangehörige anzuwenden, die sich im Zusammenhang mit dem Antrag auf internationalen Schutz in demselben Mitgliedstaat aufhalten, sofern die Familie bereits im Herkunftsland bestanden hat (Art. 2 Buchst. j RL 2011/95/EU). Der Richtlinie 2011/95/EU lässt sich auch kein Gebot der Gleichbehandlung der Angehörigen von anerkannten Flüchtlingen einerseits und von subsidiär Schutzberechtigten andererseits im Hinblick auf den Nachzug aus dem Ausland entnehmen.
19 c) Ein Anspruch des Klägers zu 3 nach § 36a AufenthG besteht bereits deshalb nicht, weil die Vorschrift lediglich den Familiennachzug für Ehegatten oder minderjährige Kinder eines Ausländers, der im Besitz einer Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 2 Satz 1 Alt. 2 AufenthG ist, oder für Eltern eines minderjährigen und im Besitz einer entsprechenden Aufenthaltserlaubnis befindlichen Ausländers, nicht aber für dessen Geschwister, eröffnet.
20 3. Ohne Bundesrechtsverstoß hat das Oberverwaltungsgericht die Voraussetzungen für die Erteilung von Visa zum Familiennachzug an die Kläger nach § 36 Abs. 2 AufenthG verneint.
21 Die danach erforderliche außergewöhnliche Härte liegt nicht vor. Der Nachzug nach § 36 Abs. 2 AufenthG ist auf seltene Ausnahmefälle beschränkt, in denen die Verweigerung des Aufenthaltsrechts und damit der Familieneinheit im Lichte des Art. 6 Abs. 1 und 2 GG, Art. 8 EMRK grundlegenden Gerechtigkeitsvorstellungen widerspräche, also schlechthin unvertretbar wäre. Eine außergewöhnliche Härte in diesem Sinne setzt grundsätzlich voraus, dass der schutzbedürftige Familienangehörige ein eigenständiges Leben nicht führen kann, sondern auf die Gewährung familiärer Lebenshilfe dringend angewiesen ist, und dass diese Hilfe in zumutbarer Weise nur in Deutschland erbracht werden kann. Ob dies der Fall ist, kann nur unter Berücksichtigung aller im Einzelfall relevanten, auf die Notwendigkeit der Herstellung oder Erhaltung der Familiengemeinschaft bezogenen konkreten Umstände beantwortet werden (BVerwG, Urteil vom 30. Juli 2013 - 1 C 15.12 - BVerwGE 147, 278 Rn. 11 f.). Das Vorliegen der genannten Voraussetzungen hat das Oberverwaltungsgericht revisionsrechtlich fehlerfrei verneint.
22 4. Die Kläger haben auch keinen Aufnahmeanspruch nach § 22 Satz 1 AufenthG.
23 a) Gemäß dieser Norm soll nach der Intention des Gesetzgebers insbesondere aus dringenden humanitären Gründen über § 36a AufenthG hinaus im Einzelfall auch Angehörigen der Kernfamilie subsidiär Schutzberechtigter eine Aufenthaltserlaubnis erteilt werden können. Solche Gründe sind anzunehmen, wenn die Aufnahme des Familienangehörigen sich aufgrund des Gebots der Menschlichkeit aufdrängt und eine Situation vorliegt, die ein Eingreifen zwingend erforderlich macht. Dies gilt zum Beispiel beim Bestehen einer erheblichen und unausweichlichen Gefahr für Leib und Leben des Familienangehörigen im Ausland. Die dringenden humanitären Gründe im Sinne des § 22 AufenthG können sowohl beim bereits im Bundesgebiet befindlichen Schutzberechtigten als auch beim im Ausland befindlichen Familienangehörigen vorliegen (BT-Drs. 19/2438 S. 22).
24 Dringende humanitäre Gründe im Sinne des § 22 Satz 1 Alt. 2 AufenthG liegen zum einen dann vor, wenn sich der Ausländer aufgrund besonderer Umstände in einer auf seine Person bezogenen Sondersituation befindet, sich diese Sondersituation deutlich von der Lage vergleichbarer Ausländer unterscheidet, der Ausländer spezifisch auf die Hilfe der Bundesrepublik Deutschland angewiesen ist oder eine besondere Beziehung des Ausländers zur Bundesrepublik Deutschland besteht und die Umstände so gestaltet sind, dass eine baldige Ausreise und Aufnahme unerlässlich sind. Sie sind aber zum anderen auch dann gegeben, wenn besondere Umstände des Einzelfalles eine Fortdauer der räumlichen Trennung der Angehörigen der Kernfamilie des subsidiär Schutzberechtigten mit Art. 6 Abs. 1 und 2 Satz 1 GG nicht länger vereinbar erscheinen lassen. Der Zeitpunkt, ab dem den Ehegatten und ihren minderjährigen ledigen Kindern eine weitere Trennung nicht länger zuzumuten ist, ist wiederum maßgeblich davon abhängig, ob diesen eine (Wieder-)Herstellung der familiären Lebensgemeinschaft in dem Aufenthaltsstaat der Nachzugswilligen möglich und zumutbar ist. Die Schwelle, bei deren Erreichen die Versagung einer Familienzusammenführung im Bundesgebiet mit Art. 6 Abs. 1 und 2 Satz 1 GG schlechthin unvereinbar ist, aus humanitären Gründen mithin ein - vom Kontingent des § 36a Abs. 2 Satz 2 AufenthG unabhängiger - Aufenthaltstitel nach § 22 Satz 1 AufenthG zu gewähren ist, liegt indes höher als jene, die durch Annahme eines Ausnahmefalles in den Fällen des § 36a Abs. 3 Nr. 1 AufenthG den Zugang zu einer (kontingentgebundenen) Auswahlentscheidung (§ 36a Abs. 2 Satz 2 AufenthG) eröffnet (BVerwG, Urteil vom 17. Dezember 2020 - 1 C 30.19 - BVerwGE 171, 103 Rn. 49). Soweit die Berücksichtigung einer familiären Notsituation im Rahmen des § 22 Satz 1 AufenthG im Hinblick auf eine verfassungskonforme Anwendung von § 36a AufenthG geboten ist, erfordert dies keine von den genannten Maßstäben abweichende, insbesondere erweiternde Auslegung. Vielmehr können besondere, aus der Berücksichtigung des Kindeswohls und der familiären Situation im Einzelfall resultierende Umstände als dringende humanitäre Gründe für einen Familiennachzug berücksichtigt werden.
25 b) Hiervon ausgehend hat das Oberverwaltungsgericht in revisionsrechtlich nicht zu beanstandender Weise das Vorliegen eines dringenden humanitären Grundes im Falle der Kläger zu 1 und 2 verneint, weil ihnen nach eigenen Angaben in Syrien keine Gefahr für Leib oder Leben drohe und die erwachsenen Söhne zur Fortsetzung des Studiums dort bleiben möchten. Der volljährige Stammberechtigte könne im Bundesgebiet ein eigenständiges Leben führen und sei nicht zwingend auf die Unterstützung durch seine Eltern angewiesen. Dringende humanitäre Gründe sind auch im Hinblick auf den Kläger zu 3 nicht erkennbar.
26 5. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2, § 162 Abs. 3 VwGO. Da sich die Beigeladene nicht mit einem Antrag am Kostenrisiko beteiligt hat, entspricht es der Billigkeit, dass sie ihre außergerichtlichen Kosten selbst trägt.