Beschluss vom 04.10.2023 -
BVerwG 1 B 42.23ECLI:DE:BVerwG:2023:041023B1B42.23.0

  • Zitiervorschlag

    BVerwG, Beschluss vom 04.10.2023 - 1 B 42.23 - [ECLI:DE:BVerwG:2023:041023B1B42.23.0]

Beschluss

BVerwG 1 B 42.23

  • VG Würzburg - 30.11.2022 - AZ: W 5 K 22.30277
  • VGH München - 03.07.2023 - AZ: 15 B 23.30186

In der Verwaltungsstreitsache hat der 1. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
am 4. Oktober 2023
durch die Richter am Bundesverwaltungsgericht Prof. Dr. Fleuß und Böhmann und die Richterin am Bundesverwaltungsgericht Fenzl
beschlossen:

  1. Die Beschwerde des Klägers gegen die Nichtzulassung der Revision in dem Urteil des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs vom 3. Juli 2023 wird verworfen.
  2. Der Kläger trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.

Gründe

1 Die Beschwerde, mit der allein eine grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache (§ 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO) geltend gemacht wird, hat keinen Erfolg.

2 Einer Rechtssache kommt grundsätzliche Bedeutung nur zu, wenn sie eine für die erstrebte Revisionsentscheidung erhebliche Frage des revisiblen Rechts aufwirft, die im Interesse der Einheit und Fortbildung des Rechts revisionsgerichtlicher Klärung bedarf. Das Darlegungserfordernis des § 133 Abs. 3 Satz 3 VwGO setzt insoweit die Formulierung einer bestimmten, höchstrichterlich noch ungeklärten und für die Revisionsentscheidung erheblichen Rechtsfrage des revisiblen Rechts und außerdem die Angabe voraus, worin die allgemeine, über den Einzelfall hinausgehende Bedeutung besteht. Die Beschwerde muss erläutern, dass und inwiefern die Revisionsentscheidung zur Klärung einer bisher revisionsgerichtlich nicht beantworteten fallübergreifenden Rechtsfrage des revisiblen Rechts führen kann (BVerwG, Beschluss vom 19. August 1997 - 7 B 261.97 - Buchholz 310 § 133 <n. F.> VwGO Nr. 26 S. 14). Die Begründungspflicht verlangt, dass sich die Beschwerde mit den Erwägungen des angefochtenen Urteils, auf die sich die aufgeworfene Frage von angeblich grundsätzlicher Bedeutung bezieht, substantiiert auseinandersetzt (BVerwG, Beschluss vom 4. April 2012 - 5 B 58.11 - juris Rn. 2 m. w. N.).

3 Für die Zulassung der Revision reicht, anders als für die Zulassung der Berufung wegen grundsätzlicher Bedeutung nach § 124 Abs. 2 Nr. 3 VwGO/§ 78 Abs. 3 Nr. 1 AsylG (BVerwG, Urteil vom 31. Juli 1984 - 9 C 46.84 - BVerwGE 70, 24 <26>), eine Tatsachenfrage grundsätzlicher Bedeutung nicht aus. Die Klärungsbedürftigkeit muss vielmehr in Bezug auf den anzuwendenden rechtlichen Maßstab, nicht die richterliche Tatsachenwürdigung und -bewertung bestehen; auch der Umstand, dass das Ergebnis der Feststellung und Würdigung des Tatsachenstoffes durch die hierzu berufenen Instanzgerichte für eine Vielzahl von Verfahren von Bedeutung ist, lässt für sich allein nach geltendem Revisionszulassungsrecht eine Zulassung wegen grundsätzlicher Bedeutung nach § 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO nicht zu. Der Gesetzgeber hat insoweit auch für das gerichtliche Asylverfahren an den allgemeinen Grundsätzen des Revisionsrechts festgehalten und eine Befugnis, die allgemeine asyl-, abschiebungs- oder überstellungsrelevante Lage in einem Herkunfts- oder Zielstaat auch in tatsächlicher Hinsicht eigenständig zu würdigen, nur in der von § 78 Abs. 8 AsylG geregelten Konstellation vorgesehen.

4 Nach diesen Grundsätzen ist eine grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache schon nicht dargelegt.

5 1. Die Beschwerde hält insbesondere die Frage für klärungsbedürftig,
"ob die volatile Sicherheitslage im Jemen, hervorgerufen durch das Machtvakuum, das der innerstaatliche Konflikt hinterlässt, das Risiko des Einzelnen als Mitglied der Zivilbevölkerung erhöht, Opfer der willkürlichen Gewalt im innerstaatlichen Konflikt zu werden."

6 Mit dieser Frage und der Beschwerdebegründung wird eine grundsätzliche Bedeutung nicht dargelegt, weil keine klärungsbedürftige Rechtsfrage im Hinblick auf den für die materiellrechtliche Subsumtion sowie für die Tatsachenfeststellung und -würdigung heranzuziehenden rechtlichen Maßstab aufgeworfen wird. Vielmehr wendet sich die Beschwerde im Stile einer Berufungsbegründung gegen die aus ihrer Sicht fehlerhafte Tatsachenwürdigung des Verwaltungsgerichtshofs.

7 2. Ebenso wenig rechtfertigt eine Zulassung der Revision die als rechtsgrundsätzlich aufgeworfene Frage,
"ob und in welchem Umfang in der Gesamtschau des Gefahrenpotentials für die Zivilbevölkerung[,] Opfer gewillkürter Gewalt in einem innerstaatlichen Konflikt zu werden, auch der Umstand mit einzubeziehen ist, dass die Zivilbevölkerung nicht alleine durch die Kriegs- und Kampfhandlungen unmittelbar betroffen wird, sondern auch durch Gewalthandlungen, die an dieser als Folge der fehlenden umspannenden Staatsmacht ausgeübt werden und diese im alltäglichen Leben betreffen."

8 In der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union und des Bundesverwaltungsgerichts ist geklärt, dass sich das Erfordernis einer ernsthaften individuellen Bedrohung im Sinne des § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG und des Art. 15 Buchst. c RL 2011/95/EU aus einer allgemeinen Lage eines bewaffneten Konflikts, die zu "willkürlicher Gewalt" führt, ergibt, was impliziert, dass sie sich auf Personen ungeachtet ihrer persönlichen Situation erstrecken kann. Das Adjektiv "individuell" ist dahin zu verstehen, dass es sich auf schädigende Eingriffe bezieht, die sich gegen Zivilpersonen ungeachtet ihrer Identität richten, wenn der den bestehenden bewaffneten Konflikt kennzeichnende Grad willkürlicher Gewalt nach der Beurteilung der zuständigen nationalen Behörden, die mit einem Antrag auf subsidiären Schutz befasst sind, oder der Gerichte eines Mitgliedstaats, bei denen eine Klage gegen die Ablehnung eines solchen Antrags anhängig ist, ein so hohes Niveau erreicht, dass stichhaltige Gründe für die Annahme bestehen, dass eine Zivilperson bei einer Rückkehr in das betreffende Land oder gegebenenfalls die betroffene Region allein durch ihre Anwesenheit im Gebiet dieses Landes oder dieser Region tatsächlich Gefahr liefe, einer ernsthaften Bedrohung im Sinne der vorbezeichneten Normen ausgesetzt zu sein. Eine Individualisierung der allgemeinen Gefahr kann in Fällen, in denen individuelle gefahrerhöhende Umstände fehlen, ausnahmsweise auch bei einer außergewöhnlichen Situation eintreten, die durch einen so hohen Gefahrengrad gekennzeichnet ist, dass praktisch jede Zivilperson allein aufgrund ihrer Anwesenheit in dem betroffenen Gebiet einer ernsthaften individuellen Bedrohung ausgesetzt wäre. Liegen keine gefahrerhöhenden Umstände vor, ist ein besonders hohes Niveau willkürlicher Gewalt erforderlich (EuGH, Urteile vom 17. Februar 2009 - C-465/07 [ECLI:​EU:​C:​2009:​94] - Rn. 37 f. und vom 10. Juni 2021 - C-901/19 [ECLI:​EU:​C:​2021:​472] - Rn. 26 und 28; BVerwG, Urteil vom 20. Mai 2020 - 1 C 11.19 - Buchholz 402.251 § 4 AsylG Nr. 1 Rn. 19 und 21).

9 Von diesen Grundsätzen ist auch das Berufungsgericht ausgegangen. Weitergehenden fallübergreifenden Klärungsbedarf zeigt die Beschwerdebegründung nicht auf. Soweit sie vorträgt, das Risiko, durch das Machtvakuum und durch fehlende staatliche Kontrolle im täglichen Leben Opfer eines gewalttätigen Übergriffs zu werden, sei durch den Waffenstillstand nicht geringer geworden, knüpft sie gerade an die berufungsgerichtliche Tatsachenwürdigung an, die Situation sei nicht (mehr) unmittelbar auf Kriegs- und Kampfhandlungen zurückzuführen, ohne einen weitergehenden rechtsgrundsätzlichen Klärungsbedarf in einer den Anforderungen des § 133 Abs. 3 Satz 3 VwGO genügenden Weise substantiiert aufzuzeigen.

10 3. Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO. Gerichtskosten werden gemäß § 83b AsylG nicht erhoben. Der Gegenstandswert ergibt sich aus § 30 Abs. 1 Satz 1 Halbs. 1 RVG. Gründe für eine Abweichung gemäß § 30 Abs. 2 RVG liegen nicht vor.