Beschluss vom 02.08.2023 -
BVerwG 1 B 20.23ECLI:DE:BVerwG:2023:020823B1B20.23.0

  • Zitiervorschlag

    BVerwG, Beschluss vom 02.08.2023 - 1 B 20.23 - [ECLI:DE:BVerwG:2023:020823B1B20.23.0]

Beschluss

BVerwG 1 B 20.23

  • VG München - 23.06.2022 - AZ: M 10 K 20.1034
  • VGH München - 22.05.2023 - AZ: 10 B 23.99

In der Verwaltungsstreitsache hat der 1. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
am 2. August 2023
durch den Vorsitzenden Richter am Bundesverwaltungsgericht Dr. Keller,
den Richter am Bundesverwaltungsgericht Prof. Dr. Fleuß und
die Richterin am Bundesverwaltungsgericht Dr. Wittkopp
beschlossen:

  1. Die Beschwerde des Klägers gegen die Nichtzulassung der Revision in dem Urteil des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs vom 22. Mai 2023 wird verworfen.
  2. Der Kläger trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.
  3. Der Wert des Streitgegenstands wird für das Beschwerdeverfahren auf 5 000 € festgesetzt.

Gründe

1 1. Die Beschwerde, mit der eine grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache (§ 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO) (a) und ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des Berufungsurteils (b) geltend gemacht werden, ist unzulässig.

2 a) Eine Rechtssache hat grundsätzliche Bedeutung im Sinne des § 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO, wenn sie eine abstrakte, in dem zu entscheidenden Fall erhebliche Frage des revisiblen Rechts mit einer über den Einzelfall hinausgehenden allgemeinen Bedeutung aufwirft, die im Interesse der Einheitlichkeit der Rechtsprechung oder im Interesse der Rechtsfortbildung in einem Revisionsverfahren geklärt werden muss. Diese Voraussetzungen sind nicht erfüllt, wenn sich die aufgeworfene Frage im Revisionsverfahren nicht stellen würde, wenn sie bereits geklärt ist oder aufgrund des Gesetzeswortlauts mithilfe der üblichen Regeln sachgerechter Auslegung und auf der Grundlage der einschlägigen Rechtsprechung ohne Durchführung eines Revisionsverfahrens beantwortet werden kann oder wenn sie einer abstrakten Klärung nicht zugänglich ist (BVerwG, Beschlüsse vom 1. April 2014 - 1 B 1.14 - juris Rn. 2 und vom 25. Juli 2017 - 1 B 117.17 - juris Rn. 3). Für die Zulassung der Revision reicht eine Tatsachenfrage von grundsätzlicher Bedeutung nicht aus; die Klärungsbedürftigkeit muss vielmehr in Bezug auf den anzuwendenden rechtlichen Maßstab, nicht die richterliche Tatsachenwürdigung und -bewertung bestehen (BVerwG, Beschluss vom 10. März 2020 - 1 B 15.20 - juris Rn. 4). Das Darlegungserfordernis des § 133 Abs. 3 Satz 3 VwGO setzt die Formulierung einer bestimmten, höchstrichterlich noch ungeklärten und für die Revisionsentscheidung erheblichen Rechtsfrage des revisiblen Rechts und außerdem die Angabe voraus, worin die allgemeine, über den Einzelfall hinausgehende Bedeutung besteht. Die Beschwerde muss daher erläutern, dass und inwiefern die Revisionsentscheidung zur Klärung einer bisher revisionsgerichtlich nicht beantworteten fallübergreifenden Rechtsfrage des revisiblen Rechts führen kann (stRspr, vgl. BVerwG, Beschluss vom 19. August 1997 - 7 B 261.97 - Buchholz 310 § 133 <n. F.> VwGO Nr. 26 S. 14). Diesen Anforderungen wird die Beschwerdebegründung nicht gerecht.

3 aa) Die Revision ist nicht wegen der geltend gemachten grundsätzlichen Bedeutung der Frage zuzulassen,
"ob ein seit seiner Geburt in Deutschland Lebender als faktischer Inländer anzusehen ist, sich hieraus ein besonderer Schutzstatus ergibt und ob zudem eine besondere Verwurzelung im Bundesgebiet und somit ein besonderer Schutzstatus gem. Art. 6 GG, Art. 8 EMRK vorliegt und somit eine Verletzung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes gegeben ist".
Die Frage, ob ein im Bundesgebiet geborener oder aufgewachsener Ausländer als sogenannter "faktischer Inländer" anzusehen ist, würde sich in dieser Allgemeinheit in dem angestrebten Revisionsverfahren in klärungsbedürftiger Weise nicht stellen. Im Übrigen ist in der höchstrichterlichen Rechtsprechung geklärt, dass eine Ausweisung sogenannter "faktischer Inländer" nicht von vornherein unzulässig ist. Vielmehr ist der besonderen Härte, die mit einer solchen Ausweisung einhergeht, durch eine auf den konkreten Einzelfall bezogene individuelle Gefahrenprognose unter Berücksichtigung aktueller Tatsachen, die die Gefahr entfallen lassen oder nicht unerheblich vermindern können, sowie im Rahmen der Interessenabwägung durch eine besonders sorgfältige Prüfung und Erfassung der individuellen Lebensumstände des Ausländers, seiner Verwurzelung in Deutschland einerseits und seiner Entwurzelung im Herkunftsland andererseits Rechnung zu tragen (EGMR, Urteil vom 30. November 1999 - Nr. 34374/97 [ECLI:​CE:​ECHR:​1999:​1130JUD003437497], Baghli / Frankreich - NVwZ 2000, 1401 Rn. 45 f.; EuGH, Urteil vom 8. Dezember 2011 - C-371/08 [ECLI:​EU:​C:​2011:​809], Ziebell - Rn. 82 f.; BVerfG, Kammerbeschlüsse vom 19. Oktober 2016 - 2 BvR 1943/16 - NVwZ 2017, 229 Rn. 19 und vom 25. August 2020 - 2 BvR 640/20 - InfAuslR 2020, 424 Rn. 24; BVerwG, Urteil vom 16. Februar 2022 - 1 C 6.21 - BVerwGE 175, 16 Rn. 33). Diese Grundsätze hat das Berufungsgericht berücksichtigt (UA Rn. 36). Weitergehenden rechtsgrundsätzlichen Klärungsbedarf zeigt die Beschwerdebegründung nicht auf. Der Sache nach wendet sie sich vielmehr gegen eine ihrer Ansicht nach fehlerhafte Rechtsanwendung im Einzelfall. In der Art einer Berufungsbegründung legt sie dar, dass sie die Anwendung dieser höchstrichterlich geklärten Rechtssätze durch das Berufungsgericht für fehlerhaft hält, und setzt sie der rechtlichen Beurteilung durch den Verwaltungsgerichtshof ihre eigene, zu einem anderen Ergebnis führende Würdigung entgegen. Eine solche Entscheidungskritik ist nicht geeignet, die grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache im Sinne des § 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO zu begründen.

4 bb) Zum Erfolg verhilft der Beschwerde auch nicht die Frage,
"ob das Maß der strafrechtlichen Gesamtstrafe bei der Beurteilung des Ausweisungsinteresses i.S.d. § 54 AufenthG Auswirkungen auf die Abwägung und damit den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz hat".
Diese Rechtsfrage hat in der höchstrichterlichen Rechtsprechung ebenfalls bereits hinreichende Klärung erfahren. Danach gebietet es § 53 Abs. 1 AufenthG, die widerstreitenden vertypten und nichtvertypten Ausweisungs- und Bleibeinteressen stets ergebnisoffen, einzelfallbezogen und umfassend gegeneinander abzuwägen. Eine schematisierende oder gleichsam mathematische Abwägung der vertypten Interessen verbietet sich (BVerfG, Kammerbeschlüsse vom 10. Mai 2007 - 2 BvR 304/07 - NVwZ 2007, 946 (948) und vom 19. Oktober 2016 - 2 BvR 1943/16 - NVwZ 2017, 229 Rn. 19; BVerwG, Urteil vom 27. Juli 2017 - 1 C 28.16 - BVerwGE 159, 270 Rn. 39). Der abstrakten gesetzlichen Gewichtung eines Ausweisungs- und Bleibeinteresses ist zwar eine die Abwägung prägende Funktion beizumessen; den vertypten Interessen kann jedoch nach den besonderen Umständen des Einzelfalles ein abweichendes Gewicht beizumessen sein, sodass erst nach einer Würdigung sämtlicher Umstände des Einzelfalles feststeht, ob das Ausweisungsinteresse gegenüber dem Bleibeinteresse überwiegt (BT-Drs. 18/4097, 50; BVerwG, Urteil vom 27. Juli 2017 - 1 C 28.16 - BVerwGE 159, 270 Rn. 39). Sind somit in die Abwägung sämtliche Umstände des Einzelfalles einzustellen (BT-Drs. 18/4097, 49 f.), so ist hierbei auch das Maß der strafrechtlichen Gesamtstrafe zu berücksichtigen. Weitergehenden rechtsgrundsätzlichen Klärungsbedarf zeigt die Beschwerdebegründung auch insoweit nicht auf. Die Frage, ob die im Einzelfall getroffene Abwägungsentscheidung diesen Vorgaben gerecht wird, vermag die Zulassung der Revision nach § 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO nicht zu rechtfertigen.

5 b) Die Revision ist auch nicht wegen der geltend gemachten ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit der Entscheidung zuzulassen. Ernstliche Zweifel - sofern sie denn bestehen - rechtfertigen zwar nach § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO die Zulassung der Berufung, nicht aber die Zulassung der Revision. Denn einen Zulassungsgrund der ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit der Entscheidung kennt § 132 Abs. 2 VwGO, der die Revisionszulassungsgründe abschließend aufführt, nicht (stRspr, vgl. BVerwG, Beschluss vom 4. Mai 2022 - 1 B 17.22 - juris Rn. 2 m. w. N.).

6 c) Die (behauptete) Fehlerhaftigkeit eines Urteils stellt im Übrigen auch keinen Verfahrensmangel dar. Nach § 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO ist die Revision zuzulassen, wenn ein Verfahrensmangel geltend gemacht wird, auf dem die Entscheidung beruhen kann. Damit sind Verstöße gegen Vorschriften gemeint, die den Verfahrensablauf und damit den Weg zu der Entscheidung sowie die Art und Weise des Ergehens der Entscheidung regeln, nicht jedoch Vorschriften, die den Urteils- oder Beschlussinhalt betreffen und deren Verletzung sich als Mangel der sachlichen Entscheidung darstellt. Ein Verfahrensmangel ist nur dann im Sinne von § 133 Abs. 3 Satz 3 VwGO ausreichend bezeichnet, wenn er sowohl in den ihn (vermeintlich) begründenden Tatsachen als auch in seiner rechtlichen Würdigung substantiiert dargetan wird (stRspr, vgl. BVerwG, Beschluss vom 20. August 2015 - 5 B 14.15 - juris Rn. 14 m. w. N.). Das Vorbringen, der Verwaltungsgerichtshof habe sich mit dem Umstand des faktischen Inländers nicht ausreichend auseinandergesetzt, Aussagen der ehemaligen Lebensgefährtin und des Vaters des Klägers unberücksichtigt gelassen und bei der Interessenabwägung nicht hinreichend gewürdigt, dass das Strafmaß nur geringfügig oberhalb der Grenze des § 54 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG liege, genügt den vorstehenden Anforderungen des § 133 Abs. 3 Satz 3 VwGO nicht.

7 2. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO. Die Festsetzung des Streitwertes ergibt sich aus § 47 Abs. 1 und 3 und § 52 Abs. 2 GKG.