Urteil vom 29.08.2024 -
BVerwG 1 C 19.23ECLI:DE:BVerwG:2024:290824U1C19.23.0
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Zitiervorschlag
BVerwG, Urteil vom 29.08.2024 - 1 C 19.23 - [ECLI:DE:BVerwG:2024:290824U1C19.23.0]
Urteil
BVerwG 1 C 19.23
- VG Berlin - 17.10.2023 - AZ: VG 36 K 2/22 V
In der Verwaltungsstreitsache hat der 1. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
auf die mündliche Verhandlung vom 29. August 2024
durch den Vorsitzenden Richter am Bundesverwaltungsgericht Dr. Keller,
die Richter am Bundesverwaltungsgericht Dollinger und Böhmann und
die Richterinnen am Bundesverwaltungsgericht Dr. Wittkopp und Fenzl
für Recht erkannt:
- Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts Berlin vom 17. Oktober 2023 wird zurückgewiesen.
- Die Beklagte trägt die Kosten des Revisionsverfahrens mit Ausnahme der außergerichtlichen Kosten der Beigeladenen, die diese selbst trägt.
Gründe
I
1 Die Klägerin ist eritreische Staatsangehörige und begehrt die Erteilung eines nationalen Visums zum Zweck der Familienzusammenführung.
2 Der Vater (Stammberechtigter) der am 8. November 1997 geborenen Klägerin wurde auf seinen Antrag vom 4. August 2014 vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bundesamt) mit Bescheid vom 15. Oktober 2015 als Flüchtling anerkannt.
3 Bei Beantragung der erstmaligen Aufenthaltserlaubnis am 17. November 2015 gab der Vater der Klägerin an, dass die im einzelnen bezeichneten Familienangehörigen mit einreisen oder nachkommen sollten.
4 Am 18. April 2019 beantragte die Klägerin gemeinsam mit weiteren Familienangehörigen bei der Deutschen Botschaft in Addis Abeba/Äthiopien die Erteilung eines Visums zum Zweck des Familiennachzuges zu dem Stammberechtigten. Der Mutter und den drei Geschwistern wurden Visa erteilt, auf deren Grundlage sie in die Bundesrepublik Deutschland einreisten, ihnen mit Bescheid des Bundesamtes vom 25. Februar 2022 der Flüchtlingsstatus zuerkannt und ihnen Aufenthaltserlaubnisse erteilt wurden.
5 Mit Bescheid vom 18. Dezember 2019 lehnte die Botschaft den Antrag der Klägerin ab. Zur Begründung wurde angeführt, die Klägerin sei bereits volljährig und es bestehe keine außergewöhnliche Härte. Ihre Remonstration wies die Botschaft mit Bescheid vom 6. Dezember 2021 zurück.
6 Das Verwaltungsgericht hat die Beklagte mit Urteil vom 17. Oktober 2023 verpflichtet, der Klägerin ein Visum zum Familiennachzug zu erteilen. Sie habe einen Anspruch auf Erteilung des begehrten Visums zum Kindernachzug nach § 6 Abs. 3 Satz 1 und 2 i. V. m. §§ 27, 29 und 32 AufenthG. Dem Vater der Klägerin sei eine Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 2 Satz 1 AufenthG erteilt worden. Von den Voraussetzungen des § 32 Abs. 2 Satz 1 AufenthG sei gemäß § 32 Abs. 2 Satz 2 Nr. 1 AufenthG abzusehen; beide Elternteile lebten mittlerweile im Bundesgebiet. Die Klägerin sei auch noch als minderjährig im Sinne des § 32 AufenthG anzusehen. Maßgeblich für das Vorliegen der Minderjährigkeit sei der Zeitpunkt der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft an die Referenzpersonen. Unbeachtlich sei, dass die Klägerin vor Beantragung des Visums volljährig geworden sei. Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union (Gerichtshof) setze sich die Minderjährigkeit in das laufende Visumverfahren fort, wenn der Antrag auf Erteilung des Nachzugsvisums innerhalb von drei Monaten nach der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft an die Referenzperson gestellt werde. Maßgebend für den Beginn der Frist sei die Kenntnis des Betroffenen (Nachzugswilligen) von der Flüchtlingsanerkennung der Referenzperson, hier frühestens der 15. Oktober 2015, unter dem der Anerkennungsbescheid des Vaters ergangen sei. Die Dreimonatsfrist sei mit dem vom Vater am 17. November 2015 ausgefüllten Formular der Beigeladenen zur Beantragung einer Aufenthaltserlaubnis und der Familienzusammenführung gewahrt. Der vom Gerichtshof gemeinte Antrag auf Familienzusammenführung entspreche nicht dem bisher im nationalen Recht für die Erteilung des Visums verwendeten Antragsbegriff. Die Fristwahrung scheitere auch nicht daran, dass die Botschaft erst mehrere Jahre nach der Antragstellung anlässlich der Vorsprache der Klägerin am 18. April 2019 die für die Bearbeitung erforderlichen Informationen erhalten und erst am 18. Dezember 2019 über den Antrag entschieden habe. Diese Verzögerung sei nicht von der Klägerin zu vertreten. Die erhebliche Dauer des Visumverfahrens gehe nicht auf ein Nichtbetreiben durch die Klägerin, sondern auf die äußeren Umstände zurück, die durch die politische und humanitäre Lage in Eritrea sowie den Grenzkonflikt Eritreas mit Äthiopien geprägt seien. Die weiteren Voraussetzungen für einen Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis zum Zwecke des Familiennachzuges lägen vor.
7 Zur Begründung der vom Verwaltungsgericht zugelassenen Sprungrevision macht die Beklagte geltend, die nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs geltende Dreimonatsfrist zwischen der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft im Oktober 2015 und der Stellung des Familienzusammenführungsantrages bei der Auslandsvertretung im April 2019 sei nicht gewahrt. Die im November 2015 vom Vater gegenüber der Ausländerbehörde abgegebene Erklärung stelle keinen Antrag auf Familienzusammenführung dar. Die Beigeladene sei jedenfalls nicht die zuständige Behörde zur Stellung des Visumantrages und nicht zur Weiterleitung an die Auslandsvertretung verpflichtet gewesen. Der Stammberechtigte könne selbst formlos, z. B. per Fax oder E-Mail, einen Visumantrag oder eine fristwahrende Anzeige bei der Auslandsvertretung einreichen.
8 Die Klägerin verteidigt das angefochtene Urteil.
II
9 Der Senat konnte trotz Abwesenheit eines Vertreters der Beigeladenen in der mündlichen Verhandlung zur Sache verhandeln und entscheiden (§ 102 Abs. 2 VwGO).
10 Die zulässige Revision der Beklagten ist unbegründet. Das Urteil des Verwaltungsgerichts verletzt zwar Bundesrecht (§ 137 Abs. 1 Nr. 1 VwGO), indem es der Klägerin einen Anspruch auf Erteilung eines Visums zur Familienzusammenführung mit einem als Flüchtling anerkannten Elternteil aus § 32 Abs. 1 AufenthG zuerkennt (1.). Es erweist sich jedoch aus anderen Gründen als richtig (§ 144 Abs. 4 VwGO), weil der Klägerin ein solcher Anspruch unmittelbar aus Art. 4 der Richtlinie 2003/86/EG des Rates vom 22. September 2003 betreffend das Recht auf Familienzusammenführung (ABl. L 251 S. 12 - RL 2003/86/EG) zusteht (2.).
11 1. Unter Verstoß gegen Bundesrecht hat das Verwaltungsgericht einen Anspruch der Klägerin auf Erteilung des begehrten Visums aus § 32 AufenthG bejaht.
12 Gemäß § 6 Abs. 3 Satz 2 AufenthG richtet sich die Erteilung eines (nationalen) Visums zur Einreise nach den für die Aufenthaltserlaubnis geltenden Vorschriften. Nach der vom Verwaltungsgericht im Hinblick auf die begehrte Erteilung von Visa zum Kindernachzug zum anerkannten Flüchtling herangezogenen Anspruchsgrundlage des § 32 Abs. 1 AufenthG ist dem minderjährigen Kind eines Ausländers eine Aufenthaltserlaubnis zu erteilen, wenn beide Eltern oder der allein personensorgeberechtigte Elternteil unter anderem eine Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 2 Satz 1 Alt. 1 AufenthG als anerkannter Flüchtling haben.
13 Maßgeblich für die Beurteilung der Sach- und Rechtslage ist bei Verpflichtungsklagen auf Erteilung eines Aufenthaltstitels — wie der vorliegenden — grundsätzlich der Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung oder Entscheidung in der Tatsacheninstanz. Aus Gründen des materiellen Rechts gilt für den Fall, dass ein Anspruch an eine gesetzliche Altersgrenze knüpft, eine Ausnahme von diesem Grundsatz. Setzt der Anspruch die Minderjährigkeit des Antragstellers voraus, so muss diese zum Zeitpunkt der Antragstellung vorliegen. Die übrigen Voraussetzungen für den Kindernachzug müssen spätestens auch im Zeitpunkt des Erreichens der Altersgrenze und zu dem der letzten mündlichen Verhandlung oder Entscheidung in der Tatsacheninstanz gegeben sein, sodass alle Voraussetzungen wenigstens einmal zeitgleich erfüllt sein müssen. Nach diesem Zeitpunkt eingetretene Sachverhaltsänderungen zugunsten des Betroffenen können nicht berücksichtigt werden. Bei Anspruchsgrundlagen, die eine Altersgrenze enthalten, die der Betroffene im maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Verhandlung oder Entscheidung überschritten hat, ist mithin eine auf zwei unterschiedliche Zeitpunkte bezogene Doppelprüfung erforderlich (BVerwG, Urteil vom 7. April 2009 - 1 C 17.08 - BVerwGE 133, 329 Rn. 10 und Beschluss vom 23. April 2020 - 1 C 16.19 - Buchholz 451.902 Europ. Ausl.- und Asylrecht Nr. 113 Rn. 9).
14 Danach hat die Klägerin keinen Anspruch nach § 32 Abs. 1 AufenthG, weil sie zum maßgeblichen Zeitpunkt der Visumantragstellung bei der Auslandsvertretung im April 2019 bereits volljährig war. Eine Auslegung des § 32 Abs. 1 AufenthG dahin, dass sich die Minderjährigkeit des Kindes anhand des Zeitpunkts der Asylantragstellung des zusammenführenden Elternteils beurteilt, ist in Anwendung der allgemein anerkannten Auslegungsregeln nicht möglich, auch wenn Art. 4 Abs. 1 RL 2003/86/EG nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs ein Abstellen auf diesen Zeitpunkt gebietet (vgl. BVerwG, Beschluss vom 23. April 2020 - 1 C 16.19 - Buchholz 451.902 Europ. Ausl.- und Asylrecht Nr. 113 Rn. 10).
15 Entgegen der Annahme des Verwaltungsgerichts stellt eine bei der Ausländerbehörde abgegebene sogenannte fristwahrende Anzeige nach § 29 Abs. 2 Satz 2 Nr. 1 i. V. m. Satz 3 AufenthG, die nach Auffassung des Verwaltungsgerichts in der vom Vater der Klägerin im November 2015 abgegebenen Erklärung zu sehen ist, keinen Visumantrag dar. Die Erklärung bewirkt lediglich, dass bei einer Antragstellung auf Erteilung eines Aufenthaltstitels im Zuge des Familiennachzuges innerhalb von drei Monaten ab unanfechtbarer Schutzgewährung von den Voraussetzungen der Lebensunterhalts- und Wohnraumsicherung nach § 5 Abs. 1 Nr. 1 und § 29 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AufenthG abzusehen ist.
16 Diese Regelung soll dem Umstand Rechnung tragen, dass dem Familienangehörigen eines Flüchtlings aufgrund besonderer Umstände im Aufenthaltsstaat eine fristgerechte Antragstellung unter Umständen nicht oder nur unter erschwerten Bedingungen möglich ist, und dient der Umsetzung von Art. 12 Abs. 1 RL 2003/86/EG (BT-Drs. 16/5065 S. 172). Gleichwohl ist nach den - von Art. 5 Abs. 1 RL 2003/86/EG gedeckten – § 71 Abs. 2 Satz 1 und § 81 Abs. 1 AufenthG der Visumantrag von dem nachzugswilligen Ausländer bei der zuständigen Auslandsvertretung zu stellen. Eine Modifikation dieser Vorgaben ist § 29 Abs. 2 Satz 2 Nr. 1 und Satz 3 AufenthG insbesondere im Hinblick auf die Regelungsintention des Gesetzgebers nicht zu entnehmen.
17 2. Die vom Verwaltungsgericht ausgesprochene Verpflichtung der Beklagten zur Erteilung von Visa zum Familiennachzug an die Klägerin erweist sich jedoch aus anderen Gründen als richtig (§ 144 Abs. 4 VwGO), weil die Klägerin einen Anspruch aus Art. 4 Abs. 1 Unterabs. 1 Buchst. c RL 2003/86/EG hat. Danach gestatten die Mitgliedstaaten den minderjährigen Kindern des Zusammenführenden, der das Sorgerecht besitzt und für den Unterhalt der Kinder aufkommt, die Einreise und den Aufenthalt. Die Voraussetzungen für eine unmittelbare Anwendung der Richtlinienvorschrift liegen vor (BVerwG, Beschluss vom 23. April 2020 - 1 C 16.19 - Buchholz 451.902 Europ. Ausl.- und Asylrecht Nr. 113 Rn. 11).
18 a) Für den Kindernachzug zu einem als Flüchtling anerkannten Elternteil hat der Gerichtshof Art. 4 Abs. 1 Unterabs. 1 Buchst. c RL 2003/86/EG dahin ausgelegt, dass für die Feststellung, ob das Kind, wenn es vor der Anerkennung des zusammenführenden Elternteils als Flüchtling und vor Stellung des Antrags auf Familienzusammenführung volljährig geworden ist, minderjährig im Sinne dieser Bestimmung ist, der Zeitpunkt maßgebend ist, zu dem der zusammenführende Elternteil seinen Asylantrag gestellt hat, sofern der Antrag auf Familienzusammenführung innerhalb von drei Monaten nach Anerkennung des zusammenführenden Elternteils als Flüchtling gestellt wurde (EuGH, Urteil vom 1. August 2022 - C-279/20 [ECLI:EU:C:2022:618] - Rn. 54; vgl. entsprechend zum Nachzug der Eltern zum unbegleiteten minderjährigen Flüchtling EuGH, Urteil vom 12. April 2018 - C-550/16 [ECLI:EU:C:2018:248] - Rn. 64). Dem liegt die Erwägung zugrunde, dass die praktische Wirksamkeit des Rechts auf Familiennachzug nicht von der Dauer der Bearbeitung des Antrags auf internationalen Schutz durch die nationale Behörde abhängen, sondern sichergestellt sein soll, dass der Erfolg des Antrags auf Familienzusammenführung in erster Linie von Umständen abhängt, die in der Sphäre der Antragsteller liegen (vgl. EuGH, Urteile vom 12. April 2018 - C-550/16 - Rn. 55 und 60 und vom 1. August 2022 - C-279/20 - Rn. 47 ff.).
19 Die mit der Dreimonatsfrist bewirkte Begrenzung der Möglichkeit, sich für den Familiennachzug auf die bei Asylantragstellung des zusammenführenden Familienangehörigen noch bestehende Minderjährigkeit zu berufen, beruht darauf, dass es dem Ziel des zum Schutz von Minderjährigen geregelten Nachzugsanspruchs nicht entspräche, wenn sich die Betroffenen hierauf ohne zeitliche Grenze berufen könnten, und dass einem Antrag auf Familienzusammenführung grundsätzlich kein Hindernis aus der behördlichen Sphäre mehr entgegensteht, wenn über die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft an den zusammenführenden Familienangehörigen entschieden ist. Der Gerichtshof hat deshalb eine Antragstellung innerhalb einer angemessenen Frist für erforderlich gehalten, die er in Anlehnung an Art. 12 Abs. 1 Unterabs. 3 RL 2003/86/EG auf drei Monate bestimmt hat (vgl. EuGH, Urteile vom 12. April 2018 - C-550/16 - Rn. 61 und vom 1. August 2022 - C-279/20 - Rn. 53). Eine Frist für die Visumantragstellung kann jedoch nicht zu laufen beginnen, bevor das nachzugswillige Kind volljährig wird (vgl. EuGH, Urteil vom 30. Januar 2024 - C-560/20 [ECLI:EU:C:2024:96] - Rn. 40). Die sich hieraus ergebende Frist für die Visumantragstellung hat die Klägerin nicht eingehalten.
20 b) Eine verspätete Antragstellung kann dem nachzugswilligen Kind allerdings ausnahmsweise nicht entgegengehalten werden, wenn eine hinreichende Information über die Frist und die zu ihrer Einhaltung erforderlichen Maßnahmen nicht erfolgte und die Überschreitung der Frist aufgrund besonderer Umstände objektiv entschuldbar war. Dies ergibt sich aus einer entsprechenden Anwendung der im Rahmen des Art. 12 Abs. 1 RL 2003/86/EG geltenden Grundsätze. Eine andere Handhabung wäre mit dem unionsrechtlichen Effektivitätsgrundsatz nicht zu vereinbaren, nach dem verfahrensrechtliche Regelungen die Ausübung der durch die Unionsrechtsordnung verliehenen Rechte nicht praktisch unmöglich machen oder übermäßig erschweren dürfen; dies ist unter anderem unter Berücksichtigung des Verfahrensablaufs und der Besonderheiten des Verfahrens vor den verschiedenen innerstaatlichen Stellen zu prüfen (vgl. EuGH, Urteil vom 7. November 2018 - C-380/17 [ECLI:EU:C:2018:877] - Rn. 56 und 58). Daran anknüpfend steht Art. 12 Abs. 1 RL 2003/86/EG einer nationalen Regelung, nach der ein Antrag auf Familienzusammenführung unter den günstigeren Bedingungen des Kapitels V der Richtlinie 2003/86/EG wegen einer Versäumung der in Art. 12 Abs. 1 Unterabs. 3 RL 2003/86/EG genannten Frist abgelehnt werden kann, nur dann nicht entgegen, wenn die Regelung unter anderem vorsieht, dass ein solcher Ablehnungsgrund in Fällen unzulässig ist, in denen die verspätete Stellung des Antrags aufgrund besonderer Umstände objektiv entschuldbar ist und dass die betroffenen Personen in vollem Umfang über die Folgen der Entscheidung zur Ablehnung ihres Antrags und die Maßnahmen, die sie zu ergreifen haben, um das Recht auf Familienzusammenführung wirksam geltend zu machen, informiert werden (EuGH, Urteil vom 7. November 2018 - C-380/17 - Rn. 66).
21 Im Hinblick auf die hier in Rede stehende, vom Gerichtshof ebenfalls aus Art. 12 Abs. 1 Unterabs. 3 RL 2003/86/EG abgeleitete Frist finden diese Grundsätze entsprechende Anwendung. Ein derartiges Verständnis ergibt sich aus den Zielen der Richtlinie 2003/86/EG. Sie soll die Familienzusammenführung begünstigen und Drittstaatsangehörigen, namentlich Minderjährigen, Schutz gewähren. Wie aus dem achten Erwägungsgrund der Richtlinie hervorgeht, zielt die Richtlinie darauf ab, Drittstaatsangehörigen, denen die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt worden ist, einen stärkeren Schutz zu gewähren, indem sie günstigere Bedingungen für die Ausübung ihres Rechts auf Familienzusammenführung vorsieht, da ihrer Lage wegen der Gründe, die sie zur Flucht gezwungen haben und die sie daran hindern, ein normales Familienleben zu führen, besondere Aufmerksamkeit geschenkt werden sollte. Die Bestimmungen der Richtlinie müssen zudem im Lichte von Art. 7 und Art. 24 Abs. 2 und 3 GRC ausgelegt werden; daher müssen die zuständigen nationalen Behörden alle zu berücksichtigenden Interessen, insbesondere die der betroffenen Kinder, ausgewogen und sachgerecht bewerten (vgl. EuGH, Urteil vom 18. April 2023 - C-1/23 PPU [ECLI:EU:C:2023:296] - Rn. 42 ff.). Diesen Zielen der Richtlinie kann in Fällen wie dem vorliegenden nur dann in unionsrechtskonformer Weise Rechnung getragen werden, wenn die Fristversäumnis unter den bezeichneten Voraussetzungen einem nachzugswilligen Kind nicht entgegengehalten werden darf. An der Richtigkeit dieser Interpretation des Unionsrechts bestehen keine vernünftigen Zweifel. Der Durchführung eines Vorabentscheidungsverfahrens nach Art. 267 Abs. 3 AEUV bedarf es daher nicht (vgl. EuGH, Urteil vom 9. September 2015 - C-160/14 [ECLI:EU:C:2015:565] - Rn. 38).
22 c) Die bezeichneten Voraussetzungen liegen hier vor. Mangels hinreichender Informationen im Hinblick auf die einzuhaltende Frist und der objektiven Entschuldbarkeit der verspäteten Antragstellung aufgrund der Umstände des Einzelfalls steht die Fristversäumung dem Anspruch der Klägerin nicht entgegen.
23 aa) Die Bindung des Visumantrags an die genannte Frist konnte der Klägerin nicht bekannt sein, da sie sich erst aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs (Urteile vom 12. April 2018 - C-550/16 -, vom 1. August 2022 - C-279/20 - und vom 30. Januar 2024 - C-560/20 - Rn. 40) ergibt. Dieser Rechtsprechung war das Erfordernis einer zeitnahen Antragstellung in der vorliegenden Fallgestaltung des Kindernachzuges erst nach dem Ablauf der im Falle der Klägerin einzuhaltenden Frist hinreichend klar zu entnehmen. Soweit die Beklagte auf die Möglichkeit verweist, einen Visumantrag während des Laufs der Frist auch anders als im Rahmen einer persönlichen Vorsprache bei einer Auslandsvertretung - etwa per E-Mail oder Telefax - zu stellen, ist die Klägerin hierüber nicht hinreichend deutlich und unmissverständlich informiert worden, wie sich aus den bindenden Feststellungen des Verwaltungsgerichts und dem Vorbringen der Beteiligten im Revisionsverfahren ergibt. Vielmehr lag für die Klägerin mangels verlässlicher anderweitiger Informationen der Eindruck nahe, mit der Erklärung ihres Vaters vom 17. November 2015 sei alles zur Fristwahrung Erforderliche getan.
24 bb) Die Klägerin war nach den gemäß § 137 Abs. 2 und § 134 Abs. 4 VwGO bindenden tatsächlichen Feststellungen des Verwaltungsgerichts unverschuldet und damit objektiv entschuldbar an der rechtzeitigen persönlichen Antragstellung bei der Auslandsvertretung gehindert. Im Klageverfahren hat sie geltend gemacht, die Mutter habe nach der fristwahrenden Anzeige des Vaters bei der Ausländerbehörde am 17. November 2015 versucht, bei der Deutschen Botschaft in Asmara/Eritrea Visa zu beantragen. Ihr sei mitgeteilt worden, dass lediglich Kinder bis zum 5. Lebensjahr berücksichtigt würden. Die Klägerin sei deswegen mit ihrer Mutter und ihren Geschwistern nach Äthiopien geflüchtet und dort seien sie am 16. Oktober 2018 durch den UNHCR als Flüchtlinge registriert worden. Mithilfe der IOM seien dann am 12. Februar 2019 Visa beantragt worden. Nach Einvernahme der Eltern der Klägerin als Zeugen ist das Verwaltungsgericht zu der Überzeugung gelangt, dass die wesentliche Ursache für die erhebliche Dauer des Visumverfahrens nicht auf ein Nichtbetreiben durch die Klägerin und ihre Mutter, sondern auf die von ihnen vorgefundenen äußeren Umstände zurückgehe, die durch die politische und humanitäre Lage in Eritrea, wie den Grenzkonflikt Eritreas mit Äthiopien geprägt seien. Die Mutter habe anschaulich und glaubhaft beschrieben, dass ihre Tochter — die Klägerin — bereits kurz nach der Ausreise des Vaters Eritrea ebenfalls verlassen wollte, dass sie jedoch an der Grenze festgenommen worden und in das Gefängnis und anschließend in ein Militärcamp gekommen sei. Als Eritrea kurzzeitig Frieden mit Äthiopien geschlossen habe und die Grenze im September 2018 für kurze Zeit geöffnet und passierbar gewesen sei, hätten die Klägerin und ihre Familie einen kurzen Hafturlaub von fünf Tagen anlässlich des eritreischen Neujahrs genutzt, um Eritrea zu verlassen und nach Äthiopien zu fliehen. Der daraus gezogene Schluss, das Unterbleiben einer fristgemäßen Antragstellung sei unverschuldet, ist revisionsrechtlich nicht zu beanstanden.
25 d) Die übrigen, bei einem unmittelbar aus Art. 4 Abs. 1 Unterabs. 1 Buchst. c RL 2003/86/EG begründeten Anspruch entsprechend geltenden national-rechtlichen Voraussetzungen für die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis zum Zwecke des Familiennachzuges liegen nach den bindenden tatsächlichen Feststellungen des Verwaltungsgerichts vor. Auf dieser Grundlage ist gemäß § 29 Abs. 2 Satz 2 AufenthG vom Erfordernis der Sicherung des Lebensunterhalts nach § 5 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG und vom Wohnraumerfordernis des § 29 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AufenthG abzusehen. Es ist auch nicht ersichtlich, dass der Klägerin und ihrer Familie die Herstellung der familiären Lebensgemeinschaft in einem Staat möglich wäre, der nicht Mitgliedstaat der Europäischen Union ist und zu dem sie eine besondere Bindung hätten (§ 29 Abs. 2 Satz 2 Nr. 2 AufenthG). Die sonstigen allgemeinen Voraussetzungen für die Erteilung von Aufenthaltserlaubnissen liegen nach den Feststellungen des Verwaltungsgerichts vor.
26 3. Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 und § 162 Abs. 3 VwGO. Da sich die Beigeladene nicht mit einem Antrag am Kostenrisiko beteiligt hat, entspricht es der Billigkeit, dass sie ihre außergerichtlichen Kosten selbst trägt.