Beschluss vom 28.06.2017 -
BVerwG 20 F 12.16ECLI:DE:BVerwG:2017:280617B20F12.16.0
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Zitiervorschlag
BVerwG, Beschluss vom 28.06.2017 - 20 F 12.16 - [ECLI:DE:BVerwG:2017:280617B20F12.16.0]
Beschluss
BVerwG 20 F 12.16
- OVG Lüneburg - 05.09.2016 - AZ: OVG 7 KS 79/12
In der Verwaltungsstreitsache hat der Fachsenat des Bundesverwaltungsgerichts für Entscheidungen nach § 99 Abs. 2 VwGO
am 28. Juni 2017
durch den Vorsitzenden Richter am Bundesverwaltungsgericht Prof. Dr. Rubel, den Richter am Bundesverwaltungsgericht Brandt und
die Richterin am Bundesverwaltungsgericht Dr. Kuhlmann
beschlossen:
Der Antrag wird abgelehnt.
Gründe
I
1 Die Kläger wenden sich mit dem diesem Zwischenverfahren zugrunde liegenden Hauptsacheverfahren gegen eine atomrechtliche Genehmigung zur Aufbewahrung von Kernbrennstoffen aus dem Kernkraftwerk Unterweser im dazugehörigen Standortzwischenlager. Nachdem das Bundesverwaltungsgericht mit Urteil vom 22. März 2012 - 7 C 1.11 - BVerwGE 142, 159 das die Klage abweisende Urteil des Niedersächsischen Oberverwaltungsgerichts vom 23. Juni 2010 (7 KS 215/03) aufgehoben und die Sache zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das Oberverwaltungsgericht zurückverwiesen hatte, gab dieses der Beklagten mit Beschluss vom 22. März 2016 auf, im einzelnen benannte Unterlagen vorzulegen. Zur Begründung führte es aus, deren Kenntnis sei unerlässlich für die gerichtliche Überprüfung, ob die Genehmigungsbehörde willkürfrei habe annehmen dürfen, dass der nach § 6 Abs. 2 Nr. 4 AtG erforderliche Schutz des Zwischenlagers gegen Störmaßnahmen oder sonstige Einwirkungen Dritter (SEWD), namentlich gegen gezielte Flugzeugabstürze und einen Hohlladungsbeschuss der Castorbehälter, gewährleistet sei. Dies gelte nicht nur für diejenigen Unterlagen, die der Genehmigungsbehörde im Zeitpunkt des Erlasses der angefochtenen Genehmigung vorgelegen hätten, d.h. die Datenbasis, aufgrund deren die Beklagte entschieden habe. Desgleichen seien Unterlagen entscheidungserheblich, die erst nach Erlass der Genehmigung erstellt worden seien. Denn ein zwischenzeitlich fortgeschrittener Kenntnisstand bzw. ein fortgeschrittener Stand von Wissenschaft und Technik könne ein vordem für möglich erachtetes Risiko nachträglich entfallen lassen, so dass auch bei erneuter Genehmigungserteilung insoweit wiederum keine Vorsorge zu treffen sei.
2 Die Beklagte legte daraufhin die unter Ziffern 11, 12 und 15 des Beschlusses vom 22. März 2016 genannten Unterlagen vollständig und die unter Ziffern 1, 3, 4, 5, 7, 8, 10, 13, 14 und 16 genannten Unterlagen teilweise und/oder mit geschwärzten Passagen vor; das unter Ziffer 6 genannte Gutachten war bereits zuvor in teilweise geschwärzter Form vorgelegt worden. Im Übrigen verweigerte das beigeladene Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktorsicherheit (BMUB) mit Sperrerklärung vom 15. Juli 2016 eine vollständige und ungeschwärzte Vorlage der angeforderten Unterlagen mit der Begründung, dass ein Bekanntwerden des Inhalts der nicht offengelegten Aktenbestandteile dem Wohl des Bundes und der Länder Nachteile bereiten würde. Zudem seien die betreffenden Unterlagen ihrem Wesen nach geheim zu halten. Auf den Antrag der Kläger nach § 99 Abs. 2 VwGO hat das Oberverwaltungsgericht mit Beschluss vom 5. September 2016 die Sache dem Fachsenat des Bundesverwaltungsgerichts zur Entscheidung vorgelegt und darauf verwiesen, dass die im Beschluss vom 22. März 2016 bejahte Entscheidungserheblichkeit der Unterlagen ungeachtet der mittlerweile ergangenen 4. Änderungsgenehmigung vom 11. August 2016 nicht entfallen sei und daher auf ihre Vorlage nicht verzichtet werden könne.
II
3 Der Antrag der Kläger, die Rechtswidrigkeit der Sperrerklärung festzustellen, bleibt ohne Erfolg.
4 1. Der Antrag ist überwiegend zulässig. Derzeit unzulässig und deshalb abzulehnen ist der Antrag indessen, soweit das Oberverwaltungsgericht die Entscheidungserheblichkeit der angeforderten Akten auch für die geschwärzten Passagen in Unterlage Ziffer 4 S. 1 obere Hälfte, S. 3 und S. 4, Unterlage Ziffer 7 S. 1 und S. 2 sowie Unterlage Ziffer 10 unter Nr. 6 - 10 (S. 43 - 85) und auf S. 102, 103, 104, 114, 115 und 116 bejaht hat.
5 a) Aus der durch § 99 VwGO vorgegebenen Aufgabenverteilung zwischen dem Fachsenat und dem Gericht der Hauptsache folgt, dass zunächst das zur Sachentscheidung berufene Gericht zu prüfen und förmlich darüber zu befinden hat, ob und gegebenenfalls welche Informationen aus den Akten für die Entscheidung erforderlich sind, bevor die oberste Aufsichtsbehörde nach § 99 Abs. 1 Satz 2 VwGO über die Freigabe oder Verweigerung der in Rede stehenden Aktenteile befindet. Hat das Gericht der Hauptsache die Entscheidungserheblichkeit wie hier in einem Beschluss geprüft und bejaht, ist der Fachsenat grundsätzlich an dessen Rechtsauffassung gebunden. Eine andere Beurteilung durch den Fachsenat kommt nur dann in Betracht, wenn die Rechtsauffassung des Gerichts der Hauptsache offensichtlich fehlerhaft ist. Eine Bindungswirkung entfällt darüber hinaus auch dann, wenn das Gericht der Hauptsache seiner Verpflichtung nicht genügt, die ihm nach dem Amtsermittlungsgrundsatz zur Verfügung stehenden Mittel zur Aufklärung des Sachverhalts zu erschöpfen, um auf dieser Grundlage über die Erforderlichkeit der ungeschwärzten Aktenvorlage zu entscheiden (stRspr, vgl. BVerwG, Beschluss vom 21. Januar 2016 - 20 F 2.15 [ECLI:DE:BVerwG:2016:210116B20F2.15.0] - NVwZ 2016, 467 Rn. 4 m.w.N.). Auch wenn das Gericht der Hauptsache zunächst in einem Beweisbeschluss in ausreichender Weise die Entscheidungserheblichkeit der angeforderten Akten verlautbart, kann es gleichwohl verpflichtet sein, alle oder einzelne Unterlagen nach Abgabe der Sperrerklärung nochmals auf ihre Entscheidungserheblichkeit zu untersuchen. Gegebenenfalls ist auch zu prüfen, ob und in welchem Umfang es der genauen Kenntnis des Inhalts der Schwärzungen bedarf (BVerwG, Beschluss vom 21. Januar 2016 - 20 F 2.15 - NVwZ 2016, 467 Rn. 6 und 8).
6 b) Hiernach ist gegen die Ausführungen des Oberverwaltungsgerichts zur Entscheidungserheblichkeit dem Grunde nach nichts zu erinnern. Anders liegt der Fall hingegen bei den oben erwähnten Schwärzungen.
7 Bei den geschwärzten Stellen in Unterlage Ziffer 4 S. 1 obere Hälfte, S. 3 und S. 4, Unterlage Ziffer 7 S. 1 und S. 2 handelt es sich ersichtlich um die Namen und Amtsbezeichnungen von Behördenmitarbeitern, Kommunikationsdaten und sonstige Verfügungen, die den Inhalt der Schreiben unverändert lassen. Es ist demnach nicht dargetan, dass es der Kenntnis dieser Informationen bedürfte, um die Frage nach dem Vorliegen der tatbestandlichen Voraussetzungen des § 6 Abs. 2 Nr. 4 AtG zu beantworten. Entsprechendes gilt für die Schwärzungen in Unterlage Ziffer 10 unter Nr. 6 - 10 (S. 43 - 85) sowie auf S. 102, 103, 104, 114, 115 und 116. Denn diese Ausführungen beziehen sich nach den Erläuterungen zu den Schwärzungen auf andere Typen von Standort-Zwischenlagern, die nicht Gegenstand des Klageverfahrens sind. Ungeachtet der offensichtlich irrtümlichen Angabe eines nicht belegten Kürzels in der Überschrift zu Abschnitt Nr. 6 (66), folgt dies für den betreffenden Abschnitt aus dem im Folgenden verwendeten zutreffenden Kürzel (13).
8 2. Soweit zulässig, ist der Antrag unbegründet. Die Sperrerklärung ist in diesem Umfang rechtmäßig.
9 a) Nach § 99 Abs. 1 Satz 1 VwGO sind Behörden zur Vorlage von Urkunden oder Akten und Auskünften verpflichtet. Wenn das Bekanntwerden des Inhalts dieser Urkunden, Akten und Auskünfte dem Wohl des Bundes oder eines deutschen Landes Nachteile bereiten würde oder wenn die Vorgänge nach einem Gesetz oder ihrem Wesen nach geheim gehalten werden müssen, kann die zuständige oberste Aufsichtsbehörde die Vorlage der Urkunden oder Akten oder die Erteilung der Auskünfte verweigern (§ 99 Abs. 1 Satz 2 VwGO).
10 aa) Allein die Tatsache der Einstufung der angeforderten Unterlagen als Verschlusssache rechtfertigt die Verweigerung der Vorlage nicht. Denn die betreffenden Akten sind nicht schon deswegen ihrem Wesen nach oder nach einem Gesetz geheim zu halten. Entscheidend ist vielmehr, ob sich nach den materiellen Maßstäben des § 99 Abs. 1 Satz 2 VwGO eine Geheimhaltungsbedürftigkeit ergibt, ob also der Grund für die Einstufung als Verschlusssache noch fortbesteht (stRspr, vgl. BVerwG, Beschlüsse vom 20. September 2010 - 20 F 9.10 - NVwZ-RR 2011, 135 Rn. 7 f. und vom 29. April 2015 - 20 F 8.14 - DVBl 2015, 901 Rn. 11, jeweils m.w.N.).
11 bb) Bereitet das Bekanntwerden des Inhalts zurückgehaltener Unterlagen dem Wohl des Bundes oder eines Landes Nachteile, ist ihre Geheimhaltung ein legitimes Anliegen des Gemeinwohls. Nachteile im Sinne dieses Geheimhaltungsgrundes erfassen Beeinträchtigungen und Gefährdungen des Bestandes und der Funktionsfähigkeit des Staates und seiner wesentlichen Einrichtungen. Der Verweigerungsgrund ist eng auszulegen, der Nachteil muss von erheblichem Gewicht sein. Ein solcher Nachteil ist insbesondere dann gegeben, wenn und soweit die Bekanntgabe des Akteninhalts die künftige Erfüllung der Aufgaben der Sicherheitsbehörden einschließlich ihrer Zusammenarbeit mit anderen Behörden erschweren oder Leben, Gesundheit oder Freiheit von Personen gefährden würde (BVerwG, Beschlüsse vom 20. September 2010 - 20 F 9.10 - NVwZ-RR 2011, 135 Rn. 10 und vom 30. November 2015 - 20 F 7.15 [ECLI:DE:BVerwG:2015:301115B20F7.15.0] - juris Rn. 10).
12 cc) Nach diesem Maßstab stellt die in Rede stehende Offenlegung von sicherheitsrelevanten Informationen über Sicherungs- und Schutzkonzepte sowie Sicherungs- und Schutzmaßnahmen nebst der zugrunde gelegten Lastannahmen, die der Vorsorge gegen und der Abwehr von Störmaßnahmen oder sonstigen Einwirkungen Dritter (SEWD) bei der Zwischenlagerung radioaktiver Stoffe dienen, einen erheblichen Nachteil im Sinne des § 99 Abs. 1 Satz 2 Alt. 1 VwGO dar. Es liegt auf der Hand, dass Maßnahmen zur Gewährleistung einer sicheren Zwischenlagerung von radioaktiven Materialien unterlaufen oder zumindest erheblich beeinträchtigt werden, wenn durch eine Offenlegung die Gefahr besteht, dass die Allgemeinheit und damit potentiell auch Personen, die terroristische Anschläge auf ein solches Lager planen, Kenntnis über Reichweite und Ausgestaltung der Sicherheitsvorkehrungen erlangen können und ihnen anhand von gutachterlich untersuchten Szenarien "Handlungsanleitungen" für ein Vorgehen geliefert würden, das auf einen größtmöglichen Schaden durch die Freisetzung radioaktiver Stoffe gerichtet ist (BVerwG, Beschluss vom 20. September 2010 - 20 F 9.10 - NVwZ-RR 2011, 135 Rn. 11).
13 dd) Die Durchsicht der dem Fachsenat vollständig und ungeschwärzt vorgelegten Unterlagen bestätigt, dass dieser Geheimhaltungsgrund - vorbehaltlich der nachfolgenden Ausführungen unter ee) - vorliegt und die Weigerung der Offenlegung rechtfertigt. Von einer weiteren Begründung wird gemäß § 99 Abs. 2 Satz 10 VwGO abgesehen.
14 ee) Soweit schließlich in den vorgelegten Gutachten teilweise die Namen der Bearbeiter geschwärzt worden sind, ist dies ebenfalls nicht zu beanstanden. Denn personenbezogene Daten sind grundsätzlich ihrem Wesen nach geheim zu halten (§ 99 Abs. 1 Satz 2 Alt. 3 VwGO).
15 b) Die Sperrerklärung vom 15. Juli 2016 genügt schließlich auch den Anforderungen an eine ordnungsgemäße Ermessensausübung im Sinne des § 99 Abs. 1 Satz 2 VwGO.
16 Das beigeladene BMUB in seiner Eigenschaft als oberste Aufsichtsbehörde hat das ihm durch § 99 Abs. 1 Satz 2 VwGO eingeräumte Ermessen erkannt und mit Blick auf den jeweiligen Inhalt der betroffenen Unterlagen die Interessen des Bundes und der Länder an der Geheimhaltung mit dem gegenläufigen privaten und öffentlichen Interesse an effektivem Rechtsschutz und umfassender Aufklärung des Sachverhalts abgewogen. Dass es den Geheimhaltungsinteressen einen höheren Stellenwert eingeräumt hat, ist angesichts des gewichtigen öffentlichen und privaten Interesses an effektivem Schutz vor Störmaßnahmen
17 oder sonstigen Einwirkungen Dritter bei der Lagerung radioaktiver Stoffe nicht zu beanstanden (BVerwG, Beschluss vom 20. September 2010 - 20 F 9.10 - NVwZ-RR 2011, 135 Rn. 21).