Beschluss vom 27.06.2006 -
BVerwG 3 B 183.05ECLI:DE:BVerwG:2006:270606B3B183.05.0
Leitsatz:
Die nach § 4 Satz 1 NS-VEntschG zuständige Behörde ist bei der Entschädigungsberechnung an die Feststellungen der Vermögensbehörden zu der für die Berechtigung nach § 1 Abs. 6 VermG maßgeblichen Schädigung gebunden.
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Rechtsquellen
NS-VEntschG § 1 Abs. 1 Satz 1, § 2 Satz 1 und 2, § 3 Satz 2, § 4 Satz 1 VermG § 1 Abs. 6 Satz 1 BRRG § 16 Abs. 2 Satz 2 BEG § 56 Abs. 1 -
Instanzenzug
VG Berlin - 19.08.2005 - AZ: VG 22 A 402.04
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Zitiervorschlag
BVerwG, Beschluss vom 27.06.2006 - 3 B 183.05 - [ECLI:DE:BVerwG:2006:270606B3B183.05.0]
Beschluss
BVerwG 3 B 183.05
- VG Berlin - 19.08.2005 - AZ: VG 22 A 402.04
In der Verwaltungsstreitsache hat der 3. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
am 27. Juni 2006
durch den Vorsitzenden Richter am Bundesverwaltungsgericht Kley
und die Richter am Bundesverwaltungsgericht Liebler und Prof. Dr. Rennert
beschlossen:
- Die Beschwerde der Klägerin gegen die Nichtzulassung der Revision in dem Urteil des Verwaltungsgerichts Berlin vom 19. August 2005 wird zurückgewiesen.
- Die Klägerin trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.
- Der Wert des Streitgegenstandes wird für das Beschwerdeverfahren auf 26 996,22 € festgesetzt.
Gründe
1 Die Klägerin wendet sich gegen die Festsetzung der Höhe einer ihr für den Verlust eines Unternehmens gewährten Entschädigung nach dem NS-Verfolgtenentschädigungsgesetz - NS-VEntschG -. Sie ist der Auffassung, als Bemessungsgrundlage müssten die Unternehmensdaten aus dem Jahre 1934, wenn nicht sogar frühere Daten herangezogen werden, weil der Umsatzrückgang eine bereits zu diesem Zeitpunkt eingetretene Schädigung belege. Das Verwaltungsgericht hat ihre Klage abgewiesen, weil die Berechnung der Entschädigung an die Feststellungen des Bescheides anknüpfen müsse, mit dem die Schädigung im Sinne des § 1 Abs. 6 des Vermögensgesetzes - VermG - festgestellt worden sei; demgemäß sei die Berechnungsgrundlage ausgehend von einer Schädigung im Jahre 1939 zu ermitteln, als das Unternehmen infolge der Beschlagnahme des gesamten Unternehmensvermögens „auf andere Weise“ verloren gegangen sei.
2 Die Beschwerde der Klägerin gegen die Nichtzulassung der Revision in diesem Urteil bleibt ohne Erfolg. Die Rechtssache weist nicht die geltend gemachte grundsätzliche Bedeutung im Sinne des § 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO auf.
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Die Klägerin hält für grundsätzlich klärungsbedürftig,
ob der Begriff des „vor der Schädigung zuletzt festgestellten Einheitswertes“ in § 2 NS-VEntschG bei einem jüdischen Unternehmen stets nur den Einheitswert zu Beginn des Jahres meint, in welchem die endgültige Schließung/
Stilllegung (oder Verkauf) erfolgte, oder ob in Fällen verfolgungs- und boykottbedingter Umsatzrückgänge zur Entschädigungsberechnung auf den Einheitswert zu Beginn des Jahres abzustellen ist, in dem sich Verfolgung und Boykott negativ auf den Geschäftswert und mithin einheitswertmindernd auswirkten.
4 Die Klärung dieser Frage bedarf nicht der Durchführung eines Revisionsverfahrens, weil sich ihre Beantwortung unmittelbar aus dem Gesetz ergibt.
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Nach § 1 Abs. 1 Satz 1 NS-VEntschG besteht unter den dort genannten Voraussetzungen „in den Fällen des § 1 Abs. 6 des Gesetzes zur Regelung offener Vermögensfragen“ ein Anspruch auf Entschädigung. Anknüpfungspunkt für die Entschädigung ist demnach die Feststellung einer entsprechenden vermögensrechtlichen Berechtigung, die hier durch das Sächsische Landesamt zur Regelung offener Vermögensfragen mit Bescheid vom 14. Dezember 2001
getroffen worden ist. Das Entschädigungsverfahren, für das nach § 4 Satz 1 NS-VEntschG das Bundesamt für zentrale Dienste und offene Vermögensfragen zuständig ist, schließt an das vermögensrechtliche Verfahren an und ist an die dort getroffenen Feststellungen gebunden. Ausgehend davon liegt es auf der Hand, dass die für die Berechtigung maßgebliche Schädigung und damit auch deren Zeitpunkt durch die auf der ersten Stufe getroffene vermögensrechtliche Entscheidung vorgegeben werden. Danach richtet sich, welcher Einheits- oder Ersatzeinheitswert als Bemessungsgrundlage für die Entschädigung heranzuziehen ist oder auf welchen Zeitpunkt für die Berechnung oder Schätzung eines hilfsweise heranzuziehenden Werts abzustellen ist. Das bedeutet, dass die Beklagte ihrer Entschädigungsberechnung zutreffend den infolge der Verhaftung des geschäftsführenden Gesellschafters und der Beschlagnahme der gesamten Vermögensgegenstände eingetretenen verfolgungsbedingten Verlust des Unternehmens im Jahre 1939 zugrunde gelegt hat; denn allein dies ist die Schädigungsmaßnahme nach § 1 Abs. 6 VermG, auf die die Berechtigtenfeststellung des Landesamts zur Regelung offener Vermögensfragen gestützt ist. Feststellungen zu vorausgehenden Schädigungshandlungen, die eine Vorverlagerung des Schädigungszeitpunktes im Sinne eines gestreckten Schädigungstatbestandes rechtfertigen könnten, enthält der Grundlagenbescheid nicht.
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Die Vorstellung der Klägerin, den Unternehmenswert mindernde Boykottmaßnahmen müssten auch ohne entsprechende Feststellungen im Grundlagenbescheid durch Vorverlagerung des Schädigungszeitpunktes kompensiert werden, geht nicht nur an der Zweistufigkeit des Verfahrens, sondern auch an dem Inhalt der für die Entschädigung maßgeblichen Rechtsvorschriften vorbei. Das Verwaltungsgericht hat bereits zutreffend darauf hingewiesen, dass § 2 Satz 1 NS-VEntschG bei seiner Bezugnahme auf die Vorschriften des Bundesrückerstattungsgesetzes ausdrücklich § 16 Abs. 2 Satz 2 von seiner Verweisung ausnimmt. Damit ist eine Erhöhung der Ersatzleistungen im Hinblick auf entgangene Nutzungen ausgeschlossen. Hinzu kommt, dass die Anrechnungsvorschrift des § 3 NS-VEntschG in ihrem Satz 2 nur die Berücksichtigung von Leistungen nach § 56 Abs. 1 Satz 1 des Bundesentschädigungsgesetzes - BEG - vorsieht, nicht aber die Verrechnung von Leistungen für entgangene Nutzungen oder Boykottschäden, auf die nach § 56 Abs. 1 Satz 2 und 3 BEG ebenfalls ein Anspruch bestand. Dies bezeichnen Heise/Leiner (in: Fieberg/Reichenbach/
Messerschmidt/Neuhaus, VermG, Rn. 23 zu § 3 NS-VEntschG) zu Recht als folgerichtig, weil solche Schäden nach § 1 Abs. 6 Satz 1 VermG nicht erstattungsfähig sind; denn danach erfasst die entsprechende Anwendung des Vermögensgesetzes nur den Verlust des Vermögenswerts. Die Gefahr einer Doppelentschädigung, die § 3 NS-VEntschG zu vermeiden sucht, besteht bei solchen Boykottschäden daher von vornherein nicht. Die Klägerin kommt zum gegenteiligen Ergebnis, weil sie den in § 3 Satz 2 NS-VEntschG enthaltenen Hinweis auf § 56 Abs. 1 Satz 1 BEG zugleich als Verweisung auf die folgenden Sätze 2 und 3 begreift; denn dort werde nur klargestellt, was auch als Vermögensschaden im Sinne des Satzes 1 zu gelten habe. Dieses im Widerspruch zur herrschenden Meinung stehende Gesetzesverständnis (vgl. Motsch/Weiß, in: Rädler/Raupach/Bezzenberger, Vermögen in der ehemaligen DDR, Rn. 5 zu § 3 NS-VEntschG; Heise/Leiner, a.a.O.) lässt aber nicht nur die dargelegte Systematik außer Acht, es ist auch deswegen nicht plausibel, weil der Gesetzgeber sich dann mit der Nennung des § 56 Abs. 1 BEG hätte begnügen können, ohne nach Sätzen zu differenzieren. Werden aber Boykottschäden als solche von der Regelung des § 1 Abs. 6 Satz 1 VermG nicht erfasst, kann nicht mit Rücksicht auf solche Verfolgungsmaßnahmen der Zeitpunkt eines späteren Unternehmensverlustes vorverlagert werden, um solchen Schäden dennoch Rechnung zu tragen; dies gilt umso mehr, als die in § 2 Satz 2 NS-VEntschG vorgeschriebene Vervierfachung des Einheitswerts gerade auch dem Umstand geschuldet ist, dass Unternehmen von Verfolgten schon vor ihrer endgültigen Entziehung massiven Benachteiligungen ausgesetzt waren (vgl. Motsch/Weiß/
Hohmeyer, a.a.O. Rn. 8 zu § 2 NS-VEntschG). Anderes gilt nur dann, wenn sich Verfolgungsmaßnahmen im Vorfeld der endgültigen Vermögensentziehung als erste Teilakte eines gestreckten Schädigungstatbestandes im Sinne des § 1 Abs. 6 Satz 1 VermG darstellen. Das setzt allerdings entsprechende Feststellungen im Grundlagenbescheid voraus, an denen es hier - wie dargelegt - fehlt.
7 Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO; die Streitwertfestsetzung beruht auf § 47 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 3 i.V.m. § 52 Abs. 1 und 3 GKG.