Beschluss vom 26.06.2009 -
BVerwG 8 B 56.09ECLI:DE:BVerwG:2009:260609B8B56.09.0
Beschluss
BVerwG 8 B 56.09
- VG Dresden - 26.09.2008 - AZ: VG 1 K 1568/03
In der Verwaltungsstreitsache hat der 8. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
am 26. Juni 2009
durch den Vorsitzenden Richter am Bundesverwaltungsgericht Gödel,
den Richter am Bundesverwaltungsgericht Dr. Pagenkopf und
die Richterin am Bundesverwaltungsgericht Dr. Hauser
beschlossen:
- Das Urteil des Verwaltungsgerichts Dresden vom 26. September 2008 wird aufgehoben.
- Die Sache wird zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das Verwaltungsgericht zurückverwiesen.
- Die Entscheidung über die Kosten bleibt der Schlussentscheidung vorbehalten.
- Der Wert des Streitgegenstandes wird für das Beschwerdeverfahren auf 500 000 € festgesetzt.
Gründe
1 Die zulässige Beschwerde ist begründet. Es liegen geltend gemachte Verfahrensmängel vor, auf denen die Entscheidung beruhen kann (§ 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO).
2 1. Das Verwaltungsgericht hat die gerichtliche Aufklärungspflicht verletzt (§ 86 Abs. 1 VwGO), weil es die Anträge des Klägers auf Anordnung des persönlichen Erscheinens des Sachverständigen zur Erläuterung seines Gutachtens und auf Vernehmung der Zeugin P. abgelehnt hat.
3 Das Verwaltungsgericht ist zu der Auffassung gelangt, dass die vom Kläger vorgelegte Urkunde nicht als eine beweistaugliche Urkunde angesehen werden kann. Es folgert dies daraus, dass das dritte Blatt der Urkunde mit dem notariellen Beglaubigungsvermerk und den beiden anderen Blättern der Urkunde nicht verbunden war und somit keine einheitliche Urkunde darstellte. Außerdem wiesen das Schriftbild und die Falzung Unterschiede auf. Ferner sei das Siegelband beschädigt gewesen. Eine Anhörung des Gutachters und eine Einvernahme der Mitarbeiterin des Sächsischen Hauptstaatsarchivs hat das Verwaltungsgericht nicht für erforderlich gehalten.
4 a) Das Tatsachengericht ist gemäß § 98 VwGO, §§ 402, 397 ZPO in der Regel verpflichtet, das Erscheinen des gerichtlich bestellten Sachverständigen in der mündlichen Verhandlung zur Erläuterung seines schriftlichen Gutachtens anzuordnen, wenn ein Verfahrensbeteiligter dies beantragt, weil er dem Sachverständigen Fragen stellen will (stRspr; z.B. Beschlüsse vom 16. Juli 2007 - BVerwG 2 B 55.07 - Buchholz 310 § 98 VwGO Nr. 95 und vom 21. September 1994 - BVerwG 1 B 131.93 - Buchholz 310 § 98 VwGO Nr. 46). Hierfür genügt es, dass der Verfahrensbeteiligte, ohne konkrete Fragen zu formulieren, die allgemeine Richtung der weiteren Aufklärung angibt (vgl. Beschluss vom 16. Juli 2007 a.a.O.). Diese Voraussetzungen sind erfüllt. Der Kläger hat im schriftlichen Verfahren mit Schriftsatz vom 25. September 2008 die Ladung des Sachverständigen beantragt und darauf hingewiesen, dass er den Sachverständigen zur „Echtheit“ der Abschrift des Kaufvertrages befragen möchte, da die Schlussfolgerung des Sachverständigen, durch die Trennung des Heftgarns sei augenscheinlich die Funktionalität der notariellen Beglaubigung aufgehoben worden, die „Echtheit“ der Kaufvertragsabschrift unberührt lasse.
5 Das Verwaltungsgericht hat die Anhörung des Sachverständigen zu Unrecht mit der - eher pauschalen - Begründung abgelehnt, dass die Ausführungen in dem Sachverständigengutachten eindeutig seien und keiner weiteren Klarstellung bedürften (UA S. 7). Damit hat das Verwaltungsgericht die wesentliche prozessuale Bedeutung des Antragsrechts des Verfahrensbeteiligten verkannt. Wenn das Tatsachengericht - wie dargelegt - in der Regel verpflichtet ist, den Sachverständigen zur Erläuterung seines schriftlichen Gutachtens zu laden, müssen besondere Gründe vorliegen, die es ausnahmsweise rechtfertigen, von einer Ladung abzusehen. Dies kann nur angenommen werden, wenn ausgeschlossen ist, dass die Befragung des Sachverständigen Sachdienliches erbringen könnte (Beschluss vom 10. Dezember 1984 - BVerwG 7 B 93.84 - Buchholz 310 § 98 VwGO Nr. 25; Kopp/Schenke, VwGO, 15. Aufl. 2007, § 98 Rn. 16 a.E.). Das Verwaltungsgericht hat sich mit der vom Kläger aufgeworfenen Frage nicht auseinandergesetzt. Im Hinblick darauf, dass der Sachverständige die ihm gestellte Frage zur Authentizität der Abschrift des Kaufvertrages mit seinem Hinweis auf die Beglaubigung nicht eindeutig beantwortet hat, kann nicht von vornherein ausgeschlossen werden, dass die Befragung des Sachverständigen Sachdienliches erbringen kann.
6 b) Der Kläger hat mit Schriftsatz vom 25. September 2008 ferner beantragt, die Mitarbeiterin des Sächsischen Hauptstaatsarchivs, Frau P., als Zeugin zu den Umständen der Lagerung und Behandlung der Kaufvertragsurkunde zu vernehmen. Die Zeugin sollte, wie sich aus dem Schriftsatz ergibt, insbesondere dazu angehört werden, ob das Siegelband in früheren Jahren vollständig gewesen und ob möglicherweise durch die Heftung der Blätter, auf die die Zeugin bei einer informatorischen Befragung hingewiesen hatte, ein Teil des Heftgarns, das der Schnürung der Blätter gedient habe, herausgetrennt worden sei. Eine solche Vernehmung musste sich dem Verwaltungsgericht aufdrängen, da der Sachverständige in seinem Gutachten eine entsprechende Vermutung geäußert hat (Gutachten S. 3) und eine Heftung ersichtlich von dem Staatsarchiv vorgenommen wurde.
7 c) Die Beschwerde zeigt auch auf, welches mutmaßliche Ergebnis eine Beweisaufnahme durch Anhörung des Sachverständigen und der im Termin vom 6. Dezember 2001 anwesenden Mitarbeiterin des Sächsischen Hauptstaatsarchivs gehabt hätte. Zum einen hätte die weitere Beweisaufnahme ergeben können, dass die vom Sachverständigen begutachtete Originalurkunde seitens des Hauptstaatsarchivs gelocht worden war und es deshalb zu einer Beschädigung des Heftgangs gekommen ist. Zum anderen ist nicht auszuschließen, dass das unterschiedliche Erscheinungsbild des Blattes 176 im Gegensatz zu den Blättern 174 und 175 in der Falzung, im Schrifttyp und der Papierqualität auf die 1941 übliche Verfahrensweise zurückzuführen ist. Zu Recht weist die Beschwerde darauf hin, dass der Kläger es nicht zu verantworten hat, wenn die Originalurkunde sieben Jahre nach der ersten Beweisaufnahme vom 6. Dezember 2001 Beschädigungen aufweist.
8 Das Urteil kann auf dieser verfahrensfehlerhaft zustande gekommenen Art und Weise beruhen. Es ist nicht ausgeschlossen, dass das Verwaltungsgericht bei einer weiteren Aufklärung des Sachverhalts zu einer anderen rechtlichen Einschätzung gekommen wäre.
9 2. Der Kläger rügt ferner einen Verstoß gegen § 101 Abs. 1 und 2 VwGO; das Verwaltungsgericht hätte nicht im schriftlichen Verfahren entscheiden dürfen, sondern hätte eine mündliche Verhandlung anberaumen müssen. Auch diese Rüge hat Erfolg.
10 Ausweislich der Sitzungsniederschrift haben sich nur die in der mündlichen Verhandlung vom 23. April 2007 anwesenden Beteiligten mit dem Übergang in das schriftliche Verfahren einverstanden erklärt. Der Kläger kann sich gleichwohl auf den in dieser Verfahrensweise des Verwaltungsgerichts liegenden Mangel nicht berufen. Denn der Anspruch auf rechtliches Gehör - der in dem Zustimmungserfordernis nach § 101 Abs. 2 VwGO zum Ausdruck kommt - steht dem jeweiligen betroffenen Verfahrensbeteiligten zu; seine Verletzung trifft nur diesen selbst, ohne die Rechtsposition des Dritten zu schmälern (Beschluss vom 18. November 2002 - BVerwG 8 B 79.02 - Buchholz 310 § 101 VwGO Nr. 29).
11 Das erklärte Einverständnis zur Entscheidung ohne - weitere - mündliche Verhandlung gemäß § 101 Abs. 2 VwGO ist auch grundsätzlich unwiderruflich. Eine Wiedereröffnung der mündlichen Verhandlung steht im Ermessen des Gerichts (Beschlüsse vom 23. Oktober 1968 - BVerwG 6 C 27.65 - DÖD 1969, 58 und vom 17. Januar 1977 - BVerwG 6 B 22.76 - Buchholz 232 § 159 BBG Nr. 6).
12 Das Urteil des Verwaltungsgerichts beruht dennoch auf einer Verletzung des § 101 Abs. 1 und 2 VwGO. Dies stellt einen Verfahrensfehler im Sinne des § 138 Nr. 3 VwGO dar (Beschluss vom 17. Oktober 1997 - BVerwG 4 B 161.97 - Buchholz 310 § 87a VwGO Nr. 3). Das Verwaltungsgericht hätte, wie unter 1. dargelegt, den Anträgen des Klägers auf Ladung des Sachverständigen zur Erläuterung seines Gutachtens in der mündlichen Verhandlung sowie auf Vernehmung der Zeugin P. stattgeben und eine mündliche Verhandlung anberaumen müssen. In dem Verstoß gegen die Aufklärungspflicht gemäß § 86 Abs. 1 VwGO liegt damit zugleich ein Verstoß gegen § 101 Abs. 1 und 2 VwGO.
13 Die angegriffene Entscheidung beruht auch auf den geltend gemachten Verfahrensfehler. Davon ist kraft Gesetzes auszugehen, ohne dass dies einer konkreten Prüfung bedarf. Es liegt nicht nur eine Verletzung des § 101 Abs. 1 und 2 VwGO vor. Gleichzeitig ist in Ermangelung einer mündlichen Verhandlung der absolute Revisionsgrund des § 138 Nr. 3 VwGO erfüllt. Ein Urteil, das ohne gebotene mündliche Verhandlung ergeht, verletzt im Regelfall das Recht auf Gewährung rechtlichen Gehörs. Eine derartige Verfahrensweise schneidet den betroffenen Beteiligten die Möglichkeit weiteren Vorbringens ab (Urteil vom 26. September 1958 - BVerwG 4 C 412.57 - BVerwGE 7, 230 = Buchholz 310 § 138 Ziff. 3 Nr. 1 VwGO; Beschluss vom 17. Oktober 1997 - BVerwG 4 B 161.97 - a.a.O.). Bei Vorliegen eines absoluten Revisionsgrundes ist das angegriffene Urteil ohne weitere Prüfung als auf der Verletzung von Bundesrecht beruhend anzusehen. Allerdings ist § 138 Nr. 3 VwGO dann einschränkend anzuwenden, wenn sich die festgestellte Verletzung des rechtlichen Gehörs auf das Gesamtergebnis des Verfahrens nicht ausgewirkt haben kann. Das lässt sich hier nicht sagen. Die Verletzung des § 101 Abs. 1 und 2 VwGO erfasst das angegriffene Urteil in seiner Gesamtheit, nicht aber einzelne tatrichterliche Ausführungen oder Feststellungen.
14 Es bedarf keiner Klärung, ob der Beweisbeschluss vom 9. Mai 2007 und die zunächst erfolgte Ladung zur mündlichen Verhandlung die Erklärung, mit der die in der mündlichen Verhandlung vom 23. April 2007 anwesenden Beteiligten auf eine weitere mündliche Verhandlung verzichtet hatten, verbraucht haben und sich daraus ein weiterer Verstoß gegen § 101 Abs. 1 und 2 VwGO ergibt. Im Anschluss an die mündliche Verhandlung vom 23. April 2007 hat das Verwaltungsgericht am 9. Mai 2007 einen Beweisbeschluss mit dem Wortlaut „Es ist Beweis zu erheben über die Authentizität des Kaufvertrages vom 16.12.1936 (Abschrift) durch Einholung eines Sachverständigengutachtens“ erlassen. Der Beweisbeschluss vom 9. Mai 2007 ist inhaltsgleich mit dem in der mündlichen Verhandlung vom 23. April 2007 gefassten Beweisbeschluss. Nach dem in den Akten befindlichen handschriftlich ausgefüllten Protokoll der mündlichen Verhandlung vom 23. April 2007 lautet der Beweisbeschluss „Es ist Beweis zu erheben über die Authentizität des Kaufvertrages vom 16.12.1936 durch Einholung eines Gutachtens ...“, während die Ausfertigung lautet: „Es ist Beweis zu erheben über die Authentizität der Beglaubigung des Kaufvertrages vom 16.12.1936 ...“. Die Ausfertigung, die - wohl als Schreibversehen - das Datum des 23. April 2008 trägt, ist damit inhaltlich unzutreffend. Maßgeblich ist aber der Wortlaut des ursprünglich gefassten Beschlusses und nicht der fehlerhafte Text der Ausfertigung. Es erscheint aber fraglich, ob der Erlass eines inhaltlich gleich lautenden Beweisbeschlusses, wenn auch unter einem anderen Datum, die Wirkung des Verbrauchs der abgegebenen Erklärungen über den Verzicht auf mündliche Verhandlung hat. Nichts anderes gilt für die Anberaumung eines Termins zur mündlichen Verhandlung am 3. September 2008, später zunächst verlegt auf den 19. September 2008, die ersichtlich in Unkenntnis der abgegebenen Verzichtserklärungen vorgenommen wurde. Dieser Termin wurde nach dem Hinweis des Bevollmächtigten des Beteiligten zu 4, dass im Termin vom 23. April 2007 von den Beteiligten der Übergang in das schriftliche Verfahren erklärt worden sei, aufgehoben und den Beteiligten mitgeteilt, dass die Entscheidung im schriftlichen Verfahren erfolge. Ferner wurde bei sämtlichen Beteiligten angefragt, ob sie auf weitere mündliche Verhandlung verzichten. Ob diese widersprüchliche Vorgehensweise des Verwaltungsgerichts dazu geführt hat, dass der ursprüngliche Verzicht auf (weitere) mündliche Verhandlung mit der erneuten Terminierung zur mündlichen Verhandlung verbraucht war, kann aus den genannten Gründen offen bleiben.
15 3. Soweit die Beschwerde rügt, dass das Verwaltungsgericht gegen den Überzeugungsgrundsatz gemäß § 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO verstoßen habe, weil es Indizienbeweise, insbesondere das Schreiben der Direktorin T. und H. vom 10. Juni 1936 und die eidesstattliche Versicherung der Frau M. vom 9. Juli 1996 nicht berücksichtigt habe, hat das Verwaltungsgericht dazu festgestellt, dass andere Urkunden im Wiederaufnahmeverfahren unbeachtlich seien, weil es sich nicht um nachträglich aufgefundene Urkunden handele. An diese Feststellungen ist der Senat mangels durchgreifender Verfahrensrügen gebunden (§ 137 Abs. 2 VwGO).
16 Der Einwand der Beschwerde, das Verwaltungsgericht habe zu hohe Anforderungen an die Nachweise an die Rückgabeberechtigten gestellt und damit gegen § 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO verstoßen, greift nicht. Hinsichtlich des Beweiswertes von Urkunden gelten feste Beweisregeln (§§ 98 VwGO, § 415 bis 419 ZPO). Voraussetzung für ihre Beweiskraft ist die Echtheit der Urkunde. Gemäß § 419 ZPO entscheidet das Gericht nach freier Überzeugung, inwiefern Durchstreichungen, Radierungen, Einschaltungen oder sonstige äußere Mängel die Beweiskraft einer Urkunde ganz oder teilweise aufheben oder mindern. Der Geltungsbereich erstreckt sich auf öffentliche und private Urkunden. Wirkung der Mängel ist, dass die Beweisregeln nicht gelten, sondern vielmehr der Grundsatz der freien Beweiswürdigung (§ 286 ZPO). Nach den Feststellungen des Verwaltungsgerichts weist die vorgelegte Urkunde im äußeren Erscheinungsbild Mängel auf, die auf eine nachträgliche Änderung schließen lassen.
17 Der Senat nimmt daher die dem Verwaltungsgericht unterlaufenen Verfahrensfehler zum Anlass, das angefochtene Urteil gemäß § 133 Abs. 6 VwGO aufzuheben und den Rechtsstreit zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das Verwaltungsgericht zurückzuverweisen.
18 Die Streitwertfestsetzung beruht auf §§ 47, 52 GKG.