Beschluss vom 26.03.2025 -
BVerwG 1 WB 2.25ECLI:DE:BVerwG:2025:260325B1WB2.25.0
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Zitiervorschlag
BVerwG, Beschluss vom 26.03.2025 - 1 WB 2.25 - [ECLI:DE:BVerwG:2025:260325B1WB2.25.0]
Beschluss
BVerwG 1 WB 2.25
In dem Wehrbeschwerdeverfahren hat der 1. Wehrdienstsenat des Bundesverwaltungsgerichts durch
den Vorsitzenden Richter am Bundesverwaltungsgericht Dr. Häußler,
den Richter am Bundesverwaltungsgericht Dr. Langer,
die Richterin am Bundesverwaltungsgericht Dr. Eppelt,
die ehrenamtliche Richterin Oberfeldapotheker Dr. Niessen und
die ehrenamtliche Richterin Hauptmann Wagner
am 26. März 2025 beschlossen:
- Es wird festgestellt, dass die Beteiligungsrechte des Antragstellers durch die vorläufige Inkraftsetzung der AR A1-840/8-4000 (Impf- und ausgewählte Prophylaxemaßnahmen - Fachlicher Teil) in der Fassung vom 24. März 2021 verletzt wurden.
- Die dem Antragsteller im Verfahren vor dem Bundesverwaltungsgericht und im vorgerichtlichen Verfahren erwachsenen notwendigen Aufwendungen werden dem Bund auferlegt.
Gründe
I
1 Der Rechtsstreit betrifft die Beteiligungsrechte des Antragstellers bei der vorläufigen Inkraftsetzung der AR A1-840/8-4000 (Impf- und ausgewählte Prophylaxemaßnahmen - Fachlicher Teil) in der Fassung vom 24. März 2021 durch das Kommando Sanitätsdienst der Bundeswehr.
2 Im Februar 2021 leitete das Kommando Sanitätsdienst der Bundeswehr das Beteiligungsverfahren zu einer überarbeiteten Fassung der Zentralvorschrift A1-840/8-4000 (Impf- und ausgewählte Prophylaxemaßnahmen - Fachlicher Teil) in der Version 1 vom 5. November 2014 ein. In der unter dem 9. Februar 2021 übersandten Neufassung war vorgesehen, die COVID-19-Schutzimpfung als duldungspflichtige Impfung in das Basisimpfschema aufzunehmen. Unter dem 18. Februar 2021 teilte der Antragsteller dem Kommando Sanitätsdienst mit, dass er der in seiner 200. Sitzung (8. bis 11. Februar 2021) beratenen Regelung nicht zugestimmt habe. Mit Schreiben vom 17. März 2021 informierte der Antragsteller, dass er die Neufassung in seiner 201. Sitzung (10. bis 12. März 2021) beraten und ihr nicht zugestimmt habe und erläuterte seine Einwände. Er schlug vor, die Impfungen gegen Influenza und COVID-19 ersatzlos zu streichen. Anstelle einer Duldungspflicht solle auf Impfangebote und Aufklärung gesetzt werden.
3 Am 5. März 2021 hatte die Bundesministerin der Verteidigung allerdings einen Vorschlag des Bundesministeriums der Verteidigung gebilligt, nach dem die COVID-19-Schutzimpfung in alle Einsatzimpfschemata aufgenommen werden sollte. Daraufhin überarbeitete der Inspekteur des Sanitätsdienstes die Neufassung und übersandte am 24. März 2021 dem Antragsteller diese überarbeitete Version. Ab diesem Tag setzte er sie zudem vorläufig in Kraft.
4 Unter dem 25. März 2021 wurde der Antragsteller über die vorläufige Inkraftsetzung der Regelung informiert. Mit E-Mail vom selben Tage bat der Sprecher des Antragstellers um Angabe der Gründe für die Eilbedürftigkeit und um Auskunft, warum die Gründe ihm nicht vor der Durchführung mitgeteilt worden seien.
5 Unter dem 1. April 2021 räumte der Inspekteur des Sanitätsdienstes der Bundeswehr dem Antragsteller gegenüber ein, dass die Erläuterung der Gründe für die vorläufige Inkraftsetzung der AR A1-840/8-4000 versäumt worden sei. Er führte aus, die Aufnahme der COVID-19-Impfung in die Einsatzimpfschemata sei unaufschiebbar. Der Gesundheitsschutz von Soldatinnen und Soldaten in den Einsatzkontingenten und deren Einsatzbereitschaft unter den aktuell hohen Coronainfektionsraten fordere die Umsetzung der Regelung. Zwar müssten bei einer vorläufigen Inkraftsetzung die Maßnahmen grundsätzlich hinter den endgültigen Maßnahmen zurückbleiben. Ausnahmen seien aber möglich, wenn die beabsichtigte Maßnahme der Natur der Sache nach keine Einschränkung zulasse und die Verzögerung infolge der Mitbestimmung nicht bloß den geordneten Dienstbetrieb beeinträchtige, sondern zu einer Schädigung oder konkreten Gefährdung von Gemeinschaftsgütern führe. Dies sei hier im Hinblick auf Leib, Leben und Gesundheit des Personals der Einsatzkontingente und verbündeter Streitkräfte der Fall.
6 Mit Schreiben vom 16. April 2021 teilte der Antragsteller dem Kommando Sanitätsdienst der Bundeswehr mit, dass er über die vorläufige Regelung in seiner 202. Sitzung (12. bis 16. April 2021) beraten habe und diese ablehne. Seine Stellungnahme vom 17. März 2021 habe weiterhin Bestand und sei durch das Schreiben vom 1. April 2021 nicht umfassend beantwortet. Zwar sei der Ablehnung einer Aufnahme der COVID-19-Impfung in das Basisimpfschema gefolgt worden. Vorgeschlagen werde erneut, die Influenza-Impfung aus dem Basisimpfschema ersatzlos zu streichen. Für die Einsatzgebiete solle darüber eine (tropen-)medizinische Risikoanalyse aufgeführt werden. Eine Duldungspflicht könne dann aufgenommen werden, wenn belegbar sei, dass dadurch das Infektionsrisiko signifikant gesenkt werde. Wegen der Verletzung der Beteiligungsrechte bei der vorläufigen Regelung sei eine Wehrbeschwerde beschlossen worden.
7 Mit weiterem Schreiben gleichen Datums an die Bundesministerin der Verteidigung legte der Sprecher des Antragstellers unter Bezugnahme auf diesen Beschluss Beschwerde ein, die unter dem 4. Juni 2021 begründet wurde. Die Ministerin habe ohne Information über die Einwände des Beteiligungsgremiums über die Regelung entschieden. Daher sei auch deren vorläufige Inkraftsetzung rechtswidrig. Die formellen Voraussetzungen einer vorläufigen Regelung seien nicht eingehalten worden, da diese dem Antragsteller weder unverzüglich bekanntgegeben und ihm zeitnah begründet worden sei. Auch die materiellen Voraussetzungen seien nicht erfüllt. Eine Beschränkung auf Soldatinnen und Soldaten in aktuellen Einsätzen und eine zeitliche Befristung wären möglich gewesen. Gesundheitsschutz sei auch durch das Prinzip der Freiwilligkeit zu erreichen gewesen. Notwendig sei auch eine Beschränkung der Duldungspflicht auf die zugelassenen und empfohlenen Impfstoffe. Vor diesem Hintergrund würden die Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts und die Aufhebung der vorläufigen Maßnahme beantragt.
8 Im Sommer 2021 überarbeitete das Kommando Sanitätsdienst die Neufassung der Regelung ein weiteres Mal. Hiernach sollte die Impfung gegen COVID-19 in das Basisimpfschema aufgenommen werden. Zu dieser Version konnte im Schlichtungsausschuss am 22. November 2021 eine Einigung erzielt werden. Daraufhin trat mit Wirkung vom 24. November 2021 im Geschäftsbereich des Bundesministeriums der Verteidigung nach Beteiligung des Gesamtvertrauenspersonenausschusses, des Hauptpersonalrates und der Hauptschwerbehindertenvertretung die Version 2.1 der AR A1-840/8-4000 "Impf- und ausgewählte Prophylaxemaßnahmen - Fachlicher Teil" in Kraft. Dadurch wurde die Impfung gegen den COVID-19-Erreger in die Liste der Basisimpfungen in Nr. 2001 AR A1-840/8-4000 aufgenommen.
9 Nachdem das Bundesministerium der Verteidigung unter dem 7. Oktober 2021 den Antragsteller darauf hingewiesen hatte, dass es den Antrag auf gerichtliche Entscheidung für unstatthaft halte, änderte dieser unter dem 25. Oktober 2021 seinen Antrag. Der Sachantrag auf Aufhebung der vorläufigen Regelung werde aufrechterhalten, nicht aber der Antrag auf Anrufung des Bundesverwaltungsgerichts.
10 Mit Schreiben vom 10. Mai 2022 wies das Bundesministerium der Verteidigung den Antragsteller darauf hin, dass es das Verfahren für beendet halte. Der Antrag auf gerichtliche Entscheidung sei zurückgenommen worden. Aufrechterhalten worden sei der Sachantrag auf Aufhebung der vorläufigen Regelung. Nach der einvernehmlichen Beendigung des Schlichtungsverfahrens sei die bis dahin nur vorläufige Regelung in Kraft gesetzt. Der Antrag auf Aufhebung der vorläufigen Regelung sei damit überholt. Dem widersprach der Antragsteller unter dem 13. Juni 2022 und verlangte eine Beschwerdeentscheidung. Beschwerdegegenstand sei die vorläufige Inkraftsetzung der AR A1-840/8-4000. Der Antrag auf Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts sei nur auf den Hinweis auf seine Unstatthaftigkeit zurückgenommen worden. Der Aufhebungsantrag sei aber nicht zurückgenommen worden. Für einen Feststellungsantrag bestehe ein Interesse.
11 Nachdem eine Einigung über den generellen Umgang mit vorläufigen Regelungen nicht erreicht werden konnte und der Antragsteller mit Schriftsatz vom 5. Juni 2024 Untätigkeitsantrag stellte, legte das Bundesministerium der Verteidigung den Antrag mit einer Stellungnahme vom 15. Januar 2025 vor.
12 Der Antragsteller macht geltend, durch die vorläufige Inkraftsetzung der AR A1-840/8-4000 in der Fassung vom 24. März 2021 seien seine Beteiligungsrechte verletzt worden. Er habe seinen Rechtsbehelf nicht zurückgenommen. Vielmehr habe er auf den Hinweis des Bundesministeriums der Verteidigung die Erklärung abgegeben, dass das Beschwerdeverfahren als solches aufrechterhalten bleibe und nicht auf eine Vorlage an das Bundesverwaltungsgericht bestanden werde. Da das Bundesministerium der Verteidigung die Beschwerde nicht selbst entscheide und vorlege, habe es seine Auffassung aufgegeben, gegen Entscheidungen des Kommandos Sanitätsdienst komme eine Anrufung des Bundesverwaltungsgerichts nicht in Betracht. Die Zulässigkeit der Vorlage sei damit unstreitig. Diese sei nach den Ausführungen des Bundesministeriums der Verteidigung auch begründet. Außerdem habe die Anordnung der Duldung der Impfungen unumkehrbare Tatsachen geschaffen. Dies sei durch vorläufige Regelungen nur zur Abwendung von Schäden an überragenden Gemeinschaftsgütern oder -interessen zulässig. Hierzu sei weder etwas vorgetragen noch ersichtlich.
13 Das Bundesministerium der Verteidigung bezweifelt die Zulässigkeit des Antrages. Dieser sei mit Schreiben vom 28. Oktober 2021 zurückgenommen worden. Der aufrechterhaltene Sachantrag sei überholt. Soweit der Antrag zulässig sei, sei er aber begründet. Die vorläufige Inkraftsetzung der AR A1-840/8-4000 Version 2 des Kommandos Sanitätsdienst der Bundeswehr vom 24. März 2021 sei zwar als vorläufige Regelung bezeichnet worden. Mit Schreiben vom 1. April 2021 sei die Eilbedürftigkeit auch zutreffend begründet worden. Es wäre aber erforderlich gewesen, von den Regelungen, die tatsächlich keinen Aufschub duldeten, von den im Zuge der vollständigen Aktualisierung der Allgemeinen Regelung getroffenen Regelungen zu trennen und nur die tatsächlich eilbedürftigen Regelungen in Kraft zu setzen. Dem genüge die vorläufige Regelung nicht.
14 Wegen der Einzelheiten des Sachverhalts wird auf den Inhalt der Akten Bezug genommen. Die Beschwerdeakte des Bundesministeriums der Verteidigung hat dem Senat bei der Beratung vorgelegen.
II
15 Der Antrag auf gerichtliche Entscheidung hat Erfolg.
16 1. Der Antragsteller hat lediglich den prozessualen Antrag auf Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts gestellt, ohne einen konkreten Sachantrag zu formulieren. Sein Rechtsschutzbegehren ist daher im Lichte seines Sachvortrages auszulegen (§ 23a Abs. 2 Satz 1 WBO i. V. m. § 86 Abs. 3, § 88 VwGO). Hiernach begehrt der Antragsteller, die Verletzung seiner Beteiligungsrechte bei der vorläufigen Inkraftsetzung der AR A1-840/8-4000 festzustellen.
17 2. Der Antrag ist zulässig.
18 Der Rechtsweg zu den Wehrdienstgerichten ist für die Rüge der Verletzung des Beteiligungsrechts des Antragstellers aus § 38 Abs. 3 i. V. m. § 25 Abs. 3 SBG eröffnet (BVerwG, Beschluss vom 30. April 2020 - 1 WB 23.19 - PersV 2020, 423 Rn. 14 f. m. w. N.).
19 Der Antragsteller kann geltend machen, dass die vorläufige Inkraftsetzung der streitgegenständlichen Regelung sein Beteiligungsrecht aus § 38 Abs. 3 Satz 3 i. V. m. § 25 Abs. 3 Nr. 10 SBG verletzt habe, weil in Betracht kommt, dass die Regelung vor dem Abschluss des Beteiligungsverfahrens in Kraft gesetzt wurde, ohne dass die Voraussetzungen des § 43 Abs. 2 SBG erfüllt waren und ist damit antragsbefugt.
20 Der Feststellungsantrag ist statthaft (vgl. BVerwG, Beschlüsse vom 30. August 2019 - 1 WB 27.18 - PersV 2020, 153 Rn. 22 und vom 30. April 2020 - 1 WB 23.19 - PersV 2020, 423 Rn. 18). Zwar ist mit dem Inkrafttreten der im Schlichtungsverfahren mit dem Antragsteller abgestimmten Fassung der streitgegenständlichen Allgemeinen Regelung die vorläufige Regelung außer Kraft getreten und damit auch insofern Erledigung eingetreten. Der Antrag auf gerichtliche Entscheidung ist deshalb sachgerecht als Fortsetzungsfeststellungsantrag (§ 21 Abs. 2 Satz 1 i. V. m. § 19 Abs. 1 Satz 3 WBO) mit dem oben angeführten Inhalt auszulegen (§ 23a Abs. 2 Satz 1 WBO i. V. m. § 86 Abs. 3 VwGO) und als solcher zulässig.
21 Das dafür notwendige Feststellungsinteresse ergibt sich daraus, dass Zweck des Beschwerdeverfahrens nach § 17 SBG gerade auch die Klärung von vertretungsrechtlichen Zuständigkeiten, Befugnissen und Pflichten ist, insbesondere wenn diese sich - wie hier - aus konkreten Beteiligungsverfahren ergeben (BVerwG, Beschluss vom 30. August 2019 - 1 WB 27.18 - NVwZ-RR 2020, 169 Rn. 22 m. w. N.). Das hier gegebene konkrete Anlassverfahren ist - über den Einzelfall hinaus - geeignet, die rechtlichen Anforderungen an vorläufige Regelungen im Sinne von § 43 Abs. 2 SBG weiter zu klären (vgl. BVerwG, Beschluss vom 30. August 2019 - 1 WB 27.18 - NVwZ-RR 2020, 169 Rn. 23).
22 Nachdem der Antragsteller am 24. März 2021 durch den Inspekteur des Sanitätsdienstes über die vorläufige Inkraftsetzung der Allgemeinen Regelung informiert worden war, hatte er auf der Grundlage eines entsprechenden Gremienbeschlusses unter dem 16. April 2021 fristwahrend Beschwerde erhoben.
23 Der Zulässigkeit des Antrages steht nicht entgegen, dass er bereits endgültig mit Schriftsatz der Bevollmächtigten des Antragstellers vom 25. Oktober 2021 zurückgenommen worden wäre. Denn in diesem Schreiben ist aus der maßgeblichen Empfängerperspektive, die den Kontext des Schreibens berücksichtigen muss, eine Rücknahme des Rechtsbehelfs gerade nicht erklärt worden. Vielmehr ist die Beschwerde mit dem Sachantrag, die vorläufige Regelung aufzuheben, ausdrücklich aufrechterhalten worden. Verzichtet wurde allein darauf, den Rechtsbehelf unmittelbar dem Bundesverwaltungsgericht vorzulegen. Dies geschah vor dem Hintergrund, dass das Bundesministerium der Verteidigung auf die Unstatthaftigkeit eines Antrages auf gerichtliche Entscheidung hingewiesen hatte. Mithin ist dem Schriftsatz nicht mehr zu entnehmen als das Einverständnis, vor der Vorlage an den Senat ein Beschwerdeverfahren zu durchlaufen. Dies ist mit dem Schriftsatz vom 13. Juni 2022, mit dem auf einen rechtsmittelfähigen Bescheid gedrungen wurde, klargestellt worden. Ist diese Auffassung zutreffend gewesen, so war der als Beschwerde gegen eine Maßnahme des Kommandos Sanitätsdienst der Bundeswehr eingelegte Rechtsbehelf als Beschwerde zulässig und zu bescheiden. Unter dem 20. Dezember 2023 hat der Antragsteller konsequent zu dem rechtlichen Hinweis des Bundesministeriums der Verteidigung vom 7. Oktober 2021 und seiner Bereitschaft, erst ein Beschwerdeverfahren durchzuführen, einen Untätigkeitsantrag gestellt. Da es zu einer Beschwerdeentscheidung zu keinem Zeitpunkt gekommen ist, liegen die Voraussetzungen für einen Untätigkeitsantrag auf gerichtliche Entscheidung vor.
24 3. Der Antrag ist auch begründet. Das Kommando Sanitätsdienst war nicht berechtigt, die streitgegenständliche Regelung in vollem Umfang vor der Durchführung des Mitbestimmungsverfahrens vorläufig in Kraft zu setzen.
25 a) Zwar darf das Kommando Sanitätsdienst auch bei mitbestimmungspflichtigen Grundsatzregelungen nach § 43 Abs. 2 SBG vorläufige Regelungen bis zur endgültigen Entscheidung im Mitbestimmungsverfahren erlassen. Die Voraussetzungen des § 38 Abs. 3 Satz 1, 3 und 4 SBG liegen auch vor.
26 aa) Unter Grundsatzregelungen im Sinne des § 38 Abs. 3 SBG sind Regelungen mit allgemeingültigem Charakter zu verstehen, die das Bundesministerium der Verteidigung in Wahrnehmung seiner Aufgaben als Dienstherr oder Arbeitgeber gegenüber allen oder einer unbestimmten Anzahl von Beschäftigten erlässt und die für eine Vielzahl von Fällen gelten. Sie müssen Gestaltungswirkung haben, mithin auf eine Veränderung eines Rechtszustandes hinwirken. Die Gestaltungswirkung bzw. der Regelungscharakter fehlen, wenn die Anordnung lediglich Verwaltungsregeln erläutert, Hinweise auf die Rechtslage gibt, nur allgemeine Weisungen zur Erledigung der Dienstgeschäfte enthält oder bloße Rechtsansichten äußert bzw. bestehende dienstliche Verpflichtungen konkretisiert (BVerwG, Beschlüsse vom 30. April 2020 - 1 WB 55.19 - BVerwGE 168, 97 Rn. 28 und vom 20. März 2024 - 1 WB 4.23 - PersV 2024, 325 Rn. 24 f.). Gleiches gilt für bloß norminterpretierende Verwaltungsvorschriften (BVerwG, Beschluss vom 24. Februar 2022 - 1 WB 33.21 - PersV 2022, 376 Rn. 44 m. w. N.).
27 Hiernach steht eine Grundsatzregelung im personellen Bereich in Rede, da die fraglichen Bestimmungen nicht auf eine Wiederholung der gesetzlichen Verpflichtungen aus § 17a SG, insbesondere § 17a Abs. 2 SG, beschränkt sind, sondern vor allem die Duldungspflichten in Bezug auf Impfungen für konkrete Erkrankungen und betroffene Personengruppen anordnen sowie das zur Umsetzung erforderliche Verfahren ausgestalten.
28 bb) Die streitgegenständlichen Erlasse betreffen inhaltlich einen Sachbereich, für den das Soldatenbeteiligungsgesetz dem Gesamtvertrauenspersonenausschuss nach § 38 Abs. 3 Satz 3 SBG ein Mitbestimmungsrecht zubilligt. Dies ist bei Grundsatzregelungen im personellen, sozialen oder organisatorischem Bereich vorgesehen, sofern das Gesetz in diesen Bereichen der Vertrauensperson ein Mitbestimmungsrecht einräumt.
29 Vorliegend handelt es sich um eine Regelung des Gesundheitsschutzes im Sinne von § 25 Abs. 3 Satz 1 Nr. 10 SBG, da die in Rede stehenden Impf- und Prophylaxemaßnahmen der Vorbeugung vor und der Vermeidung von gesundheitlichen Gefährdungen und der Verringerung von Folgeschäden der in Rede stehenden Erkrankungen dienen. Das Mitbestimmungsrecht des Gesamtvertrauenspersonenausschusses war nach § 38 Abs. 3 Satz 4 SBG eröffnet, obwohl keine Maßnahme des Bundesministeriums der Verteidigung, sondern des ihm nachgeordneten Kommandos Sanitätsdienst in Rede steht. Denn Regelungsgegenstand ist die einsatzbezogene Impfduldungspflicht für alle Soldatinnen und Soldaten der Bundeswehr.
30 b) Die in § 43 Abs. 2 SBG vorgeschriebenen Voraussetzungen für eine vorläufige Inkraftsetzung von Maßnahmen lagen jedoch nicht für den gesamten Erlass vor.
31 Zwar hatte das Kommando Sanitätsdienst die in Rede stehende Allgemeine Regelung ausdrücklich als "vorläufig" gekennzeichnet und damit § 43 Abs. 2 Satz 4 SBG genügt. Mit dem Schreiben vom 1. April 2021 hatte es auch entsprechend § 43 Abs. 2 Satz 2 SBG eine Begründung für die bereits unter dem 25. März 2021 mitgeteilte Maßnahme erteilt.
32 Jedoch fehlt es an den materiellen Voraussetzungen des § 43 Abs. 2 Satz 1 SBG.
33 Hiernach können Dienststellen bei Maßnahmen, die der Natur der Sache nach keinen Aufschub dulden, bis zur endgültigen Entscheidung vorläufige Regelungen treffen. Damit sind in Mitbestimmungsverfahren die durch § 43 Abs. 1 SBG vorgegebenen Verfahrensabläufe für besonders eilbedürftige Fälle modifiziert. Eine der Natur der Sache nach unaufschiebbare Maßnahme liegt vor, wenn sie trotz des noch laufenden Mitbestimmungsverfahrens und der fehlenden Zustimmung des zu beteiligenden Gremiums eine - allerdings nur vorläufige - Regelung erfordert, um die Erfüllung von Pflichten und Aufgaben der Dienststelle im öffentlichen Interesse sicherzustellen (BVerwG, Beschluss vom 16. Dezember 1992 - 6 P 6.91 - PersV 1993, 355 <356> m. w. N.). Vorläufige Maßnahmen sind nur aus Gründen zulässig, die eine Unaufschiebbarkeit der Maßnahme im öffentlichen Interesse rechtfertigen können. Dies ist insbesondere der Fall, wenn die vorherige Durchführung des Mitbestimmungsverfahrens die Erfüllung der Pflichten und Aufgaben der Streitkräfte zumindest konkret gefährdet hätte (vgl. BVerwG, Beschluss vom 24. Februar 2022 - 1 WB 33.21 - PersV 2022, 376 Rn. 62).
34 Vorläufige Regelungen sind grundsätzlich auf das zeitlich und sachlich unbedingt Notwendige zu beschränken. Auch unter den Bedingungen einer mitbestimmungsfreien vorläufigen Regelung ist bei größtmöglicher Beschleunigung ein Höchstmaß an Mitbestimmung zu ermöglichen. Beides zugleich lässt sich nur über die zeitliche Befristung vorläufiger Regelungen gewährleisten. Eine Ausnahme ist nur gerechtfertigt, wenn die beabsichtigte Maßnahme der Natur der Sache nach zeitliche Einschränkungen nicht zulässt (vgl. BVerwG, Beschluss vom 29. Februar 2012 - 6 P 2.11 - NVwZ-RR 2012, 399 Rn. 46 m. w. N.).
35 Hiernach war eine Eilbedürftigkeit nach den im Schreiben vom 1. April 2021 angeführten Gründen zwar hinsichtlich der COVID-19-Impfungen für Soldatinnen und Soldaten, die kurzfristig in Einsatzgebiete verlegt werden sollten, feststellbar. Hierauf ist die vorläufige Maßnahme aber nicht beschränkt worden. Vielmehr hat das Kommando Sanitätsdienst - wie das Bundesministerium der Verteidigung einräumt - die vollständige aktualisierte Fassung der Allgemeinen Regelung und damit Regelungen über sämtliche Impfungen und für alle erfassten Gruppen und Soldatinnen und Soldaten erlassen. Hiermit geht die vorläufige Maßnahme deutlich über dasjenige hinaus, was das Kommando Sanitätsdienst im Schreiben vom 1. April 2021 als eilbedürftig kennzeichnet. Die weitergehende Regelung ist weder in zeitlicher noch in sachlicher Hinsicht auf das Erforderliche begrenzt.
36 4. Die Kostenentscheidung beruht auf § 21 Abs. 2 Satz 1 i. V. m. § 20 Abs. 1 Satz 1 WBO.