Beschluss vom 22.01.2025 -
BVerwG 4 BN 30.24ECLI:DE:BVerwG:2025:220125B4BN30.24.0
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Zitiervorschlag
BVerwG, Beschluss vom 22.01.2025 - 4 BN 30.24 - [ECLI:DE:BVerwG:2025:220125B4BN30.24.0]
Beschluss
BVerwG 4 BN 30.24
- OVG Lüneburg - 07.08.2024 - AZ: 1 KN 33/24
In der Normenkontrollsache hat der 4. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
am 22. Januar 2025
durch die Vorsitzende Richterin am Bundesverwaltungsgericht Schipper,
den Richter am Bundesverwaltungsgericht Dr. Seidel und
die Richterin am Bundesverwaltungsgericht Dr. Stamm
beschlossen:
- Die Beschwerde des Antragstellers gegen die Nichtzulassung der Revision in dem Urteil des Niedersächsischen Oberverwaltungsgerichts vom 7. August 2024 wird zurückgewiesen.
- Der Antragsteller trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.
- Der Wert des Streitgegenstandes wird für das Beschwerdeverfahren auf 40 000 € festgesetzt.
Gründe
1 Die auf § 132 Abs. 2 Nr. 1 und Nr. 3 VwGO gestützte Beschwerde hat keinen Erfolg. Sie ist jedenfalls unbegründet.
2 1. Die Revision ist nicht wegen eines Verfahrensfehlers zuzulassen (§ 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO).
3 a) Die Rüge, das Oberverwaltungsgericht habe gegen den Überzeugungsgrundsatz (§ 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO) verstoßen, bleibt ohne Erfolg.
4 (Angebliche) Fehler der Sachverhalts- und Beweiswürdigung des Tatsachengerichts, die dem Überzeugungsgrundsatz gemäß § 108 Abs. 1 VwGO genügen muss, sind regelmäßig nicht dem Verfahrensrecht, sondern dem sachlichen Recht zuzuordnen. Die Grenzen der Freiheit der richterlichen Überzeugungsbildung sind mit der Folge des Vorliegens eines Verfahrensfehlers erst dann überschritten, wenn das Gericht seiner Sachverhalts- und Beweiswürdigung nicht das Gesamtergebnis des Verfahrens zugrunde legt, sondern nach seiner Rechtsauffassung entscheidungserheblichen Akteninhalt übergeht oder aktenwidrige Tatsachen annimmt, oder wenn die von ihm gezogenen Schlussfolgerungen gegen die Denkgesetze verstoßen oder sonst von objektiver Willkür geprägt sind (stRspr, vgl. BVerwG, Beschluss vom 18. September 2024 - 4 BN 6.24 - juris Rn. 3 m. w. N.).
5 Einen derartigen Fehler legt die Beschwerde nicht dar. Sie macht geltend, das Oberverwaltungsgericht habe entscheidungserheblichen Vortrag aus dem Schriftsatz des Antragstellers vom 10. Juli 2024 zum Bebauungsplan Nr. ... "..." übergangen, der neben verschiedenen Sondergebieten u. a. für Ferienwohnen und Tourismus/Gewerbe auch ein reines Wohngebiet festsetze. Es seien daher "abgestuft gefährdete Zonen" vorhanden, die nicht sämtlich in die Satzung hätten einbezogen werden dürfen. Damit dringt sie nicht durch. Der Bebauungsplan Nr. ... ist erst im August 2024 beschlossen und bekanntgemacht worden, der Schriftsatz vom 10. Juli 2024 bezieht sich auf eine Entwurfsfassung von Dezember 2023. Die Fremdenverkehrssatzung ist dagegen bereits im April 2023 beschlossen und bekanntgemacht worden. Auf den Bebauungsplan kam es daher für das Oberverwaltungsgericht aus Rechtsgründen entscheidungserheblich nicht an. Der Hinweis der Beschwerde auf das Urteil des Senats vom 1. Dezember 1972 - 4 C 6.71 - (BVerwGE 41, 227 <230>) geht ins Leere. Die Entscheidung betrifft einen anderen Sachverhalt. Im Übrigen erschöpft sich das Beschwerdevorbringen in inhaltlicher Kritik an der angegriffenen Entscheidung. Das reicht zur Darlegung eines Verfahrensfehlers nicht aus (stRspr, vgl. BVerwG, Beschluss vom 21. Oktober 2020 - 4 BN 16.20 - juris Rn. 6).
6 b) Die Gehörsrüge greift ebenfalls nicht durch.
7 Die Verfahrensgarantie des rechtlichen Gehörs gemäß Art. 103 Abs. 1 GG, § 108 Abs. 2 VwGO verpflichtet die Gerichte, die Ausführungen der Prozessbeteiligten zur Kenntnis zu nehmen und in Erwägung zu ziehen, nicht jedoch, deren (Rechts-)Auffassung zu folgen (vgl. BVerfG, Kammerbeschluss vom 10. November 2004 - 1 BvR 179/03 - NVwZ 2005, 204 <205>). Die Gerichte sind allerdings nicht verpflichtet, sich mit jedem Vorbringen ausdrücklich zu befassen. Vielmehr sind in der Entscheidung nur diejenigen Gründe anzugeben, die für die richterliche Überzeugung leitend gewesen sind (§ 108 Abs. 1 Satz 2 VwGO) und auf die es nach ihrem Rechtsstandpunkt entscheidungserheblich ankommt. Geht ein Gericht auf einzelne Teile des Vorbringens nicht ein, dokumentiert es damit in der Regel zugleich, dass es sie für rechtlich irrelevant hält (vgl. BVerwG, Beschluss vom 4. Juli 2024 - 4 B 5.24 - juris Rn. 24).
8 Gemessen daran ist für einen Gehörsverstoß nichts ersichtlich. Das Oberverwaltungsgericht hat das Vorbringen des Antragstellers, die Fremdenverkehrssatzung umfasse zu Unrecht auch Zonen, die nicht durch Fremdenbeherbergung geprägt seien, zur Kenntnis genommen (UA S. 4) und sich damit auseinandergesetzt (UA S. 5 ff.). Es hat erkannt, dass in dem von der Satzung erfassten Teil der Ortslage diverse, nicht durch Fremdenbeherbergung geprägte Einzelgrundstücke vorhanden sind, die von Kirchen-, Kur- und Verwaltungsgebäuden, reinen Wohngebäuden, Gastronomie, Kurpark und einem Lebensmittelmarkt eingenommen würden. Diese bildeten aber an keiner Stelle der Ortslage eine zusammenhängende Fläche von einem Umfang, der es erfordere, sie als eigenes "Gebiet" einzustufen und von dem von Fremdenbeherbergung dominierten Restgebiet der Ortslage zu trennen (UA S. 6). Mit dem Bebauungsplan Nr. ... musste sich das Oberverwaltungsgericht insoweit mangels Entscheidungserheblichkeit (s. o.) nicht befassen. Dass die Beschwerde dies anders sieht und die Bewertung der Prägung der Ortslage durch Fremdenbeherbergung für fehlerhaft hält, begründet keinen Gehörsverstoß.
9 2. Die Rechtssache hat nicht die grundsätzliche Bedeutung, die ihr der Antragsteller beimisst. Grundsätzlich bedeutsam im Sinne von § 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO ist eine Rechtssache, wenn in dem angestrebten Revisionsverfahren die Klärung einer bisher höchstrichterlich ungeklärten, in ihrer Bedeutung über den der Beschwerde zugrundeliegenden Einzelfall hinausgehenden, klärungsbedürftigen und entscheidungserheblichen Rechtsfrage des revisiblen Rechts (§ 137 Abs. 1 VwGO) zu erwarten ist. In der Beschwerdebegründung muss dargelegt (§ 133 Abs. 3 Satz 3 VwGO), also näher ausgeführt werden, dass und inwieweit eine bestimmte Rechtsfrage des revisiblen Rechts im allgemeinen Interesse klärungsbedürftig und warum ihre Klärung in dem beabsichtigten Revisionsverfahren zu erwarten ist (stRspr, vgl. BVerwG, Beschluss vom 23. Mai 2024 - 4 BN 30.23 - juris Rn. 2 m. w. N.). Daran fehlt es hier.
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a) Der Antragsteller hält für grundsätzlich klärungsbedürftig,
ob § 22 BauGB als ungeschriebenes Tatbestandsmerkmal voraussetzt, dass die gesamte Ortslage einer Gemeinde nur dann in den Geltungsbereich einer Satzung einbezogen werden darf, sofern eine Aufteilung des Gemeindegebiets in abgestufte Zonen nicht möglich ist.
11 Die Frage rechtfertigt die Zulassung der Revision nicht. Abgesehen davon, dass der Geltungsbereich der Fremdenverkehrssatzung sich nach den Feststellungen des Oberverwaltungsgerichts nicht auf die gesamte Ortslage, sondern nur einen Großteil erstreckt (UA S. 2), ist sie nicht klärungsbedürftig.
12 Nach der Rechtsprechung des Senats können in der Regel nur Teile der Ortslage einer Gemeinde in den Geltungsbereich einer Fremdenverkehrssatzung nach § 22 Abs. 1 BauGB einbezogen werden (vgl. BVerwG, Urteil vom 7. Juli 1994 - 4 C 21.93 - BVerwGE 96, 217 <218>). Abweichend von diesem Regelfall kann der Geltungsbereich auf die gesamte Ortslage erstreckt werden, wenn sie einheitlich durch Fremdenbeherbergung geprägt ist (BVerwG, Urteil vom 27. September 1995 - 4 C 28.94 - BVerwGE 99, 242 <247 f.>). Dafür ist nicht erforderlich, dass jedes einzelne Grundstück im Satzungsgebiet für Zwecke der Fremdenbeherbergung oder für Fremdenverkehrszwecke genutzt wird. Denn die städtebauliche Prägung eines bebauten Gebiets leitet sich aus der für dieses Gebiet charakteristischen Art der baulichen Nutzung ab, ohne dass diese auf jedem einzelnen Grundstück in dem Gebiet vorliegen müsste. Maßgeblich ist nicht eine quantitative Gegenüberstellung der für Fremdenbeherbergung und der auf andere Weise genutzten Grundstücke, sondern eine wertende Betrachtung, die die städtebauliche Besonderheit des vorgesehenen Satzungsgebiets zu erfassen sucht. Einzelne Straßen oder Bereiche ohne Gebäude mit Fremdenbeherbergung heben daher eine im Übrigen vorhandene und das Gesamtgebiet erfassende Prägung regelmäßig nicht auf und müssen nicht aus dem Geltungsbereich ausgenommen werden (vgl. BVerwG, Urteil vom 15. Mai 1997 - 4 C 9.96 - BVerwGE 105, 1 <2 f.> und Beschluss vom 30. Dezember 2022 - 4 BN 9.22 - ZfBR 2023, 254 Rn. 5). Weitergehenden Klärungsbedarf zeigt die Beschwerde nicht auf.
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b) Die sinngemäß aufgeworfene Frage,
ob bei Vorliegen "abgestuft gefährdeter Zonen" im Gemeindegebiet in der Begründung nach § 22 Abs. 10 BauGB für eine Fremdenverkehrssatzung, die das gesamte Gemeindegebiet erfasst, die "abgestuften gefährdeten Zonen" benannt werden müssen und dargelegt werden muss, warum ausnahmsweise das gesamte Gemeindegebiet in den Geltungsbereich der Satzung einbezogen worden ist,
geht am Inhalt des Urteils vorbei. Das Oberverwaltungsgericht hat weder festgestellt, dass die Satzung das gesamte Gemeindegebiet erfasst, noch, dass es dort "abgestuft gefährdete Zonen" (vgl. Urteil vom 27. September 1995 - 4 C 28.94 - BVerwGE 99, 242 <247>) gibt. Es ist vielmehr davon ausgegangen, dass die Voraussetzungen des § 22 Abs. 1 Satz 2 und 3 BauGB für den gesamten von der Satzung erfassten Teil der Ortslage und die außerhalb der Ortslage gelegenen, in den Geltungsbereich der Satzung einbezogenen Außenbereichsgrundstücke erfüllt sind.
14 Zudem ist die Entscheidungserheblichkeit der Frage nicht dargetan. Eine Verletzung der Begründungspflicht nach § 22 Abs. 10 BauGB ist nur dann beachtlich (vgl. § 214 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 Halbs. 2 BauGB), wenn die Begründung gänzlich fehlt oder eine vorhandene Begründung nur aus "Leerformeln" besteht und deshalb einer gänzlich fehlenden Begründung gleichzuachten ist (BVerwG, Beschluss vom 21. April 1994 - 4 B 193.93 - Buchholz 406.11 § 22 BauGB Nr. 1 S. 4 f.). Das hat das Oberverwaltungsgericht verneint.
15
c) Die Frage,
ob und unter welchen Voraussetzungen bebaute oder unbebaute Außenbereichsflächen ein "sonstiges Gebiet mit Fremdenverkehrsfunktion" im Sinne von § 22 Abs. 1 Satz 3 Alt. 3 BauGB sein können, selbst wenn sie durch Beherbergungsbetriebe und Wohngebäude mit Fremdenbeherbergung geprägt sind,
bedarf keiner Klärung in einem Revisionsverfahren.
16 Soweit sie sich auf unbebaute Außenbereichsflächen bezieht, ist die Frage nicht entscheidungserheblich. Nach den Feststellungen des Oberverwaltungsgerichts umfasst der Geltungsbereich der Satzung ausschließlich bebaute Außenbereichsgrundstücke.
17 Im Hinblick auf Außenbereichsflächen mit Bebauung ist in der Rechtsprechung des Senats geklärt, dass diese im Einzelfall die Voraussetzungen des § 22 Abs. 1 Satz 3 Alt. 3 BauGB erfüllen können. Nach dieser Vorschrift ist die Zweckbestimmung für den Fremdenverkehr für sonstige Gebiete mit Fremdenverkehrsfunktionen anzunehmen, die durch Beherbergungsbetriebe und Wohngebäude mit Fremdenbeherbergung geprägt sind. Dabei ist unerheblich, ob sich die vorausgesetzte Nutzungsstruktur durch Festsetzungen eines Bebauungsplans oder durch vorhandene Bebauung oder tatsächliche Nutzung ergibt. Insoweit kommt als sonstiges Gebiet i. S. v. § 22 Abs. 1 Satz 3 Alt. 3 BauGB etwa auch eine siedlungstypische Streubesiedlung im Außenbereich in Betracht (BVerwG, Urteil vom 7. Juli 1994 - 4 C 21.93 - BVerwGE 96, 217 <221>), wenn sie die dafür erforderliche Prägung durch Fremdenbeherbergung aufweist. Im Regelfall fehlt es Außenbereichsflächen aber an einer solchen Prägung (BVerwG, Urteil vom 15. Mai 1997 - 4 C 9.96 - BVerwGE 105, 1 <2 f.>). Weiteren Klärungsbedarf zeigt die Beschwerde nicht auf.
18 Im Übrigen hat der Gesetzgeber mit der Ergänzung des Wortes "insbesondere" durch das Bau- und Raumordnungsgesetz 1998 vom 18. August 1997 (BGBl. 1997 I S. 2081) deutlich gemacht, dass die Vorschrift des § 22 Abs. 1 Satz 3 BauGB nicht als abschließende Regelung zu verstehen ist (BT-Drs. 13/7589 S. 26; vgl. auch BVerwG, Beschluss vom 30. Dezember 2022 - 4 BN 9.22 - ZfBR 2023, 254 Rn. 5; anders noch BVerwG, Urteil vom 7. Juli 1994 - 4 C 21.93 - BVerwGE 96, 217 <220>) und die Zweckbestimmung eines Gebiets für den Fremdenverkehr neben den dort aufgezählten auch für weitere Gebiete in Betracht kommt. Die Ergänzung soll es den Gemeinden ermöglichen, "z. B. im Außenbereich Flächen in den Geltungsbereich der Satzung mit einzubeziehen, wenn dort eine Beeinträchtigung der Zweckbestimmung dieses Gebietes für den Fremdenverkehr gegeben ist" (BT-Drs. 13/7589 S. 27). Auch dies verdeutlicht, dass - anders als die Beschwerde offenbar meint – § 22 Abs. 1 Satz 3 BauGB die Einbeziehung von Außenbereichsflächen in den Geltungsbereich einer Fremdenverkehrssatzung nicht ausschließt.
19 Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO. Die Festsetzung des Streitwerts beruht auf § 47 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 3, § 52 Abs. 1 GKG.