Beschluss vom 21.06.2023 -
BVerwG 5 AV 4.23ECLI:DE:BVerwG:2023:210623B5AV4.23.0

  • Zitiervorschlag

    BVerwG, Beschluss vom 21.06.2023 - 5 AV 4.23 - [ECLI:DE:BVerwG:2023:210623B5AV4.23.0]

Beschluss

BVerwG 5 AV 4.23

  • VG Arnsberg - 10.05.2023 - AZ: 9 K 759/23

In der Verwaltungsstreitsache hat der 5. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
am 21. Juni 2023
durch den Vorsitzenden Richter am Bundesverwaltungsgericht Dr. Störmer und
die Richter am Bundesverwaltungsgericht Holtbrügge und Preisner
beschlossen:

Als zuständiges Gericht wird das Sozialgericht Dortmund bestimmt.

Gründe

I

1 Gegenstand des Ausgangsrechtsstreits ist ein von der Klägerin unter dem Gesichtspunkt des öffentlich-rechtlichen Erstattungsanspruchs geltend gemachter Geldleistungsanspruch. Sie habe im Zeitraum August 2018 bis November 2020 deshalb zu geringe Leistungen nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II) erhalten, weil das beklagte Jobcenter Unterhaltszahlungen ihres Vaters anspruchsmindernd berücksichtigt habe, obgleich nicht sie, sondern der Beklagte selbst diese Zahlungen erhalten habe. Hierdurch sei zu dessen Gunsten eine durch § 33 Abs. 1 SGB II nicht gerechtfertigte Vermögensverschiebung eingetreten.

2 Das von der Klägerin zunächst angerufene Sozialgericht Dortmund hat mit Beschluss vom 26. Januar 2023 den Rechtsweg zu den Sozialgerichten für unzulässig erklärt und den Rechtsstreit an das Verwaltungsgericht Arnsberg verwiesen. Die Klägerin mache einen öffentlich-rechtlichen Erstattungsanspruch geltend. Derartige Ansprüche seien mangels einer Sonderzuweisung nach § 51 SGG zu den Sozialgerichten gemäß § 40 Abs. 1 VwGO im Verwaltungsrechtsweg zu verfolgen.

3 Das Verwaltungsgericht hat die Beteiligten darauf hingewiesen, dass es sich für unzuständig halte, weil der Rechtsweg zu den Sozialgerichten und nicht zu den Verwaltungsgerichten eröffnet sei. Mit Beschluss vom 10. Mai 2023 hat es den Verwaltungsgerichtsweg für unzulässig erklärt und das Bundesverwaltungsgericht zur Bestimmung des zuständigen Gerichts angerufen.

II

4 1. Das Bundesverwaltungsgericht ist zur Entscheidung des negativen Kompetenzkonflikts zwischen dem Sozialgericht Dortmund und dem Verwaltungsgericht Arnsberg berufen.

5 Gemäß § 53 Abs. 1 Nr. 5 i. V. m. Abs. 3 Satz 1 VwGO wird ein negativer Kompetenzkonflikt zwischen Gerichten der Verwaltungsgerichtsbarkeit von dem Gericht entschieden, das den beteiligten Gerichten übergeordnet ist. Zwar ist diese Vorschrift auf den Kompetenzkonflikt zwischen einem Verwaltungsgericht und einem Sozialgericht weder unmittelbar anwendbar noch gibt es für einen solchen Fall an anderer Stelle eine gesetzliche Regelung. Diese Regelungslücke ist aber - im Einklang mit der Rechtsprechung anderer oberster Gerichtshöfe des Bundes - in der Weise zu schließen, dass dasjenige oberste Bundesgericht den negativen Kompetenzkonflikt zwischen den Gerichten verschiedener Gerichtszweige entscheidet, das einem der beteiligten Gerichte übergeordnet ist und zuerst angegangen wird. Denn obwohl ein nach § 17a GVG ergangener und unanfechtbar gewordener Beschluss, mit dem ein Gericht den bestrittenen Rechtsweg für unzulässig erklärt und den Rechtsstreit an ein anderes Gericht verwiesen hat, nach dem Gesetz keiner weiteren Überprüfung unterliegt, ist eine Zuständigkeitsbestimmung in Analogie zu § 53 Abs. 1 Nr. 5 VwGO im Interesse einer funktionierenden Rechtspflege und der Rechtssicherheit geboten, wenn es in einem Verfahren zu Zweifeln über die Bindungswirkung der Verweisung kommt und deshalb keines der in Frage kommenden Gerichte bereit ist, die Sache zu bearbeiten (vgl. BVerwG, Beschluss vom 13. Juli 2022 - 5 AV 4.21 - NVwZ-RR 2022, 894 Rn. 5 m. w. N.). Eine solche Situation ist hier gegeben. Sowohl das Sozialgericht Dortmund als auch das Verwaltungsgericht Arnsberg haben entschieden, dass der Rechtsweg zu ihnen unzulässig sei.

6 2. Für die Entscheidung im vorliegenden Verfahren ist das Sozialgericht Dortmund zuständig. Seinem Verweisungsbeschluss vom 26. Januar 2023 kommt keine Bindungswirkung gemäß § 173 Satz 1 VwGO i. V. m. § 17a Abs. 2 Satz 3 GVG zu. Die Voraussetzungen, unter denen ein Verweisungsbeschluss eines Gerichts ausnahmsweise keine Bindungswirkung entfaltet, liegen hier vor.

7 Gemäß § 17a Abs. 2 Satz 3 GVG ist ein Verweisungsbeschluss für das Gericht, an das der Rechtsstreit verwiesen worden ist, hinsichtlich des Rechtswegs bindend. Die Bindungswirkung tritt auch bei einem fehlerhaften Verweisungsbeschluss ein, etwa wenn der Rechtsweg zu dem verweisenden Gericht entgegen dessen Rechtsauffassung gegeben war oder das Gericht den Verweisungsbeschluss entgegen § 17a Abs. 4 Satz 2 GVG nicht begründet oder unter Verletzung des rechtlichen Gehörs getroffen hat. Mit Rücksicht auf die in § 17a GVG eröffnete Möglichkeit, einen Verweisungsbeschluss in dem in § 17a Abs. 4 Satz 3 bis 6 GVG vorgesehenen Instanzenzug überprüfen zu lassen, kann die gesetzlich angeordnete Bindungswirkung eines unanfechtbaren Verweisungsbeschlusses allenfalls bei extremen Rechtsverstößen durchbrochen werden. Das ist nur dann der Fall, wenn sich die Verweisung bei der Auslegung und Anwendung der Zuständigkeitsnormen so weit von dem diese beherrschenden verfassungsrechtlichen Grundsatz des gesetzlichen Richters (Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG) entfernt hat, dass sie schlechthin nicht mehr zu rechtfertigen ist. Hiervon kann ausgegangen werden, wenn die Entscheidung bei verständiger Würdigung nicht mehr verständlich erscheint und offensichtlich unhaltbar ist (BVerwG, Beschlüsse vom 29. Dezember 2021 - 3 AV 1.21 - NVwZ 2022, 421 Rn. 11 und vom 7. Februar 2022 - 5 AV 5.21 - juris Rn. 7, jeweils m. w. N.).

8 Der Verweisungsbeschluss des Sozialgerichts Dortmund vom 26. Januar 2023 erweist sich als in dieser Weise qualifiziert fehlerhaft. Für den Rechtsstreit ist eindeutig der Rechtsweg zu den Sozialgerichten eröffnet (a). Sachlich und örtlich zuständig ist das Sozialgericht Dortmund (b).

9 a) Ob für das Klagebegehren eine Anspruchsgrundlage in Betracht kommt, die in dem beschrittenen Rechtsweg zu verfolgen ist, ist auf der Grundlage des Klageantrags und des zu seiner Begründung vorgetragenen Sachverhalts zu prüfen (BVerwG, Beschluss vom 15. Dezember 1992 - 5 B 144.91 - Buchholz 300 § 17a GVG Nr. 5 S. 5 m. w. N.). Für die Rechtswegeröffnung ist allein die wirkliche Natur des behaupteten Rechtsverhältnisses und nicht die rechtliche Qualifizierung durch den Kläger maßgeblich (BVerwG, Beschlüsse vom 17. März 2010 - 7 AV 1.10 - Buchholz 300 § 17a GVG Nr. 29 Rn. 8 und vom 13. Juli 2022 - 5 AV 4.21 - NVwZ-RR 2022, 894 Rn. 9). Gemessen daran ist es hier völlig unverständlich und offensichtlich unhaltbar, dass das Sozialgericht Dortmund die Eröffnung des Rechtswegs zu den Sozialgerichten verneint und den Rechtsstreit an das Verwaltungsgericht Arnsberg verwiesen hat.

10 Das Sozialgericht hat darauf abgestellt, dass die Klägerin ihren Anspruch als öffentlich-rechtlichen Erstattungsanspruch geltend gemacht habe und für die Geltendmachung "eines" öffentlich-rechtlichen Erstattungsanspruchs das Verwaltungsgericht Arnsberg sachlich und örtlich zuständig sei. Gemäß § 40 Abs. 1 VwGO sei der Verwaltungsrechtsweg in allen öffentlich-rechtlichen Streitigkeiten nicht verfassungsrechtlicher Art gegeben, soweit die Streitigkeiten nicht durch Bundesgesetz einem anderen Gericht ausdrücklich zugewiesen seien. Eine abdrängende Sonderzuweisung zu den Sozialgerichten nach § 51 SGG sei (hinsichtlich öffentlich-rechtlicher Erstattungsansprüche) nicht gegeben.

11 Der Rechtsweg zu den Verwaltungsgerichten nach § 40 Abs. 1 VwGO ist hier jedoch nicht eröffnet, weil das Klagebegehren nach § 51 Abs. 1 Nr. 4a SGG offensichtlich im Rechtsweg zu den Sozialgerichten zu verfolgen ist. Danach entscheiden die Gerichte der Sozialgerichtsbarkeit über öffentlich-rechtliche Streitigkeiten in Angelegenheiten der Grundsicherung für Arbeitssuchende. Das sind solche, die ihre Grundlage im SGB II finden oder dort haben können (BSG, Beschluss vom 1. April 2009 - B 14 SF 1/08 R - juris Rn. 15 und Urteil vom 31. Mai 2016 - B 1 AS 1/16 KL - juris Rn. 10). Fehlt es an einer unmittelbaren Zuweisung, genügt es, dass sich der Wille des Gesetzes aus dem Gesamtzusammenhang der Regelung und dem Sachzusammenhang in Verbindung mit der Sachnähe eindeutig und logisch zwingend ergibt. Ein Sachzusammenhang besteht, wenn die Maßnahme in engem sachlichen Zusammenhang zur Verwaltungstätigkeit der Behörde nach dem SGB II steht. Die Sachnähe ist wesentlich davon abhängig, auf welche rechtliche Grundlage sich die streitgegenständliche Maßnahme zu stützen vermag. Sie ist insbesondere dann anzunehmen, wenn die Beteiligten über Rechtsfolgen aus der Anwendung sozialverwaltungsverfahrensrechtlicher Normen nach dem SGB X streiten, sofern der Streitigkeit materielle Rechtsverhältnisse nach dem SGB II zugrunde liegen (BSG, Beschluss vom 1. April 2009 - B 14 SF 1/08 R - juris Rn. 15). Die Zuständigkeit nach § 51 Abs. 1 Nr. 4a SGG erfasst die Angelegenheiten des SGB II umfassend (Wenner, in: Knickrehm/Kreikebohm/Waltermann, Kommentar zum Sozialrecht, 7. Aufl. 2021, § 51 SGG Rn. 12) auch außerhalb der unmittelbaren Leistungsverwaltung (Gutzeit, in: Roos/Wahrendorf/Müller, SGG, Stand 1. Mai 2023, § 51 Rn. 63).

12 Um eine danach in die sachliche Zuständigkeit der Sozialgerichte fallende Angelegenheit handelt es sich hier offenkundig. Die Klägerin macht gegenüber dem beklagten Jobcenter geltend, dass ihr im Bewilligungszeitraum von August 2018 bis November 2020 höhere Leistungen nach dem SGB II zugestanden hätten, weil auf ihren diesbezüglichen Anspruch Unterhaltszahlungen ihres Vaters zu Unrecht anspruchsmindernd angerechnet worden seien, die nicht ihr, sondern unmittelbar dem Beklagten zugeflossen seien. Hiernach stehen vorliegend Ansprüche im Streit, welche die Klägerin im Zusammenhang mit der Gewährung von Leistungen der Grundsicherung für Arbeitssuchende nach dem SGB II durch das beklagte Jobcenter geltend macht. Dass sie selbst diesen Anspruch als öffentlich-rechtlichen Erstattungsanspruch qualifiziert, ist - wie ausgeführt - für die Rechtswegeröffnung unmaßgeblich. Dessen ungeachtet ist die dem Verweisungsbeschluss des Sozialgerichts zugrunde liegende, auf der Übernahme einer unbelegten Rechtsansicht des Beklagten zur Rechtswegeröffnung basierenden und jegliche Auseinandersetzung mit den in Rechtsprechung und Literatur entwickelten Maßstäben vermissenlassenden Annahme, Ansprüche aus einem öffentlich-rechtlichen Erstattungsanspruch fielen immer in die Zuständigkeit der Verwaltungsgerichtsbarkeit, offensichtlich unhaltbar. Das Rechtsinstitut des öffentlich-rechtlichen Erstattungsanspruchs ist auch in vor den Sozialgerichten ausgetragenen sozialrechtlichen Streitverfahren anerkannt (vgl. BSG, Urteile vom 16. Juli 2020 - B 1 KR 15/19 R - BSGE 130, 299 Rn. 10 ff. und vom 7. März 2023 - B 1 KR 3/22 R - juris Rn. 13) und die Sozialgerichte entscheiden dementsprechend über das Bestehen darauf gestützter Ansprüche (vgl. etwa SG Dortmund, Gerichtsbescheid vom 21. Juli 2021 - S 78 KR 3628/18 - juris Rn. 38 und Urteil vom 6. August 2021 - S 83 KR 1759/20 - juris Rn. 20 und vom 19. August 2021 - S 74 KR 336/16 - juris Rn. 20).

13 b) Die sachliche Zuständigkeit der Sozialgerichte ergibt sich aus § 8 SGG, die örtliche Zuständigkeit des Sozialgerichts Dortmund folgt aus § 57 Abs. 1 Satz 1 SGG i. V. m. § 20 Abs. 2 Nr. 3 JustG NRW.