Beschluss vom 19.11.2024 -
BVerwG 11 VR 10.24ECLI:DE:BVerwG:2024:191124B11VR10.24.0

  • Zitiervorschlag

    BVerwG, Beschluss vom 19.11.2024 - 11 VR 10.24 - [ECLI:DE:BVerwG:2024:191124B11VR10.24.0]

Beschluss

BVerwG 11 VR 10.24

In der Verwaltungsstreitsache hat der 11. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
am 19. November 2024
durch den Vorsitzenden Richter am Bundesverwaltungsgericht
Prof. Dr. Külpmann und die Richter am Bundesverwaltungsgericht
Dr. Dieterich und Dr. Hammer
beschlossen:

  1. Der Antrag wird abgelehnt.
  2. Der Antragsteller trägt die Kosten des Verfahrens einschließlich der außergerichtlichen Kosten der Beigeladenen.
  3. Der Wert des Streitgegenstandes wird auf 14 068 € festgesetzt.

Gründe

I

1 Der Antragsteller begehrt einstweiligen Rechtsschutz gegen eine vorzeitige Besitzeinweisung in sein Grundstück.

2 Mit Planfeststellungsbeschluss vom 29. September 2022, geändert durch Bescheid vom 10. Juni 2024, wurde der Plan für den Neubau der 110-/380-kV-Höchstspannungsfreileitung Wesel - Utfort, Bl. 4214 sowie der 380-kV-Höchstspannungsfreileitung Utfort - Pkt. Hüls-West, Bl. 4208 festgestellt. Das Vorhaben stellt einen Teilabschnitt des in Nr. 14 der Anlage zum Energieleitungsausbaugesetz genannten Vorhabens "Neubau Höchstspannungsleitung Niederrhein - Utfort - Osterath, Nennspannung 380 kV" dar. Die geplante Leitung nimmt das im Eigentum des Antragstellers stehende Grundstück Gemarkung S., Flur ..., Flurstück ... für mehrere Maststandorte in Anspruch. Außerdem soll die über das Grundstück verlaufende Bestandsleitung demontiert werden.

3 Auf Antrag der Beigeladenen wurde ein vorläufiges Besitzeinweisungsverfahren eingeleitet und der Antragsteller sowie ein Pächter mit Schreiben vom 17. Juli 2024 zur mündlichen Verhandlung am 19. August 2024 geladen. In Bezug auf weitere Pächter, von denen die Antragsgegnerin erst im Nachgang zur erfolgten Ladung erfuhr, wurde ein eigenes Verfahren durchgeführt.

4 Mit Beschluss vom 28. August 2024 wies die Antragsgegnerin die Beigeladene in den Besitz eines Teilbereichs des Grundstücks von 56 135 m2 dauerhaft und von 135 m2 vorübergehend ein. Beide Bereiche sollten sich ausweislich Ziffer 1. des Bescheides in einer im beigefügten Flächenplan grau hinterlegten Grundstücksteilfläche befinden. Demgegenüber befindet sich eine temporäre Arbeitsfläche im Plan auch außerhalb des grau hinterlegten Bereichs, mit dem der Schutzstreifen gekennzeichnet wird. Sie ist durch violette Umrandung kenntlich gemacht. Am 12. September 2024 erließ die Antragsgegnerin unter Aufhebung des Beschlusses vom 28. August 2024 einen weitgehend inhaltsgleichen Besitzeinweisungsbeschluss, dessen Ziffer 1. die Beigeladene nunmehr dauerhaft in den Besitz der grau hinterlegten und vorübergehend in den Besitz der in dem Flächenplan violett umrandeten, außerhalb des Schutzstreifens liegenden Grundstücksteilfläche einweist. Dem Exemplar des Beschlusses, das dem Antragsteller zugestellt wurde, war der textlich in Bezug genommene Flächenplan nicht beigefügt.

5 Der Antragsteller hat gegen die Besitzeinweisungsbeschlüsse Klage erhoben und hinsichtlich des Bescheides vom 12. September 2024 vorläufigen Rechtsschutz beantragt. Der Besitzeinweisungsbeschluss vom 12. September 2024 sei formell und materiell rechtswidrig; gleiches gelte für den nach Aufhebung dieses Beschlusses gegebenenfalls wiederauflebenden Beschluss vom 28. August 2024.

II

6 A. Das Bundesverwaltungsgericht ist für den Antrag zuständig. Es entscheidet nach § 50 Abs. 1 Nr. 6 VwGO im ersten und letzten Rechtszug unter anderem über sämtliche Streitigkeiten, die Planfeststellungsverfahren und Plangenehmigungsverfahren für Vorhaben betreffen, die in dem Energieleitungsausbaugesetz bezeichnet sind. Nach § 1 Abs. 3 Satz 1 EnLAG gilt für diese Vorhaben § 50 Abs. 1 Nr. 6 VwGO. Gemäß § 1 Abs. 3 Satz 2 EnLAG ist dies auch anzuwenden für auf diese Vorhaben bezogene Zulassungen des vorzeitigen Baubeginns und Anzeigeverfahren. Der Begriff der Zulassung des vorzeitigen Baubeginns ist mit Blick auf den Gesetzeszweck weit auszulegen und umfasst auch die in § 44b EnWG geregelte vorzeitige Besitzeinweisung, die ebenso wie der in § 44c EnWG geregelte vorzeitige Baubeginn die Bauarbeiten beschleunigen soll (vgl. BVerwG, Urteil vom 26. Oktober 2023 - 7 A 2.23 - BVerwGE 180, 363 Rn. 16 und Beschluss vom 10. Februar 2023 - 7 VR 1.23 - BVerwGE 178, 1 Rn. 12 zu § 12 Satz 2 Nr. 1 LNGG sowie Beschlüsse vom 22. Juni 2023 - 4 VR 4.23 - juris Rn. 9 ff. und vom 22. Februar 2024 - 11 VR 3.24 - juris Rn. 8 zu § 6 Satz 2 Nr. 1 BBPlG).

7 B. Der gemäß § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3, Abs. 5 Satz 1 Alt. 1 VwGO statthafte Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klagen gegen die nach § 44b Abs. 7 Satz 1 EnWG sofort vollziehbare vorzeitige Besitzeinweisung ist unbegründet.

8 Die im Rahmen von § 80 Abs. 5 VwGO vorzunehmende Interessensabwägung geht zu Lasten des Antragstellers aus. Das bereits durch die gesetzliche Regelung des § 44b Abs. 7 Satz 1 EnWG betonte öffentliche Interesse und das Interesse der Beigeladenen an der sofortigen Vollziehung der vorzeitigen Besitzeinweisung überwiegen das Interesse des Antragstellers an der aufschiebenden Wirkung seiner Klage. Bei der im vorläufigen Rechtsschutzverfahren allein möglichen und gebotenen summarischen Prüfung erweist sich die vorzeitige Besitzeinweisung durch den Beschluss vom 12. September 2024 voraussichtlich als rechtmäßig. Dabei ist die gerichtliche Prüfung auf die binnen der Frist des § 44b Abs. 7 Satz 2 EnWG dargelegten Gründe beschränkt.

9 I. Der Beschluss leidet nach dem gegenwärtigen Erkenntnisstand nicht an den geltend gemachten Verfahrensmängeln.

10 1. Der Antragsteller ist ordnungsgemäß beteiligt worden. Nach § 44b Abs. 2 Satz 1 und 2 EnWG hat die Enteignungsbehörde über den Antrag auf Besitzeinweisung mit den Beteiligten mündlich zu verhandeln und hierzu den Antragsteller und die Betroffenen zu laden. Das ist geschehen. Dass mit weiteren Betroffenen zu einem späteren Zeitpunkt getrennt mündlich verhandelt wurde, führt nicht auf einen Verfahrensfehler. Ziel der mündlichen Verhandlung ist es, die Sach- und Rechtslage zu erörtern und möglichst eine einvernehmliche Lösung zu finden (Greinacher, in: Elspas/​Graßmann/​Rasbach <Hrsg.>, EnWG, 2. Aufl. 2023, § 44b Rn. 11). Hierzu ist es nicht erforderlich, dass mit sämtlichen Betroffenen eines Grundstücks eine gemeinsame Verhandlung durchgeführt wird. Insbesondere dann, wenn die Enteignungsbehörde erst zu einem späteren Zeitpunkt von weiteren Betroffenen Kenntnis erlangt, würde eine solche Anforderung das Verfahren verlangsamen und dem Anliegen einer Beschleunigung des Netzausbaus (vgl. BT-Drs. 16/54 S. 40 f.) entgegenstehen.

11 2. Gemäß § 44b Abs. 4 Satz 1 EnWG ist der Beschluss über die Besitzeinweisung dem Antragsteller und den Betroffenen spätestens zwei Wochen nach der mündlichen Verhandlung zuzustellen. Dass diese Frist versäumt wurde, führt nicht auf einen erheblichen Verfahrensfehler. Die Frist dient der Beschleunigung des Verfahrens und steht damit im öffentlichen Interesse, schützt aber nicht die Rechte der Betroffenen, denen der Besitz entzogen werden soll (Pielow, in: Säcker <Hrsg.>, Berliner Kommentar zum Energierecht, 4. Aufl. 2019, § 44b EnWG Rn. 19 und 31; Kment, EnWG, 3. Aufl. 2023, § 44b Rn. 26).

12 3. Die Enteignungsbehörde musste nach gegenwärtigem Erkenntnisstand nicht von Amts wegen den Zustand des betroffenen Grundstücks feststellen. Soweit der Zustand des Grundstücks von Bedeutung ist, hat die Enteignungsbehörde diesen gemäß § 44b Abs. 3 EnWG bis zum Beginn der mündlichen Verhandlung in einer Niederschrift festzustellen oder durch einen Sachverständigen ermitteln zu lassen. Das ist erforderlich, wenn der Zustand des Grundstücks nicht feststeht beziehungsweise sich nach Beginn der Bauarbeiten nicht mehr feststellen lässt. Dafür ist nichts ersichtlich. Der Zustand des Grundstücks wird sich auch nach Abschluss der Bauarbeiten feststellen lassen, weil es nur in geringem Umfang für Maststandorte in Anspruch genommen, aber sonst lediglich überspannt wird. Im Übrigen wäre zu erwägen, ob es sich bei einer im vorzeitigen Besitzeinweisungsverfahren fehlerhaft unterbliebenen Feststellung zum Zustand des Grundstücks um einen unbeachtlichen Verfahrensfehler handelt (vgl. Kment, EnWG, 3. Aufl. 2023, § 44b Rn. 16; Hermes, in: Bourwieg/​Hellermann/​Hermes, EnWG, 4. Aufl. 2023, § 44b Rn. 14).

13 II. Der Besitzeinweisungsbeschluss vom 12. September 2024 erweist sich nach gegenwärtigem Erkenntnisstand als materiell rechtmäßig.

14 Nach § 44b Abs. 1 Satz 1 und 2 EnWG hat die Enteignungsbehörde den Träger des Vorhabens auf Antrag nach Feststellung des Plans oder Erteilung der Plangenehmigung in den Besitz einzuweisen, wenn der sofortige Beginn von Bauarbeiten geboten ist und sich der Eigentümer oder Besitzer weigert, den Besitz eines für den Bau, die Änderung oder Betriebsänderung von Hochspannungsfreileitungen, Erdkabeln oder Gasversorgungsleitungen im Sinne des § 43 EnWG benötigten Grundstücks durch Vereinbarung unter Vorbehalt aller Entschädigungsansprüche zu überlassen. Diese Voraussetzungen liegen vor.

15 1. Das Grundstück des Klägers wird für den Bau einer Hochspannungsfreileitung im Sinne des § 43 EnWG benötigt. Der vollziehbare Planfeststellungsbeschluss vom 29. September 2022, geändert durch Bescheid vom 10. Juni 2024, sieht die Inanspruchnahme des Grundstücks vor.

16 2. Der Besitzeinweisungsbeschluss ist hinreichend bestimmt. Dem steht nicht entgegen, dass dem Beschluss vom 12. September 2024 der in Bezug genommene Flächenplan nicht beigefügt war.

17 Ein Verwaltungsakt ist hinreichend bestimmt, wenn er zum einen den Adressaten in die Lage versetzt, zu erkennen, was von ihm gefordert wird und zum anderen eine geeignete Grundlage für Maßnahmen zu seiner zwangsweisen Durchsetzung sein kann. Es reicht aus, wenn sich die Regelung aus dem gesamten Inhalt des Bescheides sowie den weiteren, den Beteiligten bekannten oder ohne Weiteres erkennbaren Umständen unzweifelhaft entnehmen lässt. Im Einzelnen richten sich die Anforderungen an die Bestimmtheit nach den Besonderheiten des jeweils anzuwendenden materiellen Rechts (BVerwG, Urteil vom 9. Juli 2020 - 3 C 20.18 - BVerwGE 169, 142 Rn. 12 m. w. N.).

18 Ein auf fachplanungsrechtliche Bestimmungen gestützter Besitzeinweisungsbeschluss muss insbesondere die betroffene Grundstücksfläche genügend klar bezeichnen (BVerwG, Beschluss vom 22. Februar 2024 - 11 VR 3.24 - juris Rn. 33 m. w. N.). Das war vorliegend der Fall. Die Flächen sind in dem Flächenplan zum Beschluss eindeutig markiert. Dem Antragsteller war dieser Flächenplan jedenfalls aus dem Antrag der Beigeladenen auf vorzeitige Besitzeinweisung vom 15. Juli 2024 und aufgrund des Beschlusses vom 28. August 2024 bekannt. Sofern der Antragsteller geltend macht, dem Beschluss vom 12. September 2024 hätte ein geänderter Plan zugrunde liegen können, überzeugt dies nicht. Hinsichtlich der Inanspruchnahme der Flächen war in Ziffer 1. des Bescheides vom 12. September 2024 lediglich eine Formulierung korrigiert worden, die ausweislich des Flächenplans in dem Bescheid vom 28. August 2024 erkennbar fehlerhaft war. Unter diesen Umständen war der Inhalt des Bescheides auch ohne Beifügung des Flächenplans hinreichend bestimmt (vgl. BVerwG, Urteil vom 14. November 2012 - 9 C 13.11 - NVwZ 2013, 799 Rn. 12 <in BVerwGE 145, 87 nicht abgedruckt>).

19 3. Der Antragsteller hat sich geweigert, der Beigeladenen den Besitz an den benötigten Flächen seines Grundstücks freiwillig zu überlassen.

20 Eine Weigerung im Sinne von § 44b Abs. 1 Satz 1 EnWG liegt vor, wenn der Vorhabenträger dem Eigentümer oder Besitzer durch ein entsprechendes Angebot die Möglichkeit eröffnet, die Überlassung des Besitzes durch Vereinbarung unter Vorbehalt sämtlicher Entschädigungsansprüche herbeizuführen, und dieser das Angebot nicht annimmt (BVerwG, Beschlüsse vom 22. Juni 2023 - 4 VR 4.23 - juris Rn. 21 und vom 22. Februar 2024 - 11 VR 3.24 - juris Rn. 30). Das war ausweislich des Protokolls der mündlichen Verhandlung der Fall. Dass der Antragsteller die Besitzüberlassung von weiteren Erläuterungen und Darlegungen in Bezug auf die geplanten Maßnahmen abhängig machen will, steht der Annahme einer Weigerung nicht entgegen.

21 4. Ein sofortiger Beginn der Bauarbeiten im Sinne von § 44b Abs. 1 Satz 1 EnWG ist geboten. Die Dringlichkeit des Baubeginns wird dadurch indiziert, dass es sich bei dem Vorhaben um einen Teilabschnitt des in Nr. 14 der Anlage zum Energieleitungsausbaugesetz genannten Vorhabens "Neubau Höchstspannungsleitung Niederrhein - Utfort - Osterath, Nennspannung 380 kV" handelt, für das gemäß § 1 Abs. 1 und 2 EnLAG die energiewirtschaftliche Notwendigkeit und ein vordringlicher Bedarf feststeht. Darüber hinaus hat die Beigeladene in ihrem Antrag auf vorzeitige Besitzeinweisung vom 15. Juli 2024 unter anderem dargelegt, dass das Vorhaben Bestandteil des sogenannten Startnetzes und damit Voraussetzungen für weitere Ausbaumaßnahmen ist, weil die Leitung erforderliche Netzfreischaltungen für spätere Ausbauprojekte abfangen muss.

22 Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 und 3 i. V. m. § 162 Abs. 3 VwGO. Die Festsetzung des Streitwerts folgt aus § 52 Abs. 1 i. V. m. § 53 Abs. 2 Nr. 2 GKG und orientiert sich an den Ziffern 34.2.4 und 1.5 des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit.