Beschluss vom 18.11.2010 -
BVerwG 1 WB 43.10ECLI:DE:BVerwG:2010:181110B1WB43.10.0

  • Zitiervorschlag

    BVerwG, Beschluss vom 18.11.2010 - 1 WB 43.10 - [ECLI:DE:BVerwG:2010:181110B1WB43.10.0]

Beschluss

BVerwG 1 WB 43.10

In dem Wehrbeschwerdeverfahren hat der 1. Wehrdienstsenat des Bundesverwaltungsgerichts durch
den Vorsitzenden Richter am Bundesverwaltungsgericht Golze,
die Richterin am Bundesverwaltungsgericht Dr. Frentz und
den Richter am Bundesverwaltungsgericht Dr. Langer
am 18. November 2010 beschlossen:

  1. Der Bescheid des Bundesministers der Verteidigung - PSZ I 7 - vom 20. August 2010 wird in Nr. 3 aufgehoben.
  2. Die Hinzuziehung eines Bevollmächtigten im vorgerichtlichen Verfahren war notwendig.
  3. Die der Antragstellerin im Verfahren vor dem Bundesverwaltungsgericht erwachsenen notwendigen Aufwendungen werden dem Bund auferlegt.

Gründe

I

1 Die Antragstellerin begehrt die Feststellung, dass die Hinzuziehung eines Bevollmächtigten im vorgerichtlichen Wehrbeschwerdeverfahren notwendig war.

2 Die 1986 geborene Antragstellerin ist Soldatin auf Zeit. Ihre auf 12 Jahre festgesetzte Dienstzeit endet im Jahre 2018.

3 Die Antragstellerin, damals noch im Dienstgrad eines Stabsunteroffiziers, war vom 30. November bis 18. Dezember 2009 für die Teilnahme am Lehrgang „Aufbauausbildung Einsatzvorbereitende Ausbildung für Konfliktverhütung und Krisenbewältigung im Zentralen Sanitätsdienst der Bundeswehr“ zur .../Lazarettregiment ... in S. kommandiert. Im Anschluss an eine Weihnachtsfeier und einen Kameradschaftsabend am 8. Dezember 2009 soll die Antragstellerin während einer dienstlichen Busfahrt mit weiblichen Kameraden in Gegenwart von Mannschaftsdienstgraden Zärtlichkeiten ausgetauscht und sich dabei fotografieren lassen haben. Sie soll ferner das Zubettgehen einer Stubenkameradin verhindert und trotz ihres höheren Dienstgrades die anwesenden männlichen Kameraden nach 22:00 Uhr nicht aus der Stube gewiesen haben.

4 Wegen dieser Vorfälle schlug der Kompaniechef der .../Lazarettregiment ... mit Schreiben vom 11. Dezember 2009 die Ablösung (unter anderem) der Antragstellerin vom Lehrgang vor und gab als Begründung deren charakterliche Nichteignung an. Die Antragstellerin wurde noch am 11. Dezember 2009 zu ihrer Dienststelle, dem Sanitätsamt der Bundeswehr in M., in Marsch gesetzt. Aufgrund einer Mitteilung der .../Lazarettregiment ... vom 16. Dezember 2009, dass die Antragstellerin (und weitere Soldaten) am 11. Dezember 2009 vom Lehrgang abgelöst worden seien, beendete die Stammdienststelle der Bundeswehr am 16. Dezember 2009 die Kommandierung vorzeitig zum 11. Dezember 2009.

5 Mit Schreiben vom 7. Januar 2010 erhob die Antragstellerin persönlich Beschwerde gegen ihre vorzeitige Ablösung vom Lehrgang. Zur Begründung führte sie aus, dass auf der Busfahrt keine Zärtlichkeiten ausgetauscht worden seien und sie im Bus lediglich fotografiert habe. Sie habe niemanden am Zubettgehen gehindert; auch sei ihr nicht bewusst gewesen, dass sich nach 22:00 Uhr keine männlichen bzw. nicht stubenangehörigen Kameraden auf ihrer Stube hätten aufhalten dürfen. Sie sei zu dem Sachverhalt vernommen worden, ohne auf die Möglichkeit der Hinzuziehung der Vertrauensperson hingewiesen worden zu sein und ohne dass vorher Versuche zur Aufklärung des Sachverhalts unternommen worden seien.

6 Mit Bescheid vom 27. Januar 2010 wies der Kommandeur des Lazarettregiments ... die Beschwerde als unbegründet zurück.

7 Hiergegen legte die Antragstellerin mit Schriftsatz vom 12. Februar 2010 ihrer (am 11. Februar 2010 beauftragten) Bevollmächtigten weitere Beschwerde ein, die sie mit Schriftsatz vom 1. April 2010 begründete.

8 Mit Bescheid vom 10. August 2010 hob der Kommandeur des Lazarettregiments ... den Bescheid vom 27. Januar 2010 auf, weil für die Entscheidung über die Beschwerde gegen die vorzeitige Ablösung vom Lehrgang nicht er, sondern der Bundesminister der Verteidigung - PSZ I 7 - zuständig sei.

9 Mit Beschwerdebescheid vom 20. August 2010 stellte der Bundesminister der Verteidigung - PSZ I 7 - fest, dass die Ablösung der Antragstellerin vom Lehrgang am 11. Dezember 2009 rechtswidrig gewesen sei (Nr. 1) und ihr die notwendigen Aufwendungen zu erstatten seien (Nr. 2); die Hinzuziehung eines Bevollmächtigten sei nicht notwendig gewesen (Nr. 3). Die Antragstellerin habe unter dem Gesichtspunkt der Rehabilitation ein berechtigtes Interesse an der Feststellung, dass ihre Ablösung vom Lehrgang rechtswidrig gewesen sei. Die Ablösung sei fehlerhaft erfolgt, weil die bloße Feststellung einer charakterlichen Nichteignung ohne nähere Begründung nicht ausreiche. Weiterhin sei die erforderliche Stellungnahme des Kommandeurs des Lazarettregiments ... als nächsthöherem Disziplinarvorgesetzten zum Ablösevorschlag unterblieben. Schließlich sei der Vorschlag auch nicht der zuständigen Stammdienststelle der Bundeswehr vorgelegt und deren Entscheidung abgewartet worden, sondern die Antragstellerin sofort in Marsch gesetzt und die Stammdienststelle erst nachträglich über die bereits faktisch vollzogene Ablösung informiert worden. Die Ablösung der Antragstellerin vom Lehrgang wäre aber auch bei Einhaltung der formalen Anforderungen materiell nicht gerechtfertigt gewesen. Soweit der Antragstellerin eine Beteiligung an den Vorfällen nachzuweisen sei, ergebe sich daraus kein hinreichender Grund für eine Ablösung.

10 Der Antragstellerin seien die zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung notwendigen Aufwendungen zu erstatten, weil ihrer Beschwerde stattgegeben worden sei. Die Hinzuziehung eines Rechtsanwalts sei hingegen nicht erforderlich gewesen. Zwar sprächen die möglichen Auswirkungen der Ablösung vom Lehrgang für die Notwendigkeit der Hinzuziehung eines Bevollmächtigten. Das Beschwerdeverfahren weise jedoch keinen besonderen Schwierigkeitsgrad auf. Das Beschwerdevorbringen beruhe im Wesentlichen auf einem Tatsachenvortrag. Die Begründung der Bevollmächtigten vom 1. April 2010 enthalte keine Gesichtspunkte, die nicht schon von der Antragstellerin selbst in ihrer Beschwerde vom 7. Januar 2010 angesprochen worden seien. Die rechtliche Lösung des Falles beruhe im Wesentlichen auf für die Antragstellerin leicht zugänglichen Rechtsquellen (ZDv 3/6 und Versetzungsrichtlinien).

11 Mit Schriftsatz ihrer Bevollmächtigten vom 20. September 2010 beantragte die Antragstellerin wegen der Ablehnung, die Notwendigkeit der Hinzuziehung eines Bevollmächtigten festzustellen, die Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts. Zur Begründung führte sie insbesondere aus:
Ihre Fähigkeit, das Beschwerdeverfahren selbst durchzuführen, solle nicht überschätzt werden. Wie ihrer Beschwerde vom 7. Januar 2010 zu entnehmen sei, sei sie mit der ganzen Situation überfordert gewesen. Sie habe auch keine Kenntnis vom Anhörungserfordernis bezüglich der geplanten Ablösung vom Lehrgang gehabt; auch sei sie nicht darüber belehrt worden, dass die Vertrauensperson hinzugezogen werden könne. Ebenfalls sei ihr das nötige Rehabilitationsinteresse gänzlich unbekannt. Da die Beschwerde mit Bescheid vom 27. Januar 2010 zurückgewiesen worden sei, habe sie nicht gewusst, wie sie die weitere Beschwerde habe begründen sollen. Auch ein „vernünftiger Soldat“ mit gleichem Bildungs- und Erfahrungsstand hätte sich deshalb bei entsprechender Sach- und Rechtslage eines Rechtsanwalts bedient.

12 Die Antragstellerin beantragt,
festzustellen, dass die Hinzuziehung eines Bevollmächtigten bei der Beschwerde vom 7. Januar 2010 gegen die Ablösung vom Lehrgang „Aufbauausbildung Einsatzvorbereitende Ausbildung für Konfliktverhütung und Krisenbewältigung im Zentralen Sanitätsdienst der Bundeswehr“ notwendig war.

13 Der Bundesminister der Verteidigung beantragt,
den Antrag zurückzuweisen.

14 Zur Begründung verweist er auf die Gründe seines Beschwerdebescheids vom 20. August 2010. Im Übrigen seien die Hinweise der Antragstellerin auf ihre Unkenntnis nicht verständlich. Jeder Soldat werde über sein Wehrbeschwerderecht unterrichtet. Die Antragstellerin, die im vierten Dienstjahr stehe, habe zumindest wissen müssen, dass die weitere Beschwerde der Überprüfung der Stelle diene, die den Beschwerdebescheid erlassen habe. Ein Detailwissen werde von ihr nicht verlangt. Es dürfe aber unterstellt werden, dass ihr der im Beschwerderecht geltende Untersuchungsgrundsatz bekannt sei, so dass zur Begründung der weiteren Beschwerde ihr Vorbringen aus der Erstbeschwerde ausreichend gewesen wäre, wie dies im Übrigen auch geschehen sei.

15 Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts wird auf den Inhalt der Akten Bezug genommen. Die Beschwerdeakte des Bundesministers der Verteidigung - PSZ I 7 - Az.: ... - und die Personalgrundakte der Antragstellerin haben dem Senat bei der Beratung vorgelegen.

II

16 Der Antrag auf gerichtliche Entscheidung, über den der Senat gemäß § 16a Abs. 5 Satz 3 und 4 WBO in der Besetzung ohne ehrenamtliche Richter entscheidet (vgl. Beschluss vom 28. September 2009 - BVerwG 1 WB 31.09 - Buchholz 450.1 § 16a WBO Nr. 1 = NZWehrr 2010, 38), hat Erfolg. Die Hinzuziehung eines Bevollmächtigten durch die Antragstellerin im vorgerichtlichen Verfahren war notwendig (§ 16a Abs. 3 und 4 WBO).

17 Die Vorschrift des § 16a Abs. 3 WBO, wonach die Vergütung eines Rechtsanwalts oder eines sonstigen Bevollmächtigten nur dann erstattungsfähig ist, wenn die Hinzuziehung notwendig war, ist - wie § 16a WBO insgesamt - durch Art. 5 Nr. 12 des Gesetzes zur Änderung wehrrechtlicher und anderer Vorschriften (Wehrrechtsänderungsgesetz 2008 - WehrRÄndG 2008) vom 31. Juli 2008 (BGBl I S. 1629) in die Wehrbeschwerdeordnung eingefügt worden und am 1. Februar 2009 in Kraft getreten (Art. 18 Abs. 2 WehrRÄndG 2008).

18 § 16a Abs. 2 und 3 WBO soll ausweislich der Gesetzesbegründung die Rechte der Soldatinnen und Soldaten stärken, indem die im vorgerichtlichen Beschwerdeverfahren entstandenen notwendigen Aufwendungen bei erfolgreicher Beschwerde „in Angleichung an das verwaltungsgerichtliche Vorverfahren“ erstattet werden (vgl. BTDrucks 16/7955 S. 35 zu Nr. 12). Nach Wortlaut und Zweck entspricht § 16a Abs. 3 WBO damit den Regelungen der § 80 Abs. 2 VwVfG und § 162 Abs. 2 Satz 2 VwGO, so dass sich die hierzu entwickelten Grundsätze auf die Auslegung und Anwendung von § 16a Abs. 3 WBO übertragen lassen (vgl. Beschluss vom 8. Dezember 2009 - BVerwG 1 WB 61.09 - Buchholz 450.1 § 16a WBO Nr. 2 = NZWehrr 2010, 123).

19 Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts zu § 80 Abs. 2 VwVfG und § 162 Abs. 2 Satz 2 VwGO ist die Notwendigkeit der Hinzuziehung eines Bevollmächtigten im Vorverfahren unter Würdigung der jeweiligen Verhältnisse vom Standpunkt einer verständigen Partei aus zu beurteilen. Maßgebend ist, ob sich ein vernünftiger Bürger mit gleichem Bildungs- und Erfahrungsstand bei der gegebenen Sachlage eines Rechtsanwalts oder sonstigen Bevollmächtigten bedient hätte. Notwendig ist die Zuziehung eines Rechtsanwalts dann, wenn es der Partei nach ihren persönlichen Verhältnissen und wegen der Schwierigkeit der Sache nicht zuzumuten war, das Vorverfahren selbst zu führen (vgl. Beschlüsse vom 21. August 2003 - BVerwG 6 B 26.03 - Buchholz 316 § 80 VwVfG Nr. 51 und vom 1. Februar 2007 - BVerwG 6 B 85.06 - Buchholz 316 § 80 VwVfG Nr. 52, jeweils m.w.N.; ähnlich Beschluss vom 11. Dezember 2008 - BVerwG 2 C 124.07 -). Aus dem Begriff der „Notwendigkeit“ der Zuziehung eines Rechtsanwalts folgt nicht, dass die Erstattungsfähigkeit im Vorverfahren eine Ausnahme bleiben müsste; der Gesetzeswortlaut gibt für eine solche Einschränkung keinen Anhaltspunkt (vgl. Beschluss vom 24. Mai 2000 - BVerwG 7 C 8.99 - Buchholz 428 § 38 VermG Nr. 5).

20 Nach diesen Maßstäben kann die Antragstellerin im vorliegenden Fall die Erstattung der Vergütung des von ihr hinzugezogenen Rechtsanwalts verlangen.

21 Zwar sprechen gegen die Notwendigkeit der Hinzuziehung eines Bevollmächtigten im vorgerichtlichen Verfahren die vom Bundesminister der Verteidigung herausgestellten Gesichtspunkte, dass das Beschwerdebegehren (auch) Tatsachenfragen betrifft, zu denen sich die Antragstellerin selbständig äußern konnte, und dass die für die rechtliche Beurteilung maßgeblichen Vorschriften vergleichsweise bekannt und unschwer zugänglich sind. Andererseits zeigen nicht zuletzt die Gründe des Beschwerdebescheids vom 20. August 2010, dass der Schwerpunkt des Beschwerdebegehrens weniger im Tatsächlichen als vielmehr in der rechtlichen Würdigung eines nicht vollständig aufklärbaren Sachverhalts liegt und auch die richtige Handhabung der die vorzeitige Ablösung von einem Lehrgang betreffenden Vorschriften (bis hin zur Zuständigkeit für die Bescheidung einer dagegen gerichteten Beschwerde) sich offenbar nicht ohne Weiteres von selbst erschließt. Hinzu kommt die auch vom Bundesminister der Verteidigung eingeräumte Bedeutung des Falls, unabhängig davon, dass sich letztlich keine dauerhaften negativen Auswirkungen für die Antragstellerin ergeben haben.

22 Ob die Antragstellerin vor diesem Hintergrund bereits von Beginn an mit dem Anspruch auf Kostenerstattung einen Bevollmächtigten hätte hinzuziehen können, bedarf indes keiner Entscheidung, weil die Antragstellerin das Beschwerdeverfahren bis zum Erlass des Beschwerdebescheids des Kommandeurs des Lazarettregiments ... vom 27. Januar 2010 selbst betrieben und erst zur Einlegung und Begründung der weiteren Beschwerde einen Rechtsanwalt beauftragt hat. Die Antragstellerin hat damit die naheliegenden und ihr zumutbaren Schritte selbst unternommen und sich erst, als diese ohne Erfolg blieben, professioneller Hilfe bedient. Spätestens nach Zurückweisung der Beschwerde durch den Kommandeur des Lazarettregiments ... stellte sich dann allerdings die Hinzuziehung eines Bevollmächtigten als notwendig im Sinne von § 16a Abs. 3 WBO dar. Diese Notwendigkeit wird nicht durch den Einwand des Bundesministers der Verteidigung in Frage gestellt, der bevollmächtigte Rechtsanwalt habe im Wesentlichen nur diejenigen Gesichtspunkte vorgetragen, die die Antragstellerin bereits selbst in ihrer Beschwerde angesprochen habe. Gerade weil die Antragstellerin bereits alle ihr zu Gebote stehenden Möglichkeiten des Sachvortrags ausgeschöpft hatte und ihre Beschwerde gleichwohl zunächst zurückgewiesen wurde, war für sie nicht mehr ersichtlich, wie sie nach ihrem Kenntnis- und Erfahrungsstand das Verfahren noch zu ihren Gunsten hätte beeinflussen können; unter diesen Umständen entspricht die Beauftragung eines Rechtsanwalts der Vorgehensweise eines „vernünftigen Bürgers“ bzw. Soldaten. Insofern verfängt schließlich auch der Hinweis des Bundesministers der Verteidigung auf den das Beschwerdeverfahren beherrschenden Untersuchungsgrundsatz nicht; denn dieser Grundsatz galt auch bereits für die Beschwerdeentscheidung des Kommandeurs des Lazarettregiments ...

23 Die Kostenentscheidung für das gerichtliche Antragsverfahren beruht auf § 21 Abs. 2 Satz 1 i.V.m. § 20 Abs. 1 Satz 1 WBO.