Beschluss vom 18.07.2024 -
BVerwG 7 B 29.23ECLI:DE:BVerwG:2024:180724B7B29.23.0

  • Zitiervorschlag

    BVerwG, Beschluss vom 18.07.2024 - 7 B 29.23 - [ECLI:DE:BVerwG:2024:180724B7B29.23.0]

Beschluss

BVerwG 7 B 29.23

  • OVG Berlin-Brandenburg - 07.06.2023 - AZ: 3a A 56/23

In der Verwaltungsstreitsache hat der 7. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
am 18. Juli 2024
durch den Präsidenten des Bundesverwaltungsgerichts Prof. Dr. Korbmacher, den Richter am Bundesverwaltungsgericht Dr. Günther und
die Richterin am Bundesverwaltungsgericht Bähr
beschlossen:

  1. Die Beschwerde der Klägerin gegen die Nichtzulassung der Revision in dem Urteil des Oberverwaltungsgerichts Berlin-Brandenburg vom 7. Juni 2023 wird zurückgewiesen.
  2. Die Klägerin trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens einschließlich der außergerichtlichen Kosten der Beigeladenen.
  3. Der Wert des Streitgegenstandes wird für das Beschwerdeverfahren auf 15 000 € festgesetzt.

Gründe

I

1 Die Klägerin wendet sich gegen eine immissionsschutzrechtliche Genehmigung für die Errichtung und den Betrieb einer Windkraftanlage, die der Rechtsvorgängerin der Beigeladenen erteilt wurde. Die geplante Anlage soll in einer Entfernung von 437 m bzw. 852 m zu den beiden von der Klägerin betriebenen Windenergieanlagen errichtet werden.

2 Die Klägerin macht unter anderem geltend, dass für das Vorhaben eine UVP-Pflicht bestehe. Es bestünden Anhaltspunkte dafür, dass das Tötungsrisiko für Fledermäuse signifikant erhöht sei. Der Beklagte sei fehlerhaft davon ausgegangen, dass eine Standortverschiebung der genehmigten Windenergieanlage nicht möglich sei. Die Standsicherheit ihrer Bestandsanlagen sei nicht gewährleistet.

3 Das Oberverwaltungsgericht hat die Klage abgewiesen. Die naturschutzfachliche Einschätzung des Beklagten, dass die in der Nebenbestimmung zur Genehmigung verfügten Abschaltzeiten der Windkraftanlage das Kollisions- und Tötungsrisiko für Fledermäuse in ihrem Flugkorridor hinreichend reduzieren, sei nicht zu beanstanden. Die Genehmigung genüge auch den Anforderungen an die Standsicherheit von Windkraftanlagen. Das von der Beigeladenen im Genehmigungsverfahren vorgelegte Standorteignungsgutachten halte der rechtlichen Prüfung stand. Die Revision gegen sein Urteil hat das Oberverwaltungsgericht nicht zugelassen. Hiergegen richtet sich die Beschwerde der Klägerin.

II

4 Die auf die Zulassungsgründe der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache (§ 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO) und der Verfahrensmängel (§ 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO) gestützte Beschwerde ist unbegründet.

5 1. Aus dem Vorbringen der Klägerin ergibt sich nicht das Vorliegen eines Verfahrensmangels im Sinne des § 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO, auf dem das angegriffene Urteil beruhen kann.

6 a) Nach § 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO entscheidet das Gericht nach seiner freien, aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens gewonnenen Überzeugung. Eine willkürliche Sachverhaltswürdigung - in Gestalt der Aktenwidrigkeit oder einer Verletzung von Denkgesetzen - liegt schon deswegen nicht vor, weil das Oberverwaltungsgericht die von der Klägerin behauptete Feststellung, "dass Fledermausflugrouten nicht zu Fledermauslebensräumen gehören und somit von ... fehlenden erheblichen Umweltauswirkungen" ausgehe, nicht getroffen hat. Ob die Vorinstanz Seite 8 des "Prüfvermerks UVP-VP" des Beklagten, der dem Senat nicht vorliegt, zutreffend dahin interpretiert hat, dass dort zwischen Fledermauslebensräumen und Flugkorridoren differenziert werde, ist nicht maßgebend. Entscheidend ist, dass sowohl der Beklagte als auch das Oberverwaltungsgericht tragend auf die Abschaltvorgaben in der Nebenbestimmung zur Genehmigung abgestellt haben. Aufgrund dieser Vermeidungsmaßnahme durfte der Beklagte nach Auffassung des Oberverwaltungsgerichts davon ausgehen, dass ein signifikant erhöhtes Kollisionsrisiko für Fledermäuse verneint werden kann (UA S. 10). Darauf, ob Fledermausrouten zu den Lebensräumen dieser Tiere gehören, kam es mithin nicht entscheidungserheblich an.

7 b) Angesichts dessen, dass die vorgegebenen Abschaltzeiten der Anlage 3 zum Windkrafterlass des Ministeriums für Umwelt, Gesundheit und Verbraucherschutz des Landes Brandenburg vom 1. Januar 2011 entsprechen, musste sich dem Oberverwaltungsgericht jedenfalls bei der hier nur vorzunehmenden Plausibilitätsprüfung auch eine weitere Sachverhaltsaufklärung (§ 86 Abs. 1 VwGO) nicht aufdrängen. Eine generelle Aussage, wonach der im Brandenburger Windkrafterlass genannte Zeitraum von Mitte Juli bis Mitte September zu kurz greife, lässt sich dem von der Klägerin angeführten Beschluss des Oberverwaltungsgerichts Berlin-Brandenburg vom 28. September 2020 - 11 N 39/17 - (juris Rn. 35 ff.) nicht entnehmen. Vielmehr wurde dort die vom Verwaltungsgericht Berlin angenommene Einschätzungsprärogative der Behörde nicht beanstandet. Substantiierte Bedenken gegen die im Genehmigungsbescheid verfügten Abschaltzeiten hat die Klägerin im erstinstanzlichen Verfahren nicht vorgetragen.

8 c) Es liegt auch kein Verstoß gegen das Recht auf Gewährung rechtlichen Gehörs (Art. 103 Abs. 1 GG, § 108 Abs. 2 VwGO) vor. Die Beschwerde rügt, das Oberverwaltungsgericht habe sich mit dem Vortrag der Klägerin zur Verschiebbarkeit der Windkraftanlage gar nicht befasst. Die Klägerin habe in der Vorinstanz substantiiert zu den Möglichkeiten hierzu vorgetragen. Dieses Vorbringen führt nicht auf einen Gehörsverstoß. Aus der Begründung des angegriffenen Urteils ist vielmehr ersichtlich, dass sich das Oberverwaltungsgericht mit dem Vorbringen der Klägerin zu Standortalternativen befasst hat (UA S. 10, 12 f.). Die Vorinstanz ist lediglich der Auffassung der Klägerin nicht gefolgt, wonach es auf die "Verschiebbarkeit" der Windenergieanlage der Beigeladenen ankomme. Gleiches gilt für die Einschätzung des Beklagten, nach der bereits durch die Einhaltung der Abschaltzeiten eine signifikante Erhöhung des Kollisionsrisikos von Fledermäusen vermieden werde. Dies hat das Oberverwaltungsgericht für plausibel gehalten. Die Voraussetzungen für die Abweichungsentscheidung hat die Vorinstanz im Hinblick auf die nachbarlichen Interessen der Klägerin als erfüllt angesehen, und sodann ein intendiertes Ermessen angenommen. Ein Gehörsverstoß folgt daraus gerade nicht.

9 d) Ein Verfahrensmangel liegt auch nicht deshalb vor, weil das Oberverwaltungsgericht hätte Beweis zu der Frage der Standsicherheit der Bestandsanlage der Klägerin durch Einholung eines gerichtlichen Sachverständigengutachtens erheben müssen oder es die Äußerungen des in der mündlichen Verhandlung für die Klägerin erschienenen Herrn S." aus willkürlichen Erwägungen nicht gewürdigt" hat.

10 aa) Die Aufklärungsrüge stellt kein Mittel dar, um Versäumnisse eines Verfahrensbeteiligten in der Tatsacheninstanz, vor allem das Unterlassen der Stellung von Beweisanträgen, zu kompensieren (BVerwG, Beschluss vom 18. Dezember 2006 - 4 BN 30.06 - NVwZ-RR 2007, 285 Rn. 2). Die Klägerin hat ausweislich des Verhandlungsprotokolls des Oberverwaltungsgerichts keinen Beweisantrag gestellt. Ein lediglich schriftsätzlich angekündigter Beweisantrag genügt hierfür nicht (vgl. BVerwG, Beschluss vom 6. März 1995 - 6 B 81.94 - Buchholz 310 § 86 Abs. 1 VwGO Nr. 265 S. 9). Eine Aufklärungsrüge kann dann nur Erfolg haben, wenn dargelegt wird, dass sich dem Gericht die bezeichneten Ermittlungen auch ohne ein solches Hinwirken von sich aus hätten aufdrängen müssen (stRspr, vgl. BVerwG, Beschluss vom 19. Oktober 2022 - 7 B 19.21 - NVwZ-RR 2023, 95 Rn. 22 m. w. N.). Dem wird die Beschwerde nicht gerecht.

11 Liegen − wie hier − bereits Gutachten zu entscheidungserheblichen Tatsachen vor, steht es nach § 98 VwGO in entsprechender Anwendung des § 412 Abs. 1 ZPO im Ermessen des Tatsachengerichts, ob es zusätzliche Sachverständigengutachten einholt. Das Tatsachengericht kann sich dabei ohne Verstoß gegen seine Aufklärungspflicht auf Gutachten oder gutachterliche Stellungnahmen stützen, die eine Behörde im Verwaltungsverfahren eingeholt hat (stRspr, vgl. nur BVerwG, Beschluss vom 28. Juli 2022 - 7 B 15.21 - NVwZ 2022, 1634 Rn. 25 m. w. N.). Angezeigt ist eine entsprechende Anwendung des § 412 ZPO auch dann, wenn ein Gutachten einem behördlich veranlassten Gutachten gleichzustellen ist. Dies ist bei den im immissionsschutzrechtlichen Genehmigungsverfahren vom Vorhabenträger eingereichten Gutachten der Fall (vgl. BVerwG, Beschluss vom 28. Juli 2022 - 7 B 15.21 - NVwZ 2022, 1634 Rn. 25; Rudisile/‌Ulrich, in: Schoch/Schneider, VwGO, Stand Januar 2024, § 98 Rn. 182).

12 Ein Verfahrensmangel liegt in dieser Situation nur dann vor, wenn sich dem Tatsachengericht die Einholung eines weiteren Gutachtens hätte aufdrängen müssen, weil die vorliegenden Gutachten ungeeignet sind, ihm die für die richterliche Überzeugungsbildung notwendigen Grundlagen zu vermitteln. Dies ist im allgemeinen der Fall, wenn das vorliegende Gutachten auch für den nicht Sachkundigen erkennbare Mängel aufweist, etwa nicht auf dem allgemein anerkannten Stand der Wissenschaft beruht, von unzutreffenden tatsächlichen Voraussetzungen ausgeht, unlösbare inhaltliche Widersprüche enthält oder Anlass zu Zweifeln an der Sachkunde oder Unparteilichkeit des Sachverständigen gibt, ein anderer Sachverständiger über neue oder überlegene Forschungsmittel oder größere Erfahrung verfügt oder wenn das Beweisergebnis durch substantiierten Vortrag eines der Beteiligten oder durch eigene Überlegungen des Gerichts ernsthaft erschüttert wird. Die Verpflichtung zur Ergänzung des Gutachtens folgt nicht schon daraus, dass ein Beteiligter dieses als Erkenntnisquelle für unzureichend hält (stRspr, vgl. BVerwG, Beschluss vom 28. Juli 2022 ‌- 7 B 15.21 - NVwZ 2022, 1634 Rn. 26 m. w. N.). Nach Maßgabe dieser Grundsätze musste sich dem Oberverwaltungsgericht angesichts des Standorteignungsgutachtens und des Plausibilitätsgutachtens des TÜV Nord die Einholung weiterer Gutachten nicht aufdrängen. Mit den Einwänden der Klägerin hiergegen hat sich die Vorinstanz umfassend auseinandergesetzt. Sie ist ihnen nur lediglich in der Sache nicht gefolgt. Dies vermag einen Verfahrensmangel nicht zu begründen.

13 bb) Schließlich hat das Oberverwaltungsgericht den in Begleitung der Prozessbevollmächtigten der Klägerin erschienenen Herrn S. in der mündlichen Verhandlung angehört und seinen Vortrag in dem angegriffenen Urteil gewürdigt (UA S. 15). Dass die Vorinstanz der Einschätzung der Klägerin nicht gefolgt ist, stellt keinen Verstoß gegen Art. 103 Abs. 1 GG, § 108 Abs. 2 VwGO, sondern eine materiell-rechtliche Würdigung dar.

14 2. Die Rechtssache hat nicht die ihr von der Klägerin beigemessene grundsätzliche Bedeutung.

15 Grundsätzlich bedeutsam im Sinne von § 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO ist eine Rechtssache dann, wenn in dem angestrebten Revisionsverfahren die Klärung einer bisher höchstrichterlich ungeklärten, in ihrer Bedeutung über den der Beschwerde zugrundeliegenden Einzelfall hinausgehenden, klärungsbedürftigen und entscheidungserheblichen Rechtsfrage des revisiblen Rechts (§ 137 Abs. 1 VwGO) zu erwarten ist. In der Beschwerdebegründung muss gemäß § 133 Abs. 3 Satz 3 VwGO dargelegt werden, dass und inwiefern diese Voraussetzungen vorliegen (stRspr, vgl. BVerwG, Beschluss vom 28. Juli 2022 - 7 B 15.21 - NVwZ 2022, 1634 Rn. 7). Diese Voraussetzungen sind hier nicht erfüllt.

16 Die von der Klägerin für grundsätzlich bedeutsam erachtete Frage,
"wem die Darlegungslast für einen Nutzungs- und Strukturwandel oder wesentliche Veränderungen von Standortbedingungen obliegt, wenn die Daten ökologischer Bestandserfassungen veraltet sind",
ist aus mehreren Gründen nicht entscheidungserheblich.

17 a) Das Oberverwaltungsgericht hat im Rahmen der Plausibilitätskontrolle der UVP-Vorprüfung nach § 5 Abs. 3 Satz 2 UVPG, bei der die von der Behörde für ihr Prüfergebnis gegebene Begründung zugrunde zu legen ist (vgl. BVerwG, Urteil vom 20. Dezember 2011 - 9 A 31.10 - BVerwGE 141, 282 Rn. 29), nicht angenommen, dass die Erfassungen des Fledermausvorkommens vom 4. Mai bis zum 13. Oktober 2015 in dem zugrunde gelegten Fachbeitrag vom 7. Januar 2016 veraltet seien. Vielmehr verweist die Vorinstanz auf obergerichtliche Rechtsprechung, wonach auch bei einem Alter der Erfassungsdaten von sechs bis sieben Jahren noch von deren Gültigkeit ausgegangen werden kann, wenn kein Nutzungs- und Strukturwandel stattgefunden hat und auch sonst keine wesentliche Veränderung der Standortbedingungen eingetreten ist (UA S. 10; vgl. auch BVerwG, Urteil vom 6. Oktober 2022 - 7 C 4.21 - BVerwGE 176, 313 Rn. 20 zur Bestandserfassung für die artenschutzrechtliche Prüfung). Auch auf die Darlegungslast kommt es vorliegend nicht an, weil das Oberverwaltungsgericht hierzu ausgeführt hat, dass für eine wesentliche Veränderung der Standortbedingungen nichts dargetan oder ersichtlich sei, und damit offensichtlich auch insoweit von dem im Verwaltungsprozess grundsätzlich herrschenden Amtsermittlungsgrundsatz (§ 86 Abs. 1 Satz 1 VwGO) ausgeht.

18 b) Abgesehen davon hat das Oberverwaltungsgericht selbständig tragend die Feststellung des Beklagten herangezogen, wonach das Vorhaben wegen der Nebenbestimmung Nr. 6.4 zur immissionsschutzrechtlichen Genehmigung vom 6. April 2021 keine erheblichen nachteiligen Umweltauswirkungen (vgl. § 7 Abs. 1 Satz 3 UVPG) auf Fledermäuse haben könne. Nach dieser Nebenbestimmung ist die genehmigte Windkraftanlage der Beigeladenen im Zeitraum vom 15. Juli bis 15. September bei Windgeschwindigkeiten in Gondelhöhe unterhalb von 5,0 m/s und bei einer Lufttemperatur von 10°C im Windpark ohne Niederschlag eine Stunde vor Sonnenuntergang bis eine Stunde vor Sonnenaufgang abzuschalten. Das Oberverwaltungsgericht geht davon aus, dass die Annahme des Beklagten, dem Schutz der Fledermäuse werde durch die vorgegebene Abschaltung der Anlage hinreichend Rechnung getragen, auch dann plausibel sei, wenn das Gutachten vom 7. Januar 2016 als veraltet zu bewerten wäre (UA S. 10).

19 Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2, § 162 Abs. 3 VwGO. Die Festsetzung des Streitwerts beruht auf § 47 Abs. 1 Satz 1 und 3, § 52 Abs. 1 GKG.