Urteil vom 17.12.2024 -
BVerwG 9 C 2.23ECLI:DE:BVerwG:2024:171224U9C2.23.0

  • Zitiervorschlag

    BVerwG, Urteil vom 17.12.2024 - 9 C 2.23 - [ECLI:DE:BVerwG:2024:171224U9C2.23.0]

Urteil

BVerwG 9 C 2.23

  • VG Gera - 06.06.2012 - AZ: 2 K 900/11 Ge
  • OVG Weimar - 17.05.2023 - AZ: 4 KO 590/22

In der Verwaltungsstreitsache hat der 9. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
am 17. Dezember 2024
durch die Vorsitzende Richterin am Bundesverwaltungsgericht Prof. Dr. Bick, die Richter am Bundesverwaltungsgericht Steinkühler und Dr. Martini sowie
die Richterinnen am Bundesverwaltungsgericht Sieveking und
Prof. Dr. Schübel-Pfister
ohne mündliche Verhandlung für Recht erkannt:

  1. Die Revision des Beklagten gegen das Urteil des Oberverwaltungsgerichts Weimar vom 17. Mai 2023 wird zurückgewiesen.
  2. Der Beklagte trägt die Kosten des Revisionsverfahrens.

Gründe

I

1 Die Klägerin wendet sich gegen die Heranziehung zu einem Herstellungsbeitrag für eine öffentliche Entwässerungseinrichtung.

2 Sie ist Eigentümerin eines Grundstücks, das an die von dem Beklagten betriebene Entwässerungseinrichtung angeschlossen ist. Für dieses setzte der Beklagte mit Bescheid vom 13. Mai 1998 einen Herstellungsbeitrag in Höhe von 16 150,08 DM (= 8 257,40 €) fest. Das Thüringer Landesverwaltungsamt wies den hiergegen erhobenen Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 6. Juni 2000 zurück. Hiergegen erhob die Klägerin am 30. Juni 2000 Klage vor dem Verwaltungsgericht.

3 Nachdem das Thüringer Oberverwaltungsgericht mit Urteilen vom 18. Dezember 2000 und vom 21. Juni 2006 die Beitrags- und Gebührensatzung des Beklagten in den seinerzeit geltenden Fassungen für unwirksam erklärt hatte, setzte der Beklagte - jeweils nach Erlass einer neuen Satzung - den Herstellungsbeitrag zunächst mit Änderungsbescheid vom 18. Dezember 2002 auf 4 488,90 € und sodann mit 2. Änderungsbescheid vom 14. März 2008 auf 4 030,74 € fest. Am 17. Januar 2012 nahm der Beklagte den 2. Änderungsbescheid vom 14. März 2008 zurück und erließ mit gesondertem Schreiben unter demselben Datum einen 2. Änderungsbescheid, mit welchem der Herstellungsbeitrag erneut auf 4 030,74 € festgesetzt wurde. Die Klägerin führte die Klage unter Einbeziehung dieser nach Klageerhebung erlassenen Bescheide fort.

4 Mit Urteil vom 6. Juni 2012 stellte das Verwaltungsgericht fest, das Klageverfahren habe sich erledigt, soweit der Beklagte einen Betrag von mehr als 4 030,74 € festgesetzt habe, und hob im Übrigen den Bescheid vom 13. Mai 1998 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 6. Juni 2000, des Änderungsbescheids vom 18. Dezember 2002 und des 2. Änderungsbescheids vom 17. Januar 2012 mit der Begründung auf, der Beitragsteil der Beitrags- und Gebührensatzung des Beklagten sei nichtig.

5 Das Thüringer Oberverwaltungsgericht wies die von ihm zugelassene Berufung des Beklagten mit Urteil vom 17. Mai 2023 mit der Maßgabe zurück, dass es (allein) den 2. Änderungsbescheid des Beklagten vom 17. Januar 2012 aufhob. Der Beklagte stütze seine Beitragsforderung nach der Aufhebung der Vorgängerbescheide ausschließlich auf diesen Bescheid. Dieser sei allerdings kein echter Änderungsbescheid, sondern berechne den Beitrag neu und setze ihn fest. Im Zeitpunkt seines Erlasses sei jedoch die Beitragsschuld der Klägerin festsetzungsverjährt und damit erloschen gewesen. Der Lauf der Festsetzungsverjährungsfrist sei zunächst durch den Bescheid vom 14. März 2008 gewahrt und durch die Klage gehemmt worden. Die Hemmungswirkung sei aber mit Erlass des Rücknahmebescheids vom 17. Januar 2012 entfallen. Zwischen dessen und dem Erlass des Änderungsbescheids am gleichen Tag sei in einer logischen Sekunde Festsetzungsverjährung eingetreten, weil die Bescheide nicht in einem einheitlichen Schreiben enthalten gewesen seien. Das Oberverwaltungsgericht ließ die Revision wegen grundsätzlicher Bedeutung zu. Es sei zu klären, ob es mit dem Grundsatz der Belastungsgleichheit und Abgabengerechtigkeit zu vereinbaren sei, die über die Verweisungsnorm des § 15 Nr. 4 Buchst. b Doppelbuchst. bb bis dd des Thüringer Kommunalabgabengesetzes - ThürKAG - als Landesrecht entsprechend zur Anwendung kommende Bestimmung des § 171 AO im landesrechtlichen Beitragsrecht so anzuwenden, dass die Annahme eines gleichzeitigen Erlasses von Rücknahmebescheid und Neufestsetzungsbescheid ausgeschlossen sei, wenn diese nicht in einem einheitlichen Schreiben zusammengefasst seien. Gegen dieses Ergebnis spreche, dass die Festsetzungsverjährung die Befreiung von der Zahlungspflicht zur Folge habe, die bereits erfolgte gebührenmindernde Berücksichtigung der gezahlten Beiträge aber nicht nachträglich entfalle.

6 Gegen diese Entscheidung wendet sich der Beklagte mit seiner Revision. Er macht geltend, das vom Berufungsgericht gefundene Ergebnis beruhe auf einer fehlerhaften Anwendung der Auslegungsregeln als allgemeine Grundsätze des Verwaltungsrechts. Zudem sei die Festsetzungsfrist nach der entsprechend anwendbaren Bestimmung der Abgabenordnung nicht abgelaufen.

7 Der Beklagte beantragt schriftsätzlich,
das Urteil des Thüringer Oberverwaltungsgerichts vom 17. Mai 2023 - 4 KO 590/22 - insoweit abzuändern, als darin der 2. Änderungsbescheid des Beklagten vom 17. Januar 2012 aufgehoben wird, und die Klage abzuweisen.

8 Die Klägerin beantragt schriftsätzlich,
die Revision zurückzuweisen.

9 Sie verteidigt das angefochtene Urteil.

II

10 Die Revision des Beklagten, über die der Senat mit Einverständnis der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung entscheidet (§ 101 Abs. 2 i. V. m. § 141 Satz 1, § 125 Abs. 1 Satz 1 VwGO), ist zulässig, aber unbegründet. Das angefochtene Urteil beruht nicht auf der Verletzung revisiblen Rechts.

11 Die Revision kann gemäß dem hier allein in Betracht kommenden § 137 Abs. 1 Nr. 1 VwGO nur darauf gestützt werden, dass das angefochtene Urteil auf der Verletzung von Bundesrecht beruht. Das ist nicht der Fall. Die Feststellungen des Berufungsgerichts betreffen Landesrecht (1.). Eine Verletzung des allgemeinen Gleichheitssatzes (Art. 3 Abs. 1 GG) ist nicht gegeben (2.).

12 1. Das Berufungsgericht hat festgestellt, der "2. Änderungsbescheid" vom 17. Januar 2012 sei kein echter Änderungsbescheid, sondern setze den von der Klägerin geschuldeten Herstellungsbeitrag neu fest. Im Zeitpunkt seines Erlasses sei die Beitragsschuld der Klägerin gemäß § 15 Abs. 1 Nr. 4 Buchst. b Doppelbuchst. bb ThürKAG i. d. F. der Bekanntmachung vom 19. September 2000 (GVBl. S. 301) i. V. m. § 169 der Abgabenordnung (AO) festsetzungsverjährt gewesen. Die Verjährungsfrist sei durch den Erlass des Bescheids vom 14. März 2008 zunächst gewahrt und deren Ablauf durch die erhobene Klage gemäß § 15 Abs. 1 Nr. 4 Buchst. b Doppelbuchst. dd ThürKAG i. V. m. § 171 AO gehemmt worden. Mit Erlass des Rücknahmebescheids vom 17. Januar 2012 sei die Hemmungswirkung mit der Folge entfallen, dass für eine logische Sekunde Festsetzungsverjährung eingetreten sei. Ein gleichzeitiger Erlass von Rücknahme- und Neufestsetzungsbescheid sei ausgeschlossen, wenn diese nicht in einem einheitlichen Schreiben zusammengefasst seien.

13 An diese Feststellungen ist der Senat gemäß § 173 Satz 1 VwGO i. V. m. § 560 ZPO gebunden. Sie betreffen Vorschriften des Landesrechts, die nicht der revisionsgerichtlichen Prüfung unterliegen. Dies gilt nicht nur für die Bestimmungen des Thüringer Kommunalabgabengesetzes, sondern auch für die darin in Bezug genommenen Vorschriften der Abgabenordnung, und zwar unabhängig davon, ob sich die Auswirkungen der während eines schwebenden Rechtsbehelfsverfahrens erfolgten Rücknahme auf die Ablaufhemmung der Festsetzungsfrist aus § 171 AO (in diese Richtung BFH, Urteil vom 5. Oktober 2004 - VII R 18/03 - BFHE 208, 292 <295>) oder aus §§ 132, 130 Abs. 1 AO (vgl. BFH, Beschluss vom 10. Mai 2002 - VII B 244/01 - BFH/NV 2002, 1125 <1126>) ergeben. Diese finden vorliegend aufgrund des Normsetzungsbefehls des Landesgesetzgebers in § 15 Abs. 1 Nr. 3 Buchst. b, Nr. 4 Buchst. b Doppelbuchst. dd ThürKAG Anwendung. Sie wurden hierdurch in das Landesrecht inkorporiert und teilen damit dessen Rechtscharakter (vgl. BVerwG, Urteile vom 21. Mai 2003 - 9 C 12.02 - BVerwGE 118, 201 <203 f.> und vom 19. März 2009 - 9 C 10.08 - Buchholz 406.11 § 133 BauGB Nr. 135 Rn. 9; Beschluss vom 20. Oktober 2011 - 9 B 60.11 - juris Rn. 5).

14 Der Vortrag des Beklagten, die Feststellungen des Berufungsgerichts beruhten auf einer fehlerhaften Anwendung der Auslegungsregeln als allgemeinen Grundsätzen des Verwaltungsrechts, ist nicht geeignet, eine Verletzung von Bundesrecht aufzuzeigen. Auslegungsregeln und allgemeine Rechtsgrundsätze über die Auslegung von Rechtsvorschriften sind Teil des gemäß § 137 Abs. 1 VwGO revisionsgerichtlicher Prüfung grundsätzlich nicht unterliegenden Landesrechts, wenn und soweit sie - wie hier - im Rahmen von nicht revisiblem Landesrecht zur Anwendung kommen (stRspr; vgl. BVerwG, Urteil vom 18. April 2024 - 3 CN 8.22 - juris Rn. 35; Beschluss vom 30. August 1972 - 7 B 43.71 - Buchholz 310 § 137 VwGO Nr. 53). Etwas anderes gilt nur dann, wenn - wofür vorliegend Anhaltspunkte weder dargetan noch ersichtlich sind - die Auslegung offensichtlich willkürlich ist (BVerwG, Urteile vom 15. April 1988 - 7 C 125.86 - NVwZ 1989, 246 <247> und vom 15. Februar 2024 - 3 CN 16.22 - NVwZ 2024, 1174 Rn. 18; Beschluss vom 7. Januar 2008 - 9 B 81.07 - Buchholz 401.0 § 171 AO Nr. 1 Rn. 8).

15 2. Das angefochtene Urteil verletzt auch nicht Art. 3 Abs. 1 GG in seiner Ausprägung als Grundsatz der Belastungsgleichheit und Abgabengerechtigkeit.

16 Der landesrechtlichen Ausgestaltung des kommunalen Gebühren- und Beitragsrechts sind durch den Grundsatz der Belastungsgleichheit und Abgabengerechtigkeit nur sehr weite bundesrechtliche Grenzen gezogen (BVerfG, Beschlüsse vom 29. Juni 2020 - 1 BvR 1866/15 u. a. - NVwZ 2020, 1748 Rn. 12 und vom 29. Oktober 2020 - 1 BvL 7/17 - juris Rn. 20; BVerwG, Beschluss vom 20. Dezember 2023 - 9 BN 4.23 - juris Rn. 9). Das gilt auch und insbesondere für die Schaffung und Ausgestaltung von Verjährungsregelungen, zu denen die hier maßgebliche Bestimmung über die Ablaufhemmung zählt. Die Verjährung von Geldleistungsansprüchen der öffentlichen Hand soll einen gerechten Ausgleich zwischen dem berechtigten Anliegen der Allgemeinheit an der umfassenden und vollständigen Realisierung dieser Ansprüche auf der einen Seite und dem schutzwürdigen Interesse der Bürgerinnen und Bürger auf der anderen Seite bewirken, irgendwann nicht mehr mit einer Inanspruchnahme rechnen zu müssen und entsprechend disponieren zu können. Während das staatliche Interesse an der vollständigen Durchsetzung von Geldleistungspflichten vornehmlich von den Grundsätzen der richtigen Rechtsanwendung und der materiellen Gerechtigkeit (Belastungsgleichheit) sowie von fiskalischen Erwägungen getragen wird, steht dem auf Seiten der Bürger das Prinzip der Rechtssicherheit gegenüber. Es ist Aufgabe des Gesetzgebers, diese widerstreitenden Interessen durch entsprechende Gestaltung von Verjährungsbestimmungen zu einem angemessenen Ausgleich zu bringen. Dabei steht ihm ein weiter Gestaltungsspielraum zu (BVerfG, Beschlüsse vom 5. März 2013 - 1 BvR 2457/08 - BVerfGE 133, 143 Rn. 43 und 46, vom 21. Juli 2016 - 1 BvR 3092/15 - NVwZ-RR 2016, 889 Rn. 7 f. und vom 1. Juli 2020 - 1 BvR 2838/19 - NVwZ 2020, 1744 Rn. 25 f.; Urteil vom 7. April 2021 - 1 BvR 176/15 - NVwZ-RR 2021, 649 Rn. 24 und 27).

17 Verjährungsregelungen haben mithin zwangsläufig eine Einschränkung des Grundsatzes der Beitragsgerechtigkeit zur Folge. Das Ziel, im Interesse der Beitragsgerechtigkeit eine vorteilsgerechte Veranlagung aller Beitragspflichtigen zu gewährleisten, tritt insoweit schon von Verfassungs wegen hinter dem Prinzip der Rechtssicherheit zurück (BVerwG, Urteile vom 6. Oktober 2021 - 9 C 9.20 - BVerwGE 173, 324 Rn. 22 sowie - 9 C 10.20 - BVerwGE 173, 340 Rn. 30 und vom 17. Oktober 2023 - 9 CN 3.22 - BVerwGE 180, 309 Rn. 40). Nichts anderes folgt aus dem Umstand, dass die gebührenmindernde Berücksichtigung der Beiträge trotz des Erlöschens der Beitragsschuld bestehen bleibt. Dies hat zwar in den Einzelfällen, in denen die Beitragsschuld wegen des Erlasses gesonderter Rücknahme- und Änderungsbescheide in zwei Schreiben festsetzungsverjährt ist, eine zweifache Begünstigung der Anschlussnehmer (Erlöschen der Beitragsschuld bei gleichzeitiger Gebührenreduktion) zur Folge. Dies ist aber aus den dargelegten Gründen im Interesse der Gewährleistung der Rechtssicherheit gerechtfertigt.

18 3. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO.