Beschluss vom 16.06.2009 -
BVerwG 4 B 50.08ECLI:DE:BVerwG:2009:160609B4B50.08.0

Beschluss

BVerwG 4 B 50.08

  • OVG für das Land Nordrhein-Westfalen - 19.06.2008 - AZ: OVG 7 A 1969/07

In der Verwaltungsstreitsache hat der 4. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
am 16. Juni 2009
durch den Vorsitzenden Richter am Bundesverwaltungsgericht Prof. Dr. Rubel und die Richter am Bundesverwaltungsgericht Dr. Gatz und Petz
beschlossen:

  1. Die Beschwerde des Klägers gegen die Nichtzulassung der Revision in dem Urteil des Oberverwaltungsgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen vom 19. Juni 2008 wird zurückgewiesen.
  2. Der Kläger trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.
  3. Der Wert des Streitgegenstandes wird für das Beschwerdeverfahren auf 15 000 € festgesetzt.

Gründe

1 Die auf alle Zulassungsgründe des § 132 Abs. 2 VwGO gestützte Beschwerde bleibt ohne Erfolg.

2 1. Die Rechtssache hat nicht die grundsätzliche Bedeutung (§ 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO), die ihr die Beschwerde zumisst.

3 a) Als rechtsgrundsätzlich wirft der Kläger die Frage auf:
„Kommt es für die Frage, ob sich der Standort eines Vorhabens - was die Bautiefe angeht - im Rahmen der Umgebungsbebauung hält, ausschließlich darauf an, wie weit die Bebauung in der maßgeblichen Umgebung von der vorderen (Straßen-) Front gemessen in Metern in das Hintergelände vorrückt, oder kann die Ausnutzung des Hintergeländes auf bestimmten Grundstücken etwa auch durch topographische Merkmale, Verkehrswege oder andere einer Überbauung entgegenstehende Umstände begrenzt sein.“

4 Diese Frage rechtfertigt nicht die Zulassung der Revision. Sie lässt sich auf der Grundlage der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts ohne weiteres im erstgenannten Sinne beantworten. Gemäß § 34 Abs. 1 Satz 1 BauGB ist ein Vorhaben innerhalb der im Zusammenhang bebauten Ortsteile zulässig, wenn es sich auch nach der „Grundstücksfläche, die überbaut werden soll“, in die Eigenart der näheren Umgebung einfügt. In der Senatsrechtsprechung ist geklärt, dass es insoweit auf die konkrete Größe der Grundfläche des in Frage stehenden Vorhabens und auch auf seine räumliche Lage innerhalb der vorhandenen Bebauung ankommt (Beschluss vom 17. September 1985 - BVerwG 4 B 167.85 - Buchholz 406.11 § 34 BBauG Nr. 107 S. 55). Zur näheren Konkretisierung kann auf die Begriffsbestimmungen in § 23 BauNVO zur „überbaubaren Grundstücksfläche“, die wiederum gemäß § 23 Abs. 4 BauNVO auch durch Festsetzung der Bautiefe bestimmt werden kann, zurückgegriffen werden. Dieses Tiefenmaß, das die rückwärtige Bebauung in der gleichen Weise begrenzt wie eine festgesetzte hintere Baugrenze, ist gemäß § 23 Abs. 4 Satz 2 BauNVO grundsätzlich durch eine von der tatsächlichen Straßengrenze ab zu messende Maßzahl zu bestimmen (allgemeine Meinung, vgl. z.B. König, in: König/Roeser/Stock, BauNVO, 2. Aufl. 2003, Rn. 18 zu § 23 BauNVO). Der in § 23 Abs. 4 Satz 2 Halbsatz 2 BauNVO geregelte Vorbehalt („sofern im Bebauungsplan nichts anderes festgesetzt ist“) bezieht sich ersichtlich nicht auf das Erfordernis einer Maßzahlangabe, sondern trägt dem Umstand Rechnung, dass die tatsächliche Straßengrenze wegen ihrer Unregelmäßigkeiten oder vorgesehenen Veränderungen als Ausgangspunkt für die Messung der Bautiefe Schwierigkeiten bereiten oder ungeeignet sein kann (einhellige Meinung, vgl. Bielenberg, in: Ernst/Zinkahn/Bielenberg, BauGB, Rn. 34 zu § 23 BauNVO; Fickert/Fieseler, BauNVO Rn. 17 zu § 23 BauNVO). Zu Recht hat das Oberverwaltungsgericht bei der Frage, ob sich das Vorhaben des Klägers nach der Grundstücksfläche, die überbaut werden soll, in die nähere Umgebung einfügt, deshalb darauf abgehoben, „ob in der näheren Umgebung Vorbilder für die vom Kläger beabsichtigte Bautiefe von max. 40 m vorhanden sind“ (UA S. 9).

5 b) Grundsätzlich geklärt haben möchte der Kläger sinngemäß ferner, ob es für die nähere Umgebung hinsichtlich des Kriteriums der Grundstücksfläche, die überbaut werden soll, „nur auf die Bebauung entlang derselben Erschließungsstraße an(kommt)“, oder ob „die Umgebungsbebauung auch insoweit zu berücksichtigen (ist), als sie nicht Bestandteil derselben (Straßenrand-) Bebauung ist“, und ob die maßgebliche Umgebungsbebauung mit der Straßenrandbebauung des Baugrundstücks eine Einheit bilden muss. Diese Fragen lassen sich nicht im Sinne eines allgemein gültigen Rechtssatzes, sondern nur unter Berücksichtigung der jeweiligen Umstände des Einzelfalls beantworten. Berücksichtigt werden muss die Umgebung einmal insoweit, als sich die Ausführung des Vorhabens auf sie auswirken kann, und zweitens insoweit, als die Umgebung den bodenrechtlichen Charakter des Baugrundstücks prägt oder doch beeinflusst (Urteil vom 26. Mai 1978 - BVerwG 4 C 9.77 - BVerwGE 55, 369 <380>). Welcher räumliche Bereich hiernach die „nähere Umgebung“ im Sinne des § 34 Abs. 1 Satz 1 BauGB ist, lässt sich deshalb nicht schematisch, sondern nur nach der jeweiligen tatsächlichen städtebaulichen Situation bestimmen, in die das für die Bebauung vorgesehene Grundstück eingebettet ist (Beschluss vom 28. August 2003 - BVerwG 4 B 74.03 - <juris Rn. 2>).

6 c) Für grundsätzlich klärungsbedürftig hält der Kläger auch die Frage, ob „sich ein Vorhaben jedenfalls hinsichtlich ... seiner Bautiefe in die Eigenart der näheren Umgebung deshalb einfügen (kann), weil ein Kellergeschoss in dieser Bautiefe als zu berücksichtigendes Vorbild vorhanden ist“. Diese Frage lässt sich auf der Grundlage der bisherigen Senatsrechtsprechung ohne weiteres beantworten. Bei der Bestimmung des sich aus der vorhandenen Bebauung ergebenden Maßstabes ist grundsätzlich alles in den Blick zu nehmen, was in der näheren Umgebung tatsächlich vorhanden ist. Nicht jegliche vorhandene Bebauung in der näheren Umgebung bestimmt jedoch ihren Charakter. Vielmehr muss die Betrachtung auf das Wesentliche zurückgeführt werden. Es muss alles außer Acht gelassen werden, was die vorhandene Bebauung nicht prägt oder in ihr gar als Fremdkörper erscheint. Auszusondern sind hiernach auch solche bauliche Anlagen, die von ihrem quantitativen Erscheinungsbild (Ausdehnung, Höhe, Zahl usw.) nicht die Kraft haben, die Eigenart der näheren Umgebung zu beeinflussen, die der Betrachter also nicht oder nur am Rande wahrnimmt (Urteil vom 15. Februar 1990 - BVerwG 4 C 23.86 - BVerwGE 84, 322 <325> m.w.N.; stRspr). Gemessen hieran liegt es auf der Hand, dass die auf dem Grundstück des Klägers noch vorhandene Unterkellerung bei der Bestimmung der Eigenart der näheren Umgebung hinsichtlich der überbaubaren Grundstücksfläche außer Acht zu bleiben hat. Dies hat das Oberverwaltungsgericht offensichtlich für so selbstverständlich gehalten, dass es auf den im Tatbestand des Berufungsurteils dargestellten Meinungsstreit der Beteiligten hierzu in den Entscheidungsgründen gar nicht mehr zurückkommt. Die klägerseits zitierte Entscheidung (VGH München, Urteil vom 30. November 1979 - Nr. 26 II 78 - BRS 36 Nr. 129) steht dieser Auffassung nicht entgegen, weil sie sich nicht auf die Frage der Prägung der näheren Umgebung im Sinne des § 34 Abs. 1 BauGB bezieht.

7 2. Die erhobenen Divergenzrügen (§ 132 Abs. 2 Nr. 2 VwGO) greifen ebenfalls nicht durch.

8 Eine die Revision gemäß § 132 Abs. 2 Nr. 2 VwGO eröffnende Divergenz ist nur dann im Sinne des § 133 Abs. 3 Satz 3 VwGO hinreichend bezeichnet, wenn die Beschwerde einen inhaltlich bestimmten, die angefochtene Entscheidung tragenden abstrakten Rechtssatz benennt, mit dem die Vorinstanz einem (unter anderem) in der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts aufgestellten ebensolchen entscheidungstragenden Rechtssatz in Anwendung derselben Rechtsvorschrift widersprochen hat (Beschluss vom 19. August 1997 - BVerwG 7 B 261.97 - NJW 1997, 3328; stRspr). Diesen Darlegungsanforderungen genügen die Divergenzrügen des Klägers nicht.

9 a) Divergenz macht der Kläger geltend, soweit das Oberverwaltungsgericht im Berufungsurteil (UA S. 12) die Auffassung vertreten hat, dass der Kläger mit dem vollständigen Abbruch des früher vorhanden gewesenen Anbaus jede Möglichkeit der Berufung auf einen Bestandsschutz des Objekts verloren habe und dass sich der nunmehr geplante „Wiederaufbau“ als Neubau uneingeschränkt an den Maßstäben des geltenden Baurechts messen lassen müsse. Mit der Wiedergabe dieser Ausführungen benennt der Kläger keinen vom Oberverwaltungsgericht aufgestellten abstrakten Rechtssatz, sondern gibt lediglich das Ergebnis richterlicher Subsumtion wieder. Die behauptete Divergenz ist deshalb schon nicht hinreichend bezeichnet. Auch in der Sache spricht nichts für die vom Kläger behauptete Divergenz. Eine fortwirkende Berücksichtigungsfähigkeit von Altbestand ist in der Senatsrechtsprechung nämlich allein unter der Voraussetzung anerkannt, dass nach der Verkehrsauffassung mit einer Wiederbebauung (Urteile vom 12. September 1980 - BVerwG 4 C 75.77 - Buchholz 406.11 § 34 BBauG Nr. 75 S. 79 und vom 19. September 1986 - BVerwG 4 C 15.84 - BVerwGE 75, 34 <38>) oder mit der Wiederaufnahme einer gleichartigen Nutzung zu rechnen ist, etwa, indem über die Genehmigung einer Neubebauung oder einer neuen Nutzung noch ein Verwaltungsverfahren anhängig ist (Urteil vom 3. Februar 1984 - BVerwG 4 C 25.82 - BVerwGE 68, 360 <368>). Dass nach der Verkehrsauffassung mit einem alsbaldigen Wiederaufbau des früher auf dem Grundstück des Klägers vorhandenen Anbaus zu rechnen gewesen wäre, hat das Berufungsgericht indes weder für den Zeitpunkt des Teilabbruchs noch für den Zeitpunkt des vollständigen Abbruchs des ehemaligen Anbaus festgestellt.

10 b) Der Kläger macht ferner geltend, das Oberverwaltungsgericht weiche - „konkludent“ - von der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts ab, wonach sich ausnahmsweise auch ein rahmenüberschreitendes Vorhaben in die Eigenart der näheren Umgebung einfügen kann (Urteil vom 26. Mai 1978 - BVerwG 4 C 9.77 - a.a.O. S. 386); dem stelle das Berufungsgericht „die Erwägungen ... gegenüber, dass selbst wenn man davon ausginge, dass das Vorhaben des Klägers keine bodenrechtlich relevanten Spannungen bewirken würde, es nicht 'innerhalb der überbaubaren Grundstücksfläche' läge.“ Diese zitierten Textpassagen sind aus dem Zusammenhang gerissen und missverständlich und so vom Berufungsgericht auch nicht formuliert worden. Tatsächlich stehen sie - wie der Kläger selbst einräumt - in einem bauordnungsrechtlichen Kontext. „Selbst wenn man“ - so die Formulierung des Berufungsgerichts - entgegen seiner eigenen Auffassung „davon ausginge, dass das Vorhaben des Klägers keine bodenrechtlichen Spannungen bewirken würde, wäre es jedenfalls aus abstandrechtlichen Gründen unzulässig“, weil „die begünstigenden Regelungen des § 6 Abs. 1 Satz 2 BauO NRW für einen möglichen Verzicht auf die Einhaltung von Abstandsflächen ... nur für Gebäude 'innerhalb der überbaubaren Grundstücksfläche' gelten“ (UA S. 11). Das Oberverwaltungsgericht hat damit auf der Grundlage seiner Feststellung, dass sich das Vorhaben des Klägers hinsichtlich der überbaubaren Grundstücksfläche nicht im Rahmen der Umgebungsbebauung hält, die Klageabweisung auf zwei selbstständig tragende Gründe gestützt: Zum einen hat es festgestellt, dass das den vorfindlichen Rahmen überschreitende Vorhaben bauplanungsrechtlich auch nicht ausnahmsweise zulässig ist, weil bodenrechtliche Spannungen jedenfalls aufgrund der von dem Vorhaben ausgehenden Vorbildwirkung zu erwarten seien (UA S. 11). Zum anderen hat es das Vorhaben auch abstandsflächenrechtlich für unzulässig gehalten. Bei mehreren selbstständig tragenden Begründungen kann die Revision nur zugelassen werden, wenn hinsichtlich jeder dieser Begründungen ein Revisionszulassungsgrund aufgezeigt wird und vorliegt (vgl. Beschluss vom 9. Dezember 1994 - BVerwG 11 PKH 28.94 - Buchholz 310 § 132 Abs. 2 Ziff. 1 VwGO Nr. 4). Daran fehlt es hier, weil die Beschwerde den vom Oberverwaltungsgericht festgestellten Verstoß gegen Abstandsflächenvorschriften wiederum nur mit den - wie dargestellt - nicht tragfähigen Rügen zur überbaubaren Grundstücksfläche angreift. Aus diesem Grunde ist sowohl die Divergenzrüge als auch die thematisch hieran angeschlossene Grundsatzrüge nicht entscheidungserheblich, weil diese geltend gemachten Zulassungsgründe hinweggedacht werden können, ohne dass sich der Ausgang des Verfahrens ändert.

11 3. Die erhobene Verfahrensrüge (§ 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO) bleibt ebenfalls ohne Erfolg.

12 Der Kläger macht geltend, das Oberverwaltungsgericht habe, indem es den früher auf dem Grundstück des Klägers vorhandenen Anbau nur unter dem Gesichtspunkt des Bestandsschutzes, nicht aber unter dem von ihm thematisierten Gesichtspunkt der „fortwirkenden Prägung“ der näheren Umgebung thematisiert habe, das rechtliche Gehör (Art. 103 Abs. 1 GG) verletzt, sofern von einem „Übersehen“ dieses Gesichtspunkts auszugehen sei. Dass das Berufungsgericht den diesbezüglichen Vortrag des Klägers jedenfalls zur Kenntnis genommen hat, ergibt sich daraus, dass es die Auffassung des Klägers ebenso wie die vom Beklagten hierzu vertretene Gegenauffassung im Tatbestand des angegriffenen Urteils (UA S. 7) wiedergibt. Dass es sich damit in den Entscheidungsgründen rechtlich möglicherweise unter einem sachlich fehlerhaften Gesichtspunkt auseinander gesetzt hat, indem es ausdrücklich nur die Frage erörtert, ob sich der Kläger bei der Errichtung des beantragten eingeschossigen Lagerraums auf Bestandsschutz berufen kann, nicht hingegen auch die für § 34 Abs. 1 Satz 1 BauGB relevante Frage, ob die Eigenart der näheren Umgebung auch durch den früher vorhandenen Anbau geprägt ist, ist für den Erfolg der Verfahrensrüge grundsätzlich unerheblich (vgl. BGH, Urteil vom 3. November 1992 - VI ZR 362/91 - NJW 1993, 539). Im Übrigen kommt eine „fortwirkende Prägung“ der näheren Umgebung nach der Rechtsprechung des Senats - wie dargelegt - allenfalls dann in Betracht, wenn nach der Verkehrsauffassung im Zeitpunkt des Abbruchs mit einer Wiederbebauung zu rechnen ist. Tatsächliche Umstände, die hierauf hindeuten könnten, hat der Kläger in der Beschwerde nicht substantiiert benannt. Allein die Behauptung des Klägers, dass er den alten Anbau im September 2002 „zum Zwecke des Neubaus“ beseitigt habe, genügt hierfür nicht.

13 Der in diesem Zusammenhang noch angemeldete grundsätzliche Klärungsbedarf hinsichtlich der Frage, „ob eine fortprägende Wirkung im Rahmen des § 34 BauGB ... auch für einzelne Merkmale des § 34 Abs. 1 BauGB respektive für einzelne Gebäudeteile gegeben sein kann“, führt bereits deshalb nicht zur Zulassung der Revision, weil diese Frage - wie ausgeführt - nicht entscheidungserheblich ist.

14 Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO. Die Streitwertfestsetzung stützt sich auf § 47 Abs. 1 und 3, § 52 Abs. 1 GKG.