Beschluss vom 15.11.2004 -
BVerwG 7 B 56.04ECLI:DE:BVerwG:2004:151104B7B56.04.0

Beschluss

BVerwG 7 B 56.04

  • VG Berlin - 20.01.2004 - AZ: VG 9 A 107.99

In der Verwaltungsstreitsache hat der 7. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
am 15. November 2004
durch den Vorsitzenden Richter am Bundesverwaltungsgericht S a i l e r und
die Richter am Bundesverwaltungsgericht H e r b e r t und N e u m a n n
beschlossen:

  1. Die Beschwerde der Klägerin gegen die Nichtzulassung der Revision in dem Urteil des Verwaltungsgerichts Berlin vom 20. Januar 2004 wird zurückgewiesen.
  2. Die Klägerin trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens mit Ausnahme der außergerichtlichen Kosten der Beigeladenen, die diese selbst trägt.
  3. Der Wert des Streitgegenstandes wird für das Beschwerdeverfahren auf 126 882 € festgesetzt.

Die Klägerin begehrt die vermögensrechtliche Rückübertragung eines Grundstücks, das ihr Rechtsvorgänger 1964 an das Eigentum des Volkes veräußert hat. Das Verwaltungsgericht hat nach einer Beweisaufnahme über die Umstände des Verkaufs die Klage abgewiesen, weil der Rechtsvorgänger der Klägerin nicht im Sinne des § 1 Abs. 3 VermG zu dem Abschluss des Kaufvertrages genötigt worden sei. Das Verwaltungsgericht hat die Revision gegen sein Urteil nicht zugelassen.
Die hiergegen eingelegte Beschwerde der Klägerin ist unbegründet. Die geltend gemachten Zulassungsgründe liegen nicht vor.
1. Das Verwaltungsgericht ist nicht im Verständnis von § 132 Abs. 2 Nr. 2 VwGO von der Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts abgewichen, welche die Klägerin in ihrer Beschwerde bezeichnet hat.
Eine solche Abweichung liegt nur vor, wenn die angefochtene Entscheidung mit einem sie tragenden abstrakten Rechtssatz einem ebensolchen die Entscheidung tragenden Rechtssatz in einer Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts widerspricht. Eine fehlerhafte oder unterbliebene Anwendung von Rechtssätzen, die das Bundesverwaltungsgericht in seiner Rechtsprechung aufgestellt hat, erfüllt hingegen nicht die Voraussetzungen einer Zulassung wegen Divergenz.
Die Klägerin bezieht ihre Rüge auf den Begriff der Nötigung in § 1 Abs. 3 VermG, den das Bundesverwaltungsgericht in seinem Urteil vom 24. Oktober 2001 - BVerwG 8 C 32.00 - (Buchholz 428 § 1 Abs. 3 VermG Nr. 31) näher definiert hat. Sie legt aber nicht dar, dass das Verwaltungsgericht von einem abweichenden Begriff der Nötigung ausgeht. Sie behauptet nur, das Verwaltungsgericht hätte auf der Grundlage dieser Definition bei zutreffender Würdigung des Sachverhalts zu dem Ergebnis kommen müssen, dass ihr Rechtsvorgänger zum Abschluss des Kaufvertrages genötigt worden sei. Damit kann eine Divergenz nicht dargelegt werden.
2. Das angefochtene Urteil beruht nicht auf den gerügten Verfahrensmängeln im Sinne des § 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO).
a) Der Senat kann nicht feststellen, dass das Verwaltungsgericht in der mündlichen Verhandlung nicht vorschriftsmäßig besetzt war (§ 138 Nr. 1 VwGO).
Die vorschriftsmäßige Besetzung des Gerichts verlangt auch, dass der Richter die zur Ausübung des Richteramtes erforderliche Verhandlungsfähigkeit und damit auch die Fähigkeit besitzt, die wesentlichen Vorgänge der Verhandlung wahrzunehmen und sie aufzunehmen. Das wiederum setzt voraus, dass der Richter körperlich und geistig in der Lage ist, der Verhandlung in allen ihren wesentlichen Abschnitten zu folgen. Das Gericht und damit jeder einzelne Richter muss seine Überzeugung aus dem Gesamtergebnis der Verhandlung gewinnen (§ 108 Abs. 1 VwGO). Nur wenn der Richter die wesentlichen Vorgänge der Verhandlung aufgenommen hat, ist er seiner Aufgabe gewachsen, selbständig und ohne wesentliche Hilfe der anderen Richter sich sein Urteil zu bilden und so an einer sachgerechten Entscheidung mitzuwirken. Die damit gebotene Aufmerksamkeit, die ihn befähigt, der Verhandlung zu folgen und den Verhandlungsstoff sich anzueignen, fehlt einem Richter, der in der mündlichen Verhandlung eingeschlafen ist. Das gilt jedenfalls dann, wenn der Richter wesentlichen Vorgängen der Verhandlung, wie etwa einer Beweisaufnahme, nicht mehr folgen konnte (Urteil vom 31. Januar 1980 - BVerwG 3 C 118.79 - Buchholz 310 § 138 Ziff. 1 VwGO Nr. 19; Urteil vom 16. Dezember 1980 - BVerwG 6 C 110.79 - Buchholz 310 § 138 Ziff. 1 VwGO Nr. 20; Urteil vom 24. Januar 1986 - BVerwG 6 C 141.82 - Buchholz 310 § 133 VwGO Nr. 63).
Jedoch sind Zeichen einer großen Ermüdung, Neigung zum Schlaf und das Kämpfen mit dem Schlaf noch kein sicherer Beweis dafür, dass der Richter die Vorgänge in der mündlichen Verhandlung nicht mehr wahrnehmen kann. Auch das Schließen der Augen und das Senken des Kopfes auf die Brust, selbst wenn es sich nicht nur auf wenige Minuten beschränkt, beweist noch nicht, dass der Richter schläft; diese Haltung kann vielmehr auch zur geistigen Entspannung oder zu besonderer Konzentration eingenommen werden. Deshalb kann erst dann davon ausgegangen werden, dass ein Richter schläft oder in anderer Weise "abwesend" ist, wenn andere sichere Anzeichen hinzukommen, wie beispielsweise tiefes, hörbares und gleichmäßiges Atmen oder gar Schnarchen oder ruckartiges Aufrichten mit Anzeichen von fehlender Orientierung. Hochschrecken allein kann wiederum auch nur darauf schließen lassen, dass es sich um einen Sekundenschlaf gehandelt hat, der die geistige Aufnahme des wesentlichen Inhalts der mündlichen Verhandlung nicht beeinträchtigt (Urteil vom 16. Dezember 1980 - BVerwG 6 C 110.79 - Buchholz 310 § 138 Ziff. 1 VwGO Nr. 20; Beschluss vom 13. Juni 2001 - BVerwG 5 B 105.00 - Buchholz 310 § 138 Ziff. 1 VwGO Nr. 38).
Nach den eidesstattlichen Erklärungen, welche die Klägerin eingereicht hat, und den dienstlichen Äußerungen, die der Senat eingeholt hat, steht nicht fest, dass die Richterin K. während der Beweisaufnahme für einen längeren Zeitraum geistig abwesend war und das Prozessgeschehen nicht aufgenommen hat, wie die Klägerin mit ihrer Verfahrensrüge geltend gemacht hat.
Allerdings hat die vom Verwaltungsgericht vernommene Zeugin B. in ihrer eidesstattlichen Erklärung bekundet, die Richterin K. habe während der Zeugenvernehmung mit dem Schlaf gekämpft. Gegen 10.30 Uhr - die Beweisaufnahme hatte gegen 10.20 Uhr begonnen - sei ihr Kopf auf die Brust gesackt und es sei ein gleichmäßiges Atmen zu vernehmen gewesen. Die Richterin sei in der Folge mehrmals hochgeschreckt, habe völlig abwesend und orientierungslos in die Runde geblickt und sei kurz danach wieder abgesackt. Am Ende der Beweisaufnahme habe die Vorsitzende die anderen Richter gefragt, ob noch jemand Fragen habe, dabei das Schlafen der Richterin K. bemerkt und diese mehrmals unauffällig mit dem Arm angestoßen. Herr C., Zuhörer an der mündlichen Verhandlung, hat erklärt, er habe bemerkt, wie die Richterin K. schon ziemlich am Anfang der Zeugenbefragung die Augen geschlossen gehalten und den Kopf in die Hände gestützt habe. Die Hände hätten den Kopf nicht halten können, so dass der Kopf mehrere Male nach vorn gefallen sei, die Richterin dann erschreckt wach geworden sei und sich mit kleinen Augen umgesehen habe, als habe sie sich fragen wollen, wo sie sei. In ähnlicher Weise haben sich die anderen Zuhörer der mündlichen Verhandlung geäußert.
Mit Blick auf die dienstlichen Erklärungen der beteiligten Richter und der Protokollführerin sind mit diesen Bekundungen aber sichere Anzeichen für eine geistige Abwesenheit der Richterin während wesentlicher Teile der Zeugenvernehmung nicht ausreichend belegt. Vielmehr kann der Senat nur davon ausgehen, dass der von fast allen Beteiligten beobachtete Kampf der Richterin mit dem Schlaf zu einem bloß kurzfristigen Einnicken und Hochschrecken geführt hat, der die geistige Aufnahme des wesentlichen Inhalts der mündlichen Verhandlung nicht beeinträchtigt hat.
Die Richterin K. hat in ihrer dienstlichen Erklärung eingeräumt, sie sei aufgrund eines von ihr zuvor eingenommenen Medikaments müde gewesen. Sie bestätigt auch die Aussagen der Zeugin B. und der Zuhörer an der mündlichen Verhandlung insoweit, als sie infolge ihrer Müdigkeit einmal kurz eingenickt, jedoch von der Vorsitzenden angestupst worden sei. Sie hat im Übrigen aber in Abrede gestellt, dass sie während der Zeugenvernehmung über einen längeren Zeitraum geschlafen habe oder auch nur eingenickt gewesen sei. Die Vorsitzende Richterin Dr. M. hat einerseits bekundet, sie habe die Richterin K. während der Beweisaufnahme nicht im direkten Blickfeld gehabt. Sie hat andererseits für das Ende der Beweisaufnahme die anderen Aussagen dahin bestätigt, sie habe bemerkt, dass die Richterin K. die Augen geschlossen gehabt habe, als sie sich ihr zugewandt habe, um festzustellen, ob von der Richterbank noch Fragen an die Zeugin B. zu stellen gewesen seien. Sie hat nach ihrer Aussage dabei aber keine Anzeichen für eine geistige Abwesenheit der Richterin bemerkt: Sie habe sehr aufrecht gesessen; ihre Körperhaltung habe nicht darauf hingewiesen, dass sie eingeschlafen gewesen sei. Von ihr - der Vorsitzenden - angestoßen, sei die Richterin sofort zusammengezuckt und habe sie angeschaut. Von Anzeichen fehlender Orientierung ist in der Erklärung der Vorsitzenden nicht die Rede. Sie hat darüber hinaus angegeben, in der späteren Beratung hätten sich keine Anhaltspunkte dafür ergeben, dass die Richterin K. auch nur in Teilen der mündlichen Verhandlung oder der Beweisaufnahme nicht gefolgt wäre. Die Justizangestellte L., die als Protokollführerin an der mündlichen Verhandlung teilgenommen hat, hat bekundet, sie habe die meiste Zeit Blickkontakt zum Richtertisch gehabt. Gesehen hat sie nach ihrer Aussage aber nur, dass die Richterin K. kurzfristig die Augen schloss, sie jedoch sofort wieder öffnete.
b) Soweit die Klägerin eine Verletzung ihres Anspruchs auf rechtliches Gehör und einen Verstoß gegen den Überzeugungsgrundsatz des § 108 Abs. 1 VwGO geltend macht, sind diese Verfahrensfehler nicht hinreichend dargelegt (§ 133 Abs. 3 Satz 3 VwGO). Ihre Angriffe richten sich in Wahrheit gegen die Würdigung des Sachverhalts durch das Verwaltungsgericht, der sie ihre eigene Würdigung entgegensetzt. Ihre Ausführungen betreffen daher die Anwendung des materiellen Rechts. Dasselbe gilt für die Ausführungen der Klägerin zum Inhalt des irrevisiblen Verteidigungsgesetzes der DDR. Zu Unrecht macht die Klägerin dabei geltend, das Verwaltungsgericht hätte der Aussage der Zeugin schon deshalb entnehmen müssen, ihrem Rechtsvorgänger sei mit einer entschädigungslosen Enteignung gedroht worden, wenn er das Grundstück nicht veräußere, weil der Begriff der "Enteignung" in der DDR immer den Umstand der Entschädigungslosigkeit eingeschlossen habe. Eine Enteignung gegen Entschädigung habe es in der DDR nicht gegeben; nur die Inanspruchnahme von Grundstücken sei gegen Entschädigung erfolgt. Indes hatte der Begriff der Inanspruchnahme in der Rechtspraxis der DDR dieselbe Bedeutung wie der Begriff der Enteignung. Wenn dem Rechtsvorgänger mit einer "Enteignung" gedroht worden sein sollte, war damit nicht schon wegen der Wahl dieses Begriffes eine hoheitliche Entziehung des Grundstücks ohne Entschädigung gemeint.
c) Keinen Erfolg hat schließlich die Rüge der Klägerin, das Verwaltungsgericht habe gegen seine Pflicht aus § 86 Abs. 1 VwGO verstoßen, den Sachverhalt von Amts wegen aufzuklären. Die Klägerin hat schon nicht aufgezeigt, die Beiziehung welcher Unterlagen zu welcher konkreten Frage sich dem Verwaltungsgericht auch ohne hierauf gerichteten Beweisantrag hätte aufdrängen müssen.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2, § 162 Abs. 3 VwGO. Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 14 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 3, § 13 Abs. 1 Satz 1 GKG a.F.