Verfahrensinformation

wie BVerwG 5 C 27.02


Urteil vom 13.11.2003 -
BVerwG 5 C 14.03ECLI:DE:BVerwG:2003:131103U5C14.03.0

Leitsatz:

Die Fiktion eines Bekenntnisses zum deutschen Volkstum wirkt nicht über die Zeit hinaus, in der ein solches Bekenntnis für den Betreffenden mit Gefahr für Leib und Leben oder schwerwiegenden beruflichen oder wirtschaftlichen Nachteilen verbunden war.

  • Rechtsquellen
    BVFG (F. 2001) § 6 Abs. 2, § 100a

  • OVG Berlin - 04.04.2003 - AZ: OVG 6 B 15.02 -
    OVG Berlin-Brandenburg - 04.04.2003 - AZ: OVG 6 B 15.02

  • Zitiervorschlag

    BVerwG, Urteil vom 13.11.2003 - 5 C 14.03 - [ECLI:DE:BVerwG:2003:131103U5C14.03.0]

Urteil

BVerwG 5 C 14.03

  • OVG Berlin - 04.04.2003 - AZ: OVG 6 B 15.02 -
  • OVG Berlin-Brandenburg - 04.04.2003 - AZ: OVG 6 B 15.02

In der Verwaltungsstreitsache hat der 5. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
ohne mündliche Verhandlung
am 13. November 2003
durch den Vorsitzenden Richter am Bundesverwaltungsgericht Dr. S ä c k e r
und die Richter am Bundesverwaltungsgericht S c h m i d t , Dr. R o t h k e g e l ,
Dr. F r a n k e und Prof. Dr. B e r l i t
für Recht erkannt:

  1. Die Revision der Klägerin gegen das Urteil des Oberverwaltungsgerichts Berlin vom 4. April 2003 wird zurückgewiesen.
  2. Die Klägerin trägt die Kosten des Revisionsverfahrens.

I


Die im Jahre 1936 in Armenien geborene Klägerin begehrt die Erteilung einer Spätaussiedlerbescheinigung nach § 15 Abs. 1 BVFG. Ihr 1988 verstorbener Vater war armenischer Volkszugehöriger, ihre Mutter ist deutsche Volkszugehörige. Die Klägerin hatte ab 1938 mit ihrer Familie in Jerewan gelebt, dort die Schule besucht, ein Medizinstudium absolviert und war von 1960 bis zu ihrer Ausreise im Jahre 1994 in ihrem erlernten Beruf tätig gewesen. Im Jahre 1952 hatte die Klägerin einen sowjetischen Inlandspass erhalten, in welchem ihre Volkszugehörigkeit als armenisch eingetragen war. Ein 1978 ausgestellter weiterer Inlandspass enthielt dieselbe Eintragung.
Im Januar 1994 beantragte die Klägerin ihre Aufnahme in das Bundesgebiet als Spätaussiedlerin. In ihrem Antrag auf Erteilung eines Aufnahmebescheides nach § 27 BVFG bezeichnete sie sich als armenische Volkszugehörige und gab als Muttersprache Armenisch, als Umgangssprachen in der Familie Armenisch und Russisch an. Sie verstehe, spreche und schreibe die deutsche Sprache, doch werde in der Familie überhaupt nicht Deutsch gesprochen. Das deutsche Volkstum werde nicht gepflegt. Vater und Mutter hätten fließend Deutsch gesprochen und das deutsche Volkstum gepflegt.
Das Bundesverwaltungsamt lehnte den Aufnahmeantrag ab, weil die Klägerin nicht deutsche Volkszugehörige sei, bezog sie jedoch in den Aufnahmebescheid ihrer Mutter ein. Im November 1994 reiste die Klägerin gemeinsam mit Mutter und Bruder in die Bundesrepublik Deutschland ein. Ihre Mutter wurde danach als Spätaussiedlerin anerkannt, die Klägerin erhielt eine Bescheinigung als Abkömmling nach § 15 Abs. 2 BVFG.
Den Antrag der Klägerin auf Ausstellung einer Spätaussiedlerbescheinigung aus eigenem Recht nach § 15 Abs. 1 BVFG lehnte der Beklagte ab, weil die Klägerin nicht deutsche, sondern armenische Volkszugehörige sei, wie sich aus den in der Sowjetunion ausgestellten Inlandspässen ergebe.
Die nach erfolglosem Widerspruch erhobene Klage ist in beiden Instanzen erfolglos geblieben. Zur Begründung der Zurückweisung der Berufung hat das Oberverwaltungsgericht im Wesentlichen ausgeführt:
Die deutsche Volkszugehörigkeit der Klägerin sei auf der Grundlage des § 6 Abs. 2 BVFG in der Fassung des Spätaussiedlerstatusgesetzes zu beurteilen, die nach § 100a BVFG n.F. Wirkung auch für das vorliegende Verfahren habe. Es könne nicht festgestellt werden, dass die Klägerin sich bis zum Verlassen der Aussiedlungsgebiete durch eine entsprechende Nationalitätenerklärung oder auf vergleichbare Weise nur zum deutschen Volkstum bekannt habe, wie dies § 6 Abs. 2 Satz 1 BVFG n.F. voraussetze. In den der Klägerin in der Sowjetunion in den Jahren 1952 und 1978 ausgestellten Inlandspässen sei für sie jeweils die armenische Volkszugehörigkeit eingetragen; dass sie sich auf andere vergleichbare Weise nur zum deutschen Volkstum bekannt habe, behaupte die Klägerin selbst nicht. Zu Unrecht berufe sie sich auf die Fiktionsregelung des § 6 Abs. 2 Satz 5 BVFG n.F. Zwar dürfe ihr kein Nachteil daraus entstehen, dass bei der Ausstellung ihres ersten Inlandspasses im Jahre 1952 nach ihren Angaben als Volkszugehörigkeit armenisch eingetragen worden sei; zu jener Zeit wären mit einem Bekenntnis zum deutschen Volkstum für den Betreffenden zumindest schwerwiegende Nachteile verbunden gewesen. Bei der Klägerin werde daher fingiert, dass sie im Jahre 1952 ein deutsches Volkstumsbekenntnis abgegeben habe. Zu ihren Gunsten werde auch davon ausgegangen, dass dieses fiktive Bekenntnis von der Neuausstellung des Inlandspasses im Jahre 1978 mit der Eintragung "armenische Volkszugehörigkeit" unangetastet bleibe. Bis zur Aussiedlung der Klägerin im Jahre 1994 liege damit aber lediglich ein fiktives Bekenntnis zum deutschen Volkstum vor. § 6 Abs. 2 Satz 5 BVFG n.F. setze indessen weiterhin voraus, dass aufgrund der Gesamtumstände der Wille der Klägerin unzweifelhaft gewesen sei, der deutschen Volksgruppe und keiner anderen anzugehören. Dieser Wille müsse wegen der Einfügung des Wortes "nur" in § 6 Abs. 2 Satz 1 BVFG fortlaufend vorhanden gewesen sein. Selbst wenn man zu Gunsten der Klägerin ein fiktives fortlaufendes Volkstumsbekenntnis unterstelle, könne nicht festgestellt werden, dass sie den unzweifelhaften Willen gehabt habe, der deutschen Volksgruppe und keiner anderen anzugehören. Zwar hätten die Gesamtumstände im Jahre 1952 einen entsprechenden Willen der Klägerin dokumentiert. Dies gelte aber nicht für die "verfolgungs- und benachteiligungsfreien" Jahre, in denen die Klägerin unangefochten in Jerewan ihrer Berufstätigkeit nachgegangen sei; für diese spätere Zeit könnten Umstände ausgeschlossen werden, die eine positive Feststellung des Willens der Klägerin ermöglichten, nur der deutschen Volksgruppe anzugehören. In der mündlichen Verhandlung vor dem Verwaltungsgericht habe die Klägerin ausdrücklich angegeben, selbst in den achtziger Jahren nicht offen zu Markte getragen zu haben, dass sie sich als deutsche Volkszugehörige fühle. Sie habe zu keinem Zeitpunkt Anstrengungen oder Bemühungen angegeben, sich noch während des Bestehens der Sowjetunion oder danach in der selbstständigen Republik Armenien um eine Änderung der Volkstumseintragung auch nur bemüht zu haben. Nach ihren Angaben im Aufnahmeverfahren habe sie selbst deutsches Volkstum nicht gepflegt. Es gebe keine Anhaltspunkte dafür, dass diese Angaben falsch seien.
Mit der Revision, mit der sie ihr Klagebegehren weiterverfolgt, rügt die Klägerin in erster Linie eine Verletzung des § 6 Abs. 2 Satz 5 BVFG n.F. Hilfsweise macht sie geltend, sie habe auf die Anwendung der früheren Fassung der Vorschrift vertrauen dürfen, was selbst bei Annahme einer unechten Rückwirkung der gesetzlichen Neuregelung zu berücksichtigen sei. Bei Annahme echter Rückwirkung sei § 100a BVFG verfassungswidrig und müsse das alte Recht angewandt werden.
Der Beklagte tritt der Revision entgegen.
Der Vertreter des Bundesinteresses hält das angefochtene Berufungsurteil für im Ergebnis zutreffend.
Die Beteiligten sind mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden.

II


Die Revision, über die das Bundesverwaltungsgericht gemäß § 141 Satz 1 i.V.m. § 125 Abs. 1 Satz 1 und § 101 Abs. 2 VwGO ohne mündliche Verhandlung entscheiden kann, ist unbegründet und deshalb zurückzuweisen (§ 144 Abs. 2 VwGO). Das Berufungsgericht hat einen Anspruch der Klägerin auf Erteilung einer Spätaussiedlerbescheinigung nach § 15 Abs. 1 BVFG im Einklang mit dem Bundesrecht (vgl. § 137 Abs. 1 Nr. 1 VwGO) verneint.
Die Klägerin erfüllt die Voraussetzungen des § 15 Abs. 1 BVFG nicht, weil sie keine Spätaussiedlerin ist. Spätaussiedler im Sinne von § 4 BVFG können nur deutsche Volkszugehörige sein. Dies ist die Klägerin nicht.
Nach § 6 Abs. 2 BVFG in der Fassung des Gesetzes zur Klarstellung des Spätaussiedlerstatus (Spätaussiedlerstatusgesetz - SpStatG) vom 30. August 2001 (BGBl I S. 2266) - BVFG n.F. - ist, wer nach dem 31. Dezember 1923 geboren worden ist, deutscher Volkszugehöriger, wenn er von einem deutschen Staatsangehörigen oder deutschen Volkszugehörigen abstammt und sich bis zum Verlassen der Aussiedlungsgebiete durch eine entsprechende Nationalitätenerklärung oder auf vergleichbare Weise nur zum deutschen Volkstum bekannt oder nach dem Recht des Herkunftsstaates zur deutschen Nationalität gehört hat (Satz 1). Ein Bekenntnis zum deutschen Volkstum wird unterstellt, wenn es unterblieben ist, weil es mit Gefahr für Leib und Leben oder schwerwiegenden beruflichen oder wirtschaftlichen Nachteilen verbunden war, jedoch aufgrund der Gesamtumstände der Wille unzweifelhaft ist, der deutschen Volksgruppe und keiner anderen anzugehören (Satz 5). Die Klägerin erfüllt - darin sind sich die Beteiligten einig - nicht das Erfordernis eines durch eine entsprechende Nationalitätenerklärung oder auf "vergleichbare" Weise bis zum Verlassen der Aussiedlungsgebiete abgelegten deutschen Volkstumsbekenntnisses im Sinne von § 6 Abs. 2 Satz 1 BVFG n.F. Ihr steht aber auch nicht die Fiktionsregelung des § 6 Abs. 2 Satz 5 BVFG n.F. zur Seite, wonach unter bestimmten Voraussetzungen ein Bekenntnis zum deutschen Volkstum unterstellt wird.
Der Antrag der Klägerin auf Erteilung einer Bescheinigung nach § 15 Abs. 1 BVFG ist nach § 100a BVFG n.F. nach dem neuen, nach dem 7. September 2001 geltenden Recht zu bescheiden. Ein Vertrauen der Klägerin darauf, dass die deutsche Volkszugehörigkeit in diesem Verfahren nach denselben Kriterien beurteilt wird, wie sie im Zeitpunkt der Aufnahme der Klägerin in den Geltungsbereich des Gesetzes für Spätaussiedlerbewerber gegolten haben, wäre nicht schutzwürdig; denn die Klägerin ist nicht aufgrund eines Verfahrens, in dem ihre deutsche Volkszugehörigkeit geprüft und bejaht worden ist, in das Bundesgebiet aufgenommen worden, sondern aufgrund einer Einbeziehung als Angehörige eines deutschen Volkszugehörigen in den ihrer Mutter erteilten Aufnahmebescheid. Darum ist den von der Klägerin gegen die Verfassungsmäßigkeit der Übergangsregelung des § 100a BVFG unter dem Gesichtspunkt einer unzulässigen Rückwirkung vorgetragenen Bedenken nicht nachzugehen. Zugleich kann offen bleiben, ob die Fiktionsregelung des § 6 Abs. 2 Satz 5 BVFG überhaupt nach inhaltlichen Voraussetzungen und Rechtsfolgen durch das Spätaussiedlerstatusgesetz geändert worden ist.
Die Beteiligten sind vor allem unterschiedlicher Auffassung darüber, welcher Sinn und welche Bedeutung der in dem zweiten Teil des Nebensatzes des Satzes 5 ("jedoch"-Satz) in beiden Gesetzesfassungen gleichlautend enthaltenen Voraussetzung zukommt, dass "aufgrund der Gesamtumstände der Wille unzweifelhaft ist, der deutschen Volksgruppe und keiner anderen anzugehören". Auch dem ist hier nicht nachzugehen; denn auf § 6 Abs. 2 Satz 5 BVFG kann die Klägerin sich jedenfalls deshalb nicht berufen, weil die Fiktion vor dem Hintergrund der Neufassung des Satzes 1 ein Bekenntnis zum deutschen Volkstum nur für die Dauer der in Satz 5 Halbsatz 1 ("weil"-Satz) umschriebenen Gefährdungslage ersetzt und die Klägerin nach deren Ende - unstreitig - ein solches Bekenntnis nicht nachgeholt hat.
Die zeitliche Beschränkung der Fiktionswirkung des § 6 Abs. 2 Satz 5 BVFG n.F.
auf die Dauer der Gefährdungslage ergibt sich aus Folgendem:
Ein einmal abgegebenes Bekenntnis zum deutschen Volkstum wirkt im Regelfall fort und deckt darum auch Folgezeiträume ab, solange kein Gegenbekenntnis erfolgt. Für die Fiktion eines Bekenntnisses zum deutschen Volkstum gilt dies dagegen nicht. Durch die Regelung des § 6 Abs. 2 Satz 5 BVFG wird berücksichtigt, dass die Betroffenen aus Gebieten kommen, in denen es zeitweise gefährlich oder mit erheblichen persönlichen Nachteilen verbunden war, sich zum deutschen Volkstum zu bekennen, und dass deshalb bei Vorliegen der im Gesetz genannten Voraussetzungen ein solches Bekenntnis mit Außenwirkung nicht erwartet und nicht verlangt werden kann (BTDrucks 12/3212, S. 24; 12/3597, S. 53). Für eine zeitliche Erstreckung der Bekenntnisfiktion über das Ende der Gefährdungslage hinaus gibt es keine Rechtfertigung. Die durch § 6 Abs. 2 Satz 5 BVFG bewirkte Freistellung vom Erfordernis eines nach außen hervortretenden Bekenntnisverhaltens bei denjenigen, die sich einmal in derartiger Gefahr befunden haben, hätte sonst zur Folge, dass bei ihnen von dem Erfordernis, ein Bekenntnis zum deutschen Volkstum irgendwann zum Ausdruck zu bringen, überhaupt abgesehen würde, obwohl sich die Betreffenden nach dem Ende der Gefährdungslage in keiner anderen Situation befunden haben als diejenigen, für die keine Gefährdungslage bestanden hat und denen von § 6 Abs. 2 Satz 1 BVFG abverlangt wird, dass sie sich nach Erreichen der Bekenntnisfähigkeit und nicht erst kurz vor ihrer Aussiedlung (vgl. BTDrucks 12/3212, S. 23; 12/3597 S. 53) zum deutschen Volkstum bekannt haben. Berücksichtigt man bei der Auslegung des § 6 Abs. 2 Satz 5 BVFG, dass nach der Neufassung des Satzes 1 dieses Bekenntnis ein alleiniges und ausschließliches gewesen ("nur"), also nach Eintritt der Bekenntnisfähigkeit zu Gunsten der deutschen Nationalität erfolgt sein muss und in der Folge nicht mehr zu Gunsten einer anderen Nationalität abgeändert worden sein darf (s. BTDrucks 14/6310, S. 6), so ergibt sich erst recht die Notwendigkeit, dass auch derjenige, zu dessen Gunsten über das Unterbleiben eines Bekenntnisses zum deutschen Volkstum und sogar über die Ablegung eines Gegenbekenntnisses zu einem anderen Volkstum für die Dauer der Gefährdungslage hinweggesehen wird, alsbald nach deren Ende durch ein nach außen wirkendes Verhalten seinen Willen, nur dem deutschen Volkstum zuzugehören, zum Ausdruck gebracht haben muss. Dies hat die Klägerin aber - unstreitig - nicht getan. Die bloß innerlich gebliebene und erst im Zusammenhang mit der Ausreise auch nach außen manifestierte Identifikation mit dem deutschen Volkstum genügt dem Bekenntniserfordernis des Spätaussiedlerstatusgesetzes nicht.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO.