Beschluss vom 13.06.2023 -
BVerwG 4 BN 33.22ECLI:DE:BVerwG:2023:130623B4BN33.22.0
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Zitiervorschlag
BVerwG, Beschluss vom 13.06.2023 - 4 BN 33.22 - [ECLI:DE:BVerwG:2023:130623B4BN33.22.0]
Beschluss
BVerwG 4 BN 33.22
- OVG Koblenz - 11.05.2022 - AZ: 8 C 10646/21.OVG
In der Normenkontrollsache hat der 4. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
am 13. Juni 2023
durch die Vorsitzende Richterin am Bundesverwaltungsgericht Schipper
und die Richter am Bundesverwaltungsgericht Brandt und Dr. Hammer
beschlossen:
- Die Beschwerden der Antragsteller gegen die Nichtzulassung der Revision in dem aufgrund der mündlichen Verhandlung vom 11. Mai 2022 ergangenen Urteil des Oberverwaltungsgerichts Rheinland-Pfalz werden zurückgewiesen.
- Die Antragsteller tragen die Kosten des Beschwerdeverfahrens je zur Hälfte.
- Der Wert des Streitgegenstandes wird für das Beschwerdeverfahren auf 60 000 € festgesetzt.
Gründe
1 Die allein auf den Zulassungsgrund nach § 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO gestützten Beschwerden bleiben erfolglos. Soweit sie den Darlegungsanforderungen des § 133 Abs. 3 Satz 3 VwGO genügen, sind sie unbegründet.
2 Grundsätzliche Bedeutung im Sinne von § 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO hat eine Rechtssache, wenn sie eine klärungsbedürftige Rechtsfrage des revisiblen Rechts aufwirft, die in dem angestrebten Revisionsverfahren beantwortet werden kann, sofern dies über den Einzelfall hinaus zur Wahrung einer einheitlichen Rechtsprechung oder zur Fortbildung des Rechts beiträgt (stRspr, vgl. BVerwG, Beschlüsse vom 2. Oktober 1961 - 8 B 78.61 - BVerwGE 13, 90 <91> und vom 14. Oktober 2019 - 4 B 27.19 - Buchholz 406.11 § 34 BauGB Nr. 225 Rn. 4). Dem wird das Vorbringen der Antragsteller nicht gerecht.
3 1. Die Antragsteller meinen, das Oberverwaltungsgericht habe dem Umstand nicht hinreichend Rechnung getragen, dass das überplante Grundstück im Eigentum einer öffentlichen Stelle bzw. der öffentlichen Hand stehe, die damit Ziele verfolge, die den planerischen Festsetzungen zuwiderliefen. Die insoweit aufgeworfenen Fragen verhelfen der Grundsatzrüge nicht zum Erfolg.
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a) Die in Bezug auf die Ausführungen des Oberverwaltungsgerichts zu § 1 Abs. 3 Satz 1 BauGB zum Zeithorizont für die Realisierung planerischer Festsetzungen als rechtsgrundsätzlich bezeichnete Frage,
wann von einer verfrühten und damit nicht erforderlichen Planung auszugehen ist, wenn das überplante Grundstück im Eigentum der öffentlichen Hand steht,
rechtfertigt die Zulassung der Revision nicht.
5 Die Voraussetzungen, unter denen planerischen Festsetzungen wegen Vollzugsunfähigkeit die Erforderlichkeit im Sinne von § 1 Abs. 3 Satz 1 BauGB fehlt, sind, was die Beschwerde letztlich nicht verkennt, in der Rechtsprechung geklärt.
6 Ein Bebauungsplan verfehlt seinen gestalterischen Auftrag und ist folglich unwirksam, wenn seiner Verwirklichung im Zeitpunkt seines In-Kraft-Tretens dauerhafte Hindernisse tatsächlicher oder rechtlicher Art entgegenstehen. Dabei bedarf es einer von den konkreten Einzelfallumständen abhängigen Prüfung, ob die Annahme gerechtfertigt ist, dass der Bebauungsplan bzw. einzelne seiner Festsetzungen realistischerweise umgesetzt werden können; unter Umständen werden auch auf lange Dauer andere als die festgesetzten Nutzungen hingenommen. Ob angesichts von Bekundungen des Nutzungsberechtigten davon auszugehen ist, dass die Verwirklichung der Festsetzung auf Dauer ausgeschlossen erscheint, ist ebenfalls eine Frage der Einzelfallwürdigung. Verallgemeinernd lässt sich sagen, dass allein der Wille eines Grundstückseigentümers, die Realisierung einer bestimmten Festsetzung zu verhindern, regelmäßig nicht zur Rechtswidrigkeit dieser Festsetzung führt (BVerwG, Beschlüsse vom 5. November 2002 - 4 BN 8.02 - BRS 66 Nr. 54 S. 267, vom 24. Februar 2022 - 4 BN 49.21 - ZfBR 2022, 475 Rn. 4 und vom 6. Dezember 2022 - 4 BN 23.22 - juris Rn. 10, jeweils m. w. N.).
7 Einen weitergehenden fallübergreifenden Klärungsbedarf zeigen die Beschwerden mit dem Hinweis auf unterschiedliche Freiheiten und Bindungen eines privaten im Gegensatz zu einem öffentlichen Eigentümer nicht auf. Soweit sich aus für die öffentliche Hand verpflichtenden Vorgaben für die Nutzung ihrer Grundstücke ein dauerhaftes rechtliches Hindernis für die Verwirklichung planerischer Festsetzungen ergibt, ist dies nach den dargelegten Grundsätzen zu berücksichtigen.
8 Auch bei wohlwollender Würdigung des Beschwerdevorbringens ist nicht ersichtlich, dass in dieser Hinsicht eine Frage von rechtsgrundsätzlicher Bedeutung aufgeworfen wird. Es bedarf insbesondere keiner Klärung in einem Revisionsverfahren, dass sich aus thematisch einschlägigen Grundsätzen der Raumordnung auch bei inhaltlicher Abweichung für die öffentliche Stelle kein zwingendes Hindernis für die Ermöglichung einer der bauplanerischen Festsetzung entsprechenden Grundstücksnutzung ergibt. Aus der in § 4 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 ROG geregelten Bindungswirkung der Erfordernisse der Raumordnung folgt eine solche Sperre nicht. Danach sind bei raumbedeutsamen Planungen und Maßnahmen öffentlicher Stellen Ziele der Raumordnung zu beachten sowie Grundsätze und sonstige Erfordernisse der Raumordnung in Abwägungs- oder Ermessensentscheidungen zu berücksichtigen. Zwar kann die Entscheidung über die Nutzung eines eigenen Grundstücks eine raumbedeutsame Maßnahme im Sinne eines Vorhabens (§ 3 Abs. 1 Nr. 6 ROG) sein. Die öffentliche Stelle (§ 3 Abs. 1 Nr. 5 ROG) kann, sofern insbesondere die Voraussetzung der Raumbedeutsamkeit gegeben ist, insoweit dem Grunde nach Adressat der Bindungswirkung nach § 4 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 ROG sein. Diese führt jedoch bei einem Grundsatz der Raumordnung nicht zu einem unüberwindlichen rechtlichen Hindernis, sondern beschränkt sich auf ein Berücksichtigungsgebot. Im Übrigen verliert ein Grundsatz der Raumordnung seine eigenständige Bedeutung, wenn er vom zuständigen Planungsträger auf einer nachgelagerten Planungsstufe, hier dem Bebauungsplan, bei der erforderlichen Konkretisierung im Wege der Abwägung (§ 1 Abs. 7 BauGB) berücksichtigt worden ist.
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b) Die im inhaltlichen Zusammenhang mit den vorstehend wiedergegebenen Erwägungen der Antragsteller stehende, in Bezug auf das Anpassungsgebot des § 1 Abs. 4 BauGB als einer Spezialvorschrift zu § 4 Abs. 1 ROG sinngemäß als rechtsgrundsätzlich bedeutsam aufgeworfenen Frage,
ob Grundsätze der Planung, die ein im Eigentum einer öffentlichen Stelle stehendes Grundstück betreffen, wegen deren "staatstragender Stellung" den Zielen der Raumordnung gleich zu behandeln sind,
bedarf keiner Beantwortung in einem Revisionsverfahren. Sie ist angesichts des eindeutigen Normbestands ohne weiteres zu verneinen.
10 Gemäß § 1 Abs. 4 BauGB sind die Bauleitpläne den Zielen der Raumordnung anzupassen. Die Gemeinden dürfen die Ziele der Raumordnung (§ 3 Abs. 1 Nr. 2 ROG) daher je nach deren Aussageschärfe konkretisieren und ausgestalten, sich aber nicht im Wege der Abwägung über sie hinwegsetzen. An die Ziele der Raumordnung sind die örtlichen Planungsträger vielmehr strikt gebunden. Planungen, die einem geltenden Ziel der Regionalplanung widersprechen, haben sie zu unterlassen. Die in § 1 Abs. 4 BauGB nicht erwähnten Grundsätze der Raumordnung (§ 3 Abs. 1 Nr. 3 ROG) lösen diese Anpassungspflicht nicht aus (vgl. etwa BVerwG, Beschlüsse vom 14. Oktober 2020 - 4 BN 42.20 - BRS 88 Nr. 5 S. 26 f. und vom 15. Oktober 2020 - 4 BN 8.20 - BRS 88 Nr. 6 S. 28, jeweils m. w. N.). Sie sind vielmehr - nur - in die planerische Abwägung gemäß § 1 Abs. 7 BauGB einzustellen. Für eine teleologische Extension des § 1 Abs. 4 BauGB fehlt es an jeglichem Anhaltspunkt. Es versteht sich von selbst, dass eine Vielzahl von Interessen, die - auch - von öffentlichen Stellen verfolgt werden, Gegenstand von Grundsätzen der Raumordnung sein können. Der Gesetzgeber hat durch die Beschränkung des Anpassungsgebots auf die Ziele der Raumordnung in Kauf genommen, dass die Grundsätze der Raumordnung bei der Bauleitplanung im Wege der Abwägung überwunden werden können.
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2. a) Hinsichtlich der Festsetzung eines urbanen Gebiets, die das Oberverwaltungsgericht als von der Rechtsgrundlage in § 6a BauNVO gedeckt angesehen hat, möchten die Antragsteller zum einen grundsätzlich geklärt wissen,
inwieweit durch die Planung der Festsetzungen sichergestellt werden muss, dass die möglichen Nutzungsformen im urbanen Gebiet auch realisierbar sind und dabei die unmittelbare Umgebung, wie Industrie und situative Besonderheiten wie Häfen, beachtet werden.
12 Eine grundsätzliche Bedeutung ist auch bei Würdigung der weiteren Erläuterungen der Antragsteller nicht dargetan. Das urbane Gebiet dient dem Wohnen sowie der Unterbringung von Gewerbebetrieben und sozialen, kulturellen und anderen Einrichtungen, die die Wohnnutzung nicht wesentlich stören (§ 6a Abs. 1 Satz 1 BauNVO). Die Nutzungsmischung muss nicht gleichgewichtig sein (§ 6a Abs. 1 Satz 2 BauNVO). Die konkretisierte Frage, inwiefern der im Baugebiet "zurückgesetzte Typ" in den Hintergrund treten darf, d. h. unter welchen Umständen trotz des Übergewichts einer Nutzung - hier des Wohnens - noch von einer Nutzungsmischung auszugehen ist, entzieht sich einer fallübergreifenden Beantwortung. Die anschließende Frage, ob es ausreichend ist, dass der "zurückgesetzte Typ" nur zugelassen, aber "praktisch nicht umgesetzt" wird, bedarf keiner Klärung. Soweit die fehlende "praktische Umsetzung" auf dauerhafte Hindernisse tatsächlicher oder rechtlicher Art zurückzuführen ist, ist die Frage, wie oben ausgeführt, baugebietsübergreifend in dem Sinne geklärt, dass es wegen Vollzugsunfähigkeit an der Erforderlichkeit der Planung (§ 1 Abs. 3 Satz 1 BauGB) fehlt. Soweit die praktische Umsetzung aus anderen Gründen jedenfalls auf absehbare Zeit scheitert, ist das für die Prüfung einer Angebotsplanung ohne Bedeutung. Schließlich sind gerade "situative Besonderheiten wie Häfen" durch auf den Einzelfall bezogene Umstände gekennzeichnet. Im Übrigen knüpft die Frage insoweit an tatsächlichen Feststellungen an, die das Oberverwaltungsgericht bei der Auslegung des Bebauungsplans nicht getroffen hat. Eine spezifische Hafennutzung, die nach den Feststellungen des Oberverwaltungsgerichts auf den betroffenen Grundstücken ohnehin schon seit geraumer Zeit nicht mehr stattgefunden hat, ist in den Festsetzungen nicht (mehr) vorgesehen.
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b) Zum anderen erachten die Antragsteller die Fragestellung für rechtsgrundsätzlich bedeutsam,
ob das urbane Gebiet durch seinen Zweck beschränkt wird, also nur in Innenstadtbereichen und Gemengelagen Anwendung findet, und ob es "im Umkehrschluss damit verbietet", dass Außenbereiche und Neubaugebiete bzw. Gewerbe- und Industriegebiete, in denen bisher kein Wohnen zugelassen war, mittels dieses Gebietstyps überplant werden?
14 Die damit aufgeworfene (Teil-)Frage, ob Festsetzungen auf der Grundlage von § 6a BauNVO auch auf bislang unbebauten Flächen ("Außenbereiche und Neubaugebiete") getroffen werden können, ist einer Klärung in einem Revisionsverfahren nicht zugänglich, weil sie von einem Sachverhalt ausgeht, den die Vorinstanz nicht festgestellt hat. Das Oberverwaltungsgericht ist vielmehr, was die Antragsteller letztlich nicht in Zweifel ziehen, ausdrücklich davon ausgegangen, dass die Antragsgegnerin kein neues Baugebiet ausgewiesen, sondern ein bislang gewerblich genutztes Gebiet überplant hat.
15 Auch soweit die Frage entscheidungserheblich ist, legen die Antragsteller nicht substantiiert dar, dass der rechtliche Ansatz des Oberverwaltungsgerichts durchgreifenden Zweifeln begegnet und einer revisionsrechtlichen Überprüfung und Klärung bedarf.
16 Das Oberverwaltungsgericht hat - unter Bezugnahme auf obergerichtliche Rechtsprechung und Literatur - ausgeführt, die Festsetzung eines urbanen Gebiets sei zwar auf die städtische Innenentwicklung ausgerichtet, doch sei der Anwendungsbereich von § 6a BauNVO nicht auf die Überplanung bebauter Bereiche der Gemeinden beschränkt; er erfasse vielmehr auch die erstmalige Ausweisung eines Baugebiets und die Festsetzung eines solchen Gebiets am Stadtrand. Nicht zuletzt angesichts des dem Verfahren zugrundeliegenden Sachverhalts hat das Oberverwaltungsgericht damit eine Beschränkung des räumlichen Anwendungsbereichs von § 6a BauNVO auf Innenstadtlagen ebenso wie einen grundsätzlichen Ausschluss der Anwendbarkeit auf bestimmten Flächen - wie etwa bisherige Gewerbe- oder Industriegebiete - abgelehnt.
17 Die Antragsteller berufen sich für ihre abweichende Auffassung auf den Willen des Gesetzgebers, den sie im Wesentlichen der Begründung des Regierungsentwurfs (BT-Drs. 18/10942) für das Gesetz zur Umsetzung der Richtlinie 2014/52/EU im Städtebaurecht und zur Stärkung des neuen Zusammenlebens in der Stadt vom 4. Mai 2017 (BGBl. I S. 1057) entnehmen. Zwar trifft es zu, dass das urbane Gebiet danach einer Stärkung der Innenentwicklung, der Erleichterung von Nutzungsdurchmischung und der Erweiterung der planerischen Handlungsmöglichkeiten der Kommunen in innerstädtischen Gebieten dienen soll (vgl. BT-Drs. 18/10942 S. 32). Die Antragsteller legen jedoch - auch in Auseinandersetzung mit der vom Oberverwaltungsgericht in Bezug genommenen Argumentation - nicht dar, dass sich aus den Gesetzesmaterialien belastbare Anhaltspunkte für einen Willen des Gesetzgebers entnehmen lassen, den räumlichen Anwendungsbereich von § 6a BauNVO - ohne entsprechende begrenzende Merkmale im Gesetzeswortlaut, wie sie sich etwa in § 4a Abs. 1 Satz 1 BauNVO finden (vgl. Fischer, in: Brügelmann, BauGB, Stand Januar 2023, § 6a BauNVO Rn. 2) – auf innerstädtische Lagen mit einer bestimmten vorgefundenen (Misch-)Struktur, Gemengelage oder Nutzungsgeschichte zu beschränken. Den Ausführungen in der Begründung des Regierungsentwurfs zur allgemeinen Zielsetzung der Vorschrift, auf die die Antragsteller verweisen, sind solche Anhaltspunkte nicht zu entnehmen; daraus mögen sich Rückschlüsse auf den Hauptanwendungsfall des § 6a BauNVO mit bestandssichernder Tendenz entnehmen lassen, nicht aber eine strikte räumliche Begrenzung (vgl. Blechschmidt, in: Ernst/Zinkahn/Bielenberg/Krautzberger, BauGB, Stand Oktober 2022, § 6a BauNVO Rn. 18; Roeser, in: König/Roeser/Stock, BauNVO, 5. Aufl. 2022, § 6a Rn. 2 a. E.; Hornmann, in: BeckOK BauNVO, Stand 15. April 2023, § 6a Rn. 45b, 47; Bönker, in: Bönker/Bischopink, BauNVO, 2. Aufl. 2018, § 6a Rn. 2).
18 3. Die auf das in § 50 Satz 1 BImSchG verankerte Trennungsgebot bezogenen Rügen rechtfertigen ebenso wenig die Zulassung der Revision.
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a) Die als rechtsgrundsätzlich bedeutsam aufgeworfene Frage,
ob es genauer Abstandsregelungen bedarf bzw. welche Kriterien angelegt werden müssen, um bei Festsetzung des urbanen Gebiets dem Trennungsgebot des § 50 Satz 1 BImSchG Rechnung zu tragen,
bedarf keiner Klärung in einem Revisionsverfahren.
20 Welche Anforderungen das Trennungsgebot nach § 50 Satz 1 BImSchG - auch als Umsetzung von Art. 13 Abs. 2 Buchst. a der Richtlinie 2012/18/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 4. Juli 2012 zur Beherrschung der Gefahren schwerer Unfälle mit gefährlichen Stoffen, zur Änderung und anschließenden Aufhebung der Richtlinie 96/82/EG des Rates (ABl. L 197 S. 1) - Seveso-III-RL - an die planerische Bewältigung eines Zusammentreffens von Störfallbetrieben (§ 3 Abs. 5b BImSchG) einerseits und schutzbedürftigen Nutzungen andererseits (§ 3 Abs. 5d BImSchG) stellt und welche Bedeutung der Einhaltung von Abständen in diesem Rahmen zukommt, ist in der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union und des Bundesverwaltungsgerichts geklärt.
21 Danach hängt es von den Umständen des Einzelfalls ab, wann im Sinne von Art. 13 Abs. 2 Buchst. a Seveso-III-RL bzw. § 50 Satz 1 BImSchG ein angemessener Abstand eingehalten wird (EuGH, Urteil vom 15. September 2011 - C-53/10 [ECLI:EU:C:2011:585], Mücksch - Rn. 44, 50; BVerwG, Urteil vom 20. Dezember 2012 - 4 C 11.11 - BVerwGE 145, 290 Rn. 16, 18; jeweils zum inhaltsgleichen Art. 12 Abs. 1 Seveso-II-RL). Zu den bei der Bestimmung des angemessenen Abstands zu berücksichtigenden störfallspezifischen Faktoren können die Art der jeweiligen gefährlichen Stoffe, die Wahrscheinlichkeit eines schweren Unfalls in einem unter die Richtlinie fallenden Betrieb sowie die Folgen eines etwaigen Unfalls für die menschliche Gesundheit und die Umwelt, die Art der Tätigkeit der neuen Ansiedlung oder die Intensität ihrer öffentlichen Nutzung und die Leichtigkeit gehören, mit der Notfallkräfte bei einem Unfall eingreifen können. Auch technische Maßnahmen, sei es im Betriebsbereich oder außerhalb, zur Verminderung des Unfallrisikos oder zur weiteren Begrenzung möglicher Unfallfolgen können zu berücksichtigen sein (BVerwG, Urteil vom 20. Dezember 2012 - 4 C 11.11 - BVerwGE 145, 290 Rn. 18; siehe auch § 3 Abs. 5c BImSchG).
22 Wird der dergestalt bestimmte angemessene Abstand zu einem Störfallbetrieb durch eine hinzutretende schutzbedürftige Nutzung unterschritten, so folgt aus Art. 13 Abs. 2 Buchst. a Seveso-III-RL bzw. § 50 Satz 1 BImSchG nicht, dass die Neuansiedlung der schutzbedürftigen Nutzung zwingend zu untersagen ist. Die Vorschriften begründen kein striktes Verschlechterungsverbot. Vielmehr hat die zuständige Behörde unter diesen Umständen zu prüfen, ob ein Unterschreiten des angemessenen Abstands im Einzelfall vertretbar ist. Dies kommt in Betracht, wenn im Einzelfall hinreichend gewichtige andere, also nicht störfallspezifische, insbesondere soziale, ökologische und wirtschaftliche Belange für die Zulassung des Vorhabens streiten (EuGH, Urteil vom 15. September 2011 - C-53/10 - Rn. 44, 46; BVerwG, Urteil vom 20. Dezember 2012 - 4 C 11.11 - BVerwGE 145, 290 Rn. 15, 22 f.). Auch aus der Zwölften Verordnung zur Durchführung des Bundes-Immissionsschutzgesetzes (Störfall-Verordnung - 12. BImSchV) i. d. F. der Bekanntmachung vom 15. März 2017 (BGBl. I S. 483, ber. S. 3527) ergibt sich im Übrigen nach der Rechtsprechung des Senats kein Gebot zur Einhaltung eines bestimmten Abstands zwischen einem Störfallbetrieb und einer schutzbedürftigen Nutzung (vgl. BVerwG, Beschluss vom 16. Januar 2013 - 4 B 15.10 - ZfBR 2013, 363 Rn. 7).
23 Einen darüber hinausgehenden grundsätzlichen Klärungsbedarf zeigen die Antragsteller nicht auf. Dies gilt auch, soweit sie auf § 48 Abs. 1 Nr. 6 BImSchG verweisen, wonach die Bundesregierung nach Anhörung der beteiligten Kreise mit Zustimmung des Bundesrates allgemeine Verwaltungsvorschriften auch über angemessene Sicherheitsabstände gemäß § 3 Abs. 5c BImSchG erlässt. Sie legen nicht dar, dass aus der dort - wegen Art. 84 Abs. 2 GG insoweit deklaratorisch - geregelten Befugnis zum Erlass einer Verwaltungsvorschrift ("TA Abstand") zugleich eine nicht nur im öffentlichen Interesse bestehende Pflicht zu deren zeitnahen Erlass folgt (siehe etwa Thiel, in: Landmann/Rohmer, Umweltrecht, Stand Januar 2023, § 48 BImSchG Rn. 9; Jarass, BImSchG, 14. Aufl. 2022, § 48 Rn. 2; Nolte, in: Ule/Laubinger/Repkewitz, BImSchG, Stand Oktober 2019, § 48 Rn. B6).
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b) Die anschließende Frage,
ob im Hinblick auf die zu berücksichtigenden Abstände eines Plangebiets zu einem Störfallbetrieb auf die tatsächlich ausgeübten Nutzungen oder auf die generell zulässigen/genehmigten Nutzungen abzustellen ist,
führt ebenso wenig zur Zulassung der Revision. Bei der Prüfung, ob in Bezug auf alle in Betracht zu ziehenden gefährlichen Stoffe eine Unterschreitung von verallgemeinernd empfohlenen standardisierten Achtungsabständen im Rahmen einer Risikobewertung vertretbar erscheint, kann bei der Einzelfallabwägung auch die Wahrscheinlichkeit eingestellt werden, mit der mit der Handhabung des jeweiligen Stoffes zu rechnen ist. Davon ist das Oberverwaltungsgericht ausgegangen. Damit setzt sich die Beschwerdebegründung nicht auseinander.
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4. Die Revision ist schließlich nicht wegen der nachfolgend wiedergegebenen Fragen zum Verständnis unionsrechtlicher Vorschriften zuzulassen.
Stehen die Vorschriften des Unionsrechts, insbesondere Art. 9 Abs. 1 Satz 1 der Richtlinie 2007/60/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 23. Oktober 2007 über die Bewertung und das Management von Hochwasserrisiken (ABl. L 288 S. 27 - HWRL) in Verbindung mit Art. 4 Abs. 1 Buchst. a Ziff. i der Richtlinie 2000/60/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 23. Oktober 2000 zur Schaffung eines Ordnungsrahmens für Maßnahmen der Gemeinschaft im Bereich der·Wasserpolitik (ABl. L 327 S. 1 - WRRL) einer innerstaatlichen Regelung wie der Festsetzung bzw. dem Bebauungsplan Nr. 644 der Stadt Ludwigshafen am Rhein, insbesondere soweit er Wohnen in der Nähe des Oberflächengewässers Rhein und des Hafenbeckens Luitpoldhafen zulässt, entgegen, wonach die Mitgliedstaaten angemessene Maßnahmen zu treffen haben, um die Anwendung der Hochwasserrisikomanagement-Richtlinie und der Wasserrahmenrichtlinie miteinander zu koordinieren, insbesondere im Hinblick auf die Erzielung von Synergien und gemeinsamen Vorteilen im Hinblick auf das Verschlechterungsverbot des Art. 4 WRRL?
Stehen die oben genannten Vorschriften und Art. 1 HWRL den oben genannten innerstaatlichen Regelungen entgegen, wonach die Mitgliedstaaten die angemessenen Maßnahmen zu treffen haben, damit hochwasserbedingte nachteilige Folgen auf die menschliche Gesundheit, die Umwelt, das Kulturerbe und wirtschaftliche Tätigkeiten in·der Gemeinschaft verringert werden, soweit durch die oben genannte innerstaatliche Regelung Wohnen an einem Oberflächengewässer im hochwassergefährdeten Bereich an einer Stelle zugelassen wird, an der zuvor ein Wohnen nicht zulässig gewesen ist?
26 Die grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache zeigen die Antragsteller mit dem von ihnen damit erstmals im Beschwerdeverfahren in den Raum gestellten Gedanken eines dem Schutz der Bevölkerung dienenden, auf die Hochwassergefährdung bezogenen generellen Verschlechterungsverbots nicht auf. Zwar ist die Revision nach § 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO zuzulassen, wenn ein Beschwerdeführer darlegt, dass in einem zukünftigen Revisionsverfahren zur Auslegung einer entscheidungsrelevanten unionsrechtlichen Regelung voraussichtlich gemäß Art. 267 Abs. 3 AEUV der Europäische Gerichtshof im Wege des Vorabentscheidungsverfahrens anzurufen sein wird (BVerwG, Beschlüsse vom 22. Oktober 1986 - 3 B 43.86 - Buchholz 310 § 132 VwGO Nr. 243 S. 26 und vom 22. Dezember 2016 - 4 B 13.16 - ZLW 2017, 161 Rn. 20). Die bloße Behauptung unionsrechtlicher Zweifelsfragen reicht hierfür jedoch nicht aus; vielmehr bedarf es einer nachvollziehbaren Ableitung des für möglich gehaltenen Regelungsgehalts der Vorschrift unter Durchdringung des normativen Umfelds und einer Auseinandersetzung mit der themenrelevanten Rechtsprechung, um ernsthafte Auslegungsschwierigkeiten darzutun (vgl. BVerwG, Beschlüsse vom 11. März 2020 - 5 B 6.20 - juris Rn. 13 und vom 24. Mai 2022 - 1 B 23.22 - juris Rn. 12). Diesen Anforderungen genügen die Beschwerden nicht.
27 Aus dem Beschwerdevorbringen ist nicht ansatzweise zu entnehmen, inwiefern sich aus dem Verweis in Art. 9 Satz 1 HWRL, wonach die Mitgliedstaaten bei Maßnahmen zur koordinierten Anwendung der beiden Richtlinien den Schwerpunkt insbesondere auf Möglichkeiten zur Erzielung von Synergien und gemeinsamen Vorteilen im Hinblick auf die Umweltziele des Art. 4 WRRL legen, ein hochwasserschutzrechtliches Verschlechterungsverbot im Sinne eines durch Hochwassergefahren bedingten Planungsverbots ergeben könnte. Die HWRL verfolgt mit den Regelungen in Art. 4 bis 8 in erster Linie einen mehrstufigen verfahrensrechtlichen Ansatz zur Bewertung und Bewältigung von Hochwasserrisiken. Die dort vorgesehenen Instrumente sind gemäß Art. 9 Satz 2 HWRL mit den Maßnahmen nach der WRRL zu koordinieren. Dass die HWRL mit dem Verweis in Art. 9 Satz 1 auf die Umweltziele des Art. 4 WRRL einen − vom nationalen Gesetzgeber bei der Regelung in § 78 WHG bislang nicht berücksichtigten − generellen materiellen Maßstab zur Bewältigung dieser Risiken aufstellt, der über die offen formulierte Zielvorstellung in Art. 7 Abs. 2 HWRL hinausgeht, bedürfte einer näheren Erläuterung; das leisten die Antragsteller nicht.
28 Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2, § 159 Satz 1 VwGO, § 100 Abs. 1 ZPO. Die Festsetzung des Streitwerts folgt aus § 47 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 3, § 52 Abs. 1, § 39 Abs. 1 GKG.