Beschluss vom 12.05.2020 -
BVerwG 6 B 53.19ECLI:DE:BVerwG:2020:120520B6B53.19.0
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Zitiervorschlag
BVerwG, Beschluss vom 12.05.2020 - 6 B 53.19 - [ECLI:DE:BVerwG:2020:120520B6B53.19.0]
Beschluss
BVerwG 6 B 53.19
- VG Köln - 03.07.2019 - AZ: VG 9 K 8489/18
In der Verwaltungsstreitsache hat der 6. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
am 12. Mai 2020
durch den Vorsitzenden Richter am Bundesverwaltungsgericht Prof. Dr. Kraft und die Richter am Bundesverwaltungsgericht Dr. Möller und Hahn
beschlossen:
- Die Entscheidung des Verwaltungsgerichts Köln über die Nichtzulassung der Revision gegen sein Urteil vom 3. Juli 2019 - 9 K 8489/18 - wird aufgehoben.
- Die Revision wird zugelassen.
- Die Entscheidung über die Kosten des Beschwerdeverfahrens bleibt der Schlussentscheidung vorbehalten.
- Der Wert des Streitgegenstandes wird für das Beschwerdeverfahren und - insoweit vorläufig - für das Revisionsverfahren auf jeweils 50 000 € festgesetzt.
Gründe
1 Die Beschwerde der Klägerin gegen die Nichtzulassung der Revision ist begründet. Die Revision ist wegen eines Verfahrensmangels, auf dem die angefochtene Entscheidung beruhen kann (§ 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO), sowie wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache (§ 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO) zuzulassen.
2 1. Die Klägerin hat den Anforderungen des § 133 Abs. 3 Satz 3 VwGO entsprechend dargelegt, dass das Verwaltungsgericht das mit dem Hilfsantrag zu 2. verfolgte Rechtsschutzziel der Klägerin verkannt und damit die Pflicht zur sachgemäßen Auslegung von Anträgen und Prozesserklärungen (§ 88 VwGO) verletzt hat. Dass die Klägerin diesen Verfahrensfehler unter dem Gesichtspunkt der Verletzung ihres rechtlichen Gehörs gerügt hat, ist unschädlich. Zwar verlangt die Bezeichnung eines Verfahrensmangels substantiierten Tatsachen- und Rechtsvortrag (BVerwG, Beschluss vom 10. November 1992 - 3 B 52.92 - Buchholz 303 § 314 ZPO Nr. 5). Deshalb muss der verletzte prozessuale Rechtssatz dargelegt werden; die verletzte Rechtsnorm sollte dabei genannt werden. Dem genügt die Beschwerde jedoch, da der hier vorliegende Verstoß des Verwaltungsgerichts gegen § 88 VwGO letztlich auch eine Gehörsverletzung begründet.
3 Nach § 88 VwGO darf das Gericht über das Klagebegehren nicht hinausgehen, ist aber an die Fassung der Anträge nicht gebunden; es hat vielmehr das tatsächliche Rechtsschutzbegehren zu ermitteln. Maßgebend für den Umfang des Klagebegehrens ist nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts das aus dem gesamten Parteivorbringen, insbesondere der Klagebegründung, zu entnehmende wirkliche Rechtsschutzziel. Insoweit sind die für die Auslegung von Willenserklärungen geltenden Grundsätze (§§ 133, 157 BGB) heranzuziehen. Maßgebend ist der geäußerte Parteiwille, wie er sich aus der prozessualen Erklärung und den sonstigen Umständen ergibt; der Wortlaut der Erklärung tritt hinter deren Sinn und Zweck zurück. Ist der Kläger im Verwaltungsprozess anwaltlich vertreten, kommt der Fassung des Klageantrags bei der Ermittlung des tatsächlich Gewollten zwar gesteigerte Bedeutung zu. Weicht das wirkliche Klageziel von der Antragsfassung jedoch eindeutig ab, darf auch die Auslegung vom Antragswortlaut abweichen (vgl. zusammenfassend BVerwG, Urteil vom 1. September 2016 - 4 C 4.15 [ECLI:DE:BVerwG:2016:010916U4C4.15.0] - BVerwGE 156, 94 Rn. 9 m.w.N.).
4 Das Verwaltungsgericht hat angenommen, das Klagebegehren sei selbst dann auf die isolierte Aufhebung von Ziffer III.4.15 der angefochtenen Präsidentenkammerentscheidung und eine - ebenfalls isolierte - Neubescheidung über den Antrag auf Aufnahme einer Diensteanbieterverpflichtung gerichtet, wenn sich die Präsidentenkammerentscheidung insgesamt als unteilbar und die Ziffer III.4.15 daher als nicht abtrennbar erweisen sollte. Damit hat das Verwaltungsgericht das Klagebegehren der Klägerin unzutreffend erfasst.
5 Die Klägerin legt in der Beschwerdebegründung plausibel dar, dass es ihr mit dem Hilfsantrag zu 2. um eine Verpflichtung der Beklagten zumindest zur Neubescheidung ihres Antrags auf Aufnahme einer Diensteanbieterverpflichtung geht und sie die Aufhebung der Präsidentenkammerentscheidung in dem Umfang begehrt, der erforderlich ist, um die beantragte Verpflichtung zu erreichen. Soweit der Hilfsantrag zu 2. mit der Formulierung "unter Aufhebung der insoweit entgegenstehenden Regelungen in Ziff. III.4, 15" einen Aufhebungsantrag enthält, handelt es sich erkennbar lediglich um eine Klarstellung, die für die Festlegung des Klagebegehrens der Verpflichtungs- bzw. Bescheidungsklage nicht konstitutiv ist. Soweit das Gericht den ablehnenden Bescheid bzw. den Widerspruchsbescheid üblicherweise gleichzeitig mit der Verpflichtung der Behörde zum Erlass eines Verwaltungsakts oder zur Neubescheidung aufhebt, geschieht dies unabhängig von einem entsprechenden Antrag des Klägers und dient allein der Klarstellung aus Gründen der Rechtssicherheit (vgl. Riese, in: Schoch/Schneider/Bier, VwGO, Stand: Juli 2019, § 113 Rn. 209; Decker, in: Posser/Wolff, BeckOK VwGO, Stand: 1. April 2020, § 113 Rn. 77.1).
6 Die allein auf den Wortlaut des Teilaufhebungsantrags abstellende Auslegung des Verwaltungsgerichts, die Klägerin habe ihr Klagebegehren nur für den Fall der Teilbarkeit der Präsidentenkammerentscheidung verfolgen wollen, überspannt die Anforderungen an die sprachliche Präzision der Klageanträge. Sie unterstellt der Klägerin eine interessenwidrige und erkennbar nicht sachdienliche Antragstellung, an der trotz anwaltlicher Vertretung nur nach einem richterlichen Hinweis gemäß § 86 Abs. 3 VwGO hätte festgehalten werden dürfen.
7 Die Fehlerhaftigkeit der Auslegung des Klageantrags durch das Verwaltungsgericht lässt sich auch nicht mit Blick auf das Vorbringen in der Beschwerdeerwiderung der Beklagten relativieren, die Frage der Unteilbarkeit und die sich hieraus ergebende Unzulässigkeit einer Teilanfechtung im Prozess sei in der Klageerwiderung behandelt worden sowie Gegenstand der Erörterungen in der mündlichen Verhandlung gewesen und zudem sei der Klägerin bekannt gewesen, dass das Verwaltungsgericht im Rahmen des einstweiligen Rechtsschutzes von einer Unteilbarkeit ausgegangen sei. In diesem Zusammenhang kommt dem Schriftsatz der Klägerin vom 5. Juli 2019 Bedeutung zu, auf den sie in der Beschwerdebegründung verweist und in dem sie klargestellt hat, dass sich der "äußerstenfalls gestellte Hilfsantrag" auf den Fall bezieht, dass eine "Unteilbarkeit" besteht und - entsprechend den Ausführungen des Vizepräsidenten der Bundesnetzagentur in dem von der Klägerin mitübersandten Schreiben - das Vergabeverfahren unter Berücksichtigung entsprechender gerichtlicher Vorgaben wiederholt werden müsste. Hieraus ergibt sich unmissverständlich, dass die Klägerin davon ausging, dass der zweite Hilfsantrag auch den Fall der Unteilbarkeit der Präsidentenkammerentscheidung erfasst. Zwar ist der genannte Schriftsatz erst nach dem Schluss der mündlichen Verhandlung beim Verwaltungsgericht eingegangen. Da das Urteil jedoch nicht in dem Termin, in dem die mündliche Verhandlung geschlossen worden ist, verkündet worden, sondern den Beteiligten gemäß § 116 Abs. 2 VwGO - am 24. Juli 2019 - zugestellt worden ist, hätte das Verwaltungsgericht zur Gewährung rechtlichen Gehörs das Vorbringen der Klägerin in dem nachgereichten Schriftsatz bei der Auslegung der Klageanträge noch berücksichtigen müssen.
8 Hätte das Verwaltungsgericht das Klagebegehren richtig erfasst, hätte es den Hilfsantrag zu 2. nicht mit der Begründung für unzulässig erklären können, dass die streitgegenständliche Präsidentenkammerentscheidung nicht in der insoweit vorausgesetzten Weise teilbar ist.
9 2. Der Senat macht keinen Gebrauch von der ihm nach § 133 Abs. 6 VwGO eröffneten Befugnis, das angefochtene Urteil aufzuheben, und den Rechtsstreit zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das Verwaltungsgericht zurückzuverweisen. Denn der geltend gemachte Verfahrensfehler wirkt sich nur aus, soweit sich das Urteil des Verwaltungsgerichts auf den Hilfsantrag zu 2. bezieht. In Bezug auf den Hauptantrag und den ersten Hilfsantrag hat das Verwaltungsgericht nicht auf die fehlende Teilbarkeit der angefochtenen Präsidentenkammerentscheidung abgestellt. Insoweit ist die Revision jedoch wegen der geltend gemachten grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache zuzulassen (§ 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO). Sie kann zur Klärung der Frage beitragen, ob Vorschriften des Telekommunikationsgesetzes über die Festlegung von Frequenznutzungsbestimmungen vor Durchführung eines Vergabeverfahrens nach §§ 2, 55, 60, 61 Telekommunikationsgesetz (TKG) vom 22. Juni 2004 (BGBl. I S. 1190), zuletzt geändert durch Artikel 1 des Gesetzes vom 6. Februar 2020 (BGBl. I S. 146) - entweder einzeln oder im Zusammenhang - unter Berücksichtigung der Rechtsschutzgarantie des Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie 2002/21/EG vom 7. März 2002 über einen gemeinsamen Rechtsrahmen für elektronische Kommunikationsnetze und -dienste (Rahmenrichtlinie) i.d.F. der Bekanntmachung vom 24. April 2020 (ABl. L 108/33) eine drittschützende Wirkung zu Gunsten von solchen Mobilfunk-Diensteanbietern zukommt, die die zu vergebenden Frequenzen nicht unmittelbar selbst zu nutzen beabsichtigen, als Voraussetzung ihrer Wettbewerbertätigkeit auf dem betreffenden Endkundenmarkt jedoch Infrastrukturvorleistungen benötigen, die andere Unternehmen erbringen, indem sie die zu vergebenden Frequenzen nutzen.
10 Die Entscheidungserheblichkeit dieser Grundsatzfrage entfällt nicht in entsprechender Anwendung des § 144 Abs. 4 VwGO deshalb, weil eine Reduzierung des der Bundesnetzagentur bei der Bestimmung der Frequenznutzungsbestimmungen gemäß § 61 Abs. 3 Satz 2 Nr. 4 TKG zustehenden Ausgestaltungsspielraums auf Null im Sinne der von der Klägerin im Hauptantrag bzw. dem Hilfsantrag zu 1. ausformulierten Regelung nicht vorliegen würde und daher offensichtlich und eindeutig nach jeder Betrachtungsweise ausgeschlossen wäre, dass der Klägerin der von ihr geltend gemachte Anspruch tatsächlich zusteht. Hierauf hat das Verwaltungsgericht - allerdings lediglich im Zusammenhang mit einer von mehreren möglicherweise drittschützenden Normen (§ 2 Abs. 3 Nr. 2 TKG) - zu Unrecht abgestellt. Ob der regulierungsbehördliche Ausgestaltungsspielraum auf Null reduziert ist, kann nicht bereits im Rahmen der Klagebefugnis, sondern erst im Rahmen der Begründetheit des mit der Klage geltend gemachten Anspruchs entschieden werden. Denn nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts beinhaltet ein Verpflichtungsantrag, dem die Annahme einer Ermessensreduzierung auf Null zugrundeliegt, in aller Regel als Minus den Antrag, die Behörde zur Neubescheidung nach Maßgabe der Rechtsauffassung des Gerichts zu verpflichten (vgl. BVerwG, Urteile vom 4. Juni 1996 - 4 C 15.95 - Buchholz 406.19 Nachbarschutz Nr. 133 <23> und vom 14. April 2011 - 3 C 17.10 [ECLI:DE:BVerwG:2011:140411U3C17.10.0] - BVerwGE 139, 309 Rn. 31).
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3. Die Streitwertfestsetzung für das Beschwerdeverfahren folgt aus § 47 Abs. 1 und 3, § 52 Abs. 1 GKG; die vorläufige Streitwertfestsetzung für das Revisionsverfahren beruht auf § 47 Abs. 1, § 52 Abs. 1, § 63 Abs. 1 Satz 1 GKG.
Rechtsbehelfsbelehrung
Das Beschwerdeverfahren wird als Revisionsverfahren unter dem Aktenzeichen BVerwG 6 C 8.20 fortgesetzt. Der Einlegung einer Revision durch den Beschwerdeführer bedarf es nicht.
Die Revision ist innerhalb eines Monats nach Zustellung dieses Beschlusses zu begründen. Die Begründung ist bei dem Bundesverwaltungsgericht, Simsonplatz 1, 04107 Leipzig, schriftlich oder in elektronischer Form (§ 55a Abs. 1 bis 6 VwGO sowie Verordnung über die technischen Rahmenbedingungen des elektronischen Rechtsverkehrs und über das besondere elektronische Behördenpostfach vom 24. November 2017, BGBl. I S. 3803) einzureichen.
Für die Beteiligten besteht Vertretungszwang; dies gilt auch für die Begründung der Revision. Die Beteiligten müssen sich durch Bevollmächtigte im Sinne von § 67 Abs. 4 Satz 3 bis 6 VwGO, § 5 Nr. 6 Alt. 2 RDGEG vertreten lassen.