Beschluss vom 11.12.2024 -
BVerwG 1 B 17.24ECLI:DE:BVerwG:2024:111224B1B17.24.0
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Zitiervorschlag
BVerwG, Beschluss vom 11.12.2024 - 1 B 17.24 - [ECLI:DE:BVerwG:2024:111224B1B17.24.0]
Beschluss
BVerwG 1 B 17.24
- VG Köln - 24.11.2022 - AZ: 20 K 2181/22.A
- OVG Münster - 19.03.2024 - AZ: 11 A 2528/22.A
In der Verwaltungsstreitsache hat der 1. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
am 11. Dezember 2024
durch den Vorsitzenden Richter am Bundesverwaltungsgericht Dr. Keller,
den Richter am Bundesverwaltungsgericht Dollinger und
die Richterin am Bundesverwaltungsgericht Fenzl
beschlossen:
- Die Beschwerde des Klägers gegen die Nichtzulassung der Revision im Beschluss des Oberverwaltungsgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen vom 19. März 2024 wird zurückgewiesen.
- Der Kläger trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.
Gründe
1 Die allein auf Verfahrensmängel nach § 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO gestützte Beschwerde hat keinen Erfolg. Die Beschwerde zeigt nicht auf, dass das Berufungsgericht dadurch, dass es im Beschlussverfahren nach § 130a VwGO entschieden hat, den Anspruch des Klägers auf rechtliches Gehör (Art. 103 Abs. 1 GG, § 108 Abs. 2 i. V. m. § 138 Nr. 3 VwGO) oder sonstiges Verfahrensrecht verletzt hätte.
2 1. Nach § 130a Satz 1 VwGO kann das Oberverwaltungsgericht über die Berufung durch Beschluss entscheiden, wenn es sie einstimmig für begründet oder einstimmig für unbegründet und eine mündliche Verhandlung nicht für erforderlich hält. Ist das sich auf die Begründetheit oder Unbegründetheit der Berufung beziehende Einstimmigkeitserfordernis erfüllt, steht die Entscheidung, ob ohne mündliche Verhandlung durch Beschluss befunden wird, im Ermessen des Gerichts. Die Grenzen des dem Berufungsgericht eingeräumten Ermessens sind weit gezogen (BVerwG, Beschluss vom 17. Januar 2022 - 1 B 95.21 - juris Rn. 11 m. w. N.). Mit dem Grad der Schwierigkeit der Rechtssache wächst auch das Gewicht der Gründe, die gegen die Anwendung des § 130a VwGO und für die Durchführung einer mündlichen Verhandlung sprechen. Die Grenzen von § 130a Satz 1 VwGO sind erreicht, wenn im vereinfachten Berufungsverfahren ohne mündliche Verhandlung entschieden wird, obwohl die Sache in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht außergewöhnliche Schwierigkeiten aufweist (BVerwG, Beschluss vom 17. Januar 2022 - 1 B 95.21 - juris Rn. 12 m. w. N.). Das Revisionsgericht kann die Entscheidung für die Durchführung des vereinfachten Berufungsverfahrens nur darauf überprüfen, ob das Oberverwaltungsgericht von seinem Ermessen fehlerfrei Gebrauch gemacht hat (vgl. BVerwG, Beschlüsse vom 12. März 1999 - 4 B 112.98 - Buchholz 310 § 130a VwGO Nr. 35 S. 5 m. w. N. und vom 25. September 2003 - 4 B 68.03 - Buchholz 140 Art. 6 MRK Nr. 9 S. 16). Ein Absehen von einer mündlichen Verhandlung ist seitens des Revisionsgerichts nur zu beanstanden, wenn es auf sachfremden Erwägungen oder einer groben Fehleinschätzung des Berufungsgerichts beruht (vgl. BVerwG, Beschluss vom 3. Februar 1999 - 4 B 4.99 - Buchholz 310 § 130a VwGO Nr. 33 S. 2 m. w. N.) oder wenn im konkreten Fall Art. 6 EMRK beziehungsweise Art. 47 GRC die Durchführung einer mündlichen Verhandlung gebieten (BVerwG, Beschluss vom 10. Juli 2019 - 1 B 57.19 - juris Rn. 6).
3 2. Daran gemessen legt die Beschwerde nicht dar, dass sich die Durchführung des vereinfachten Berufungsverfahrens nach § 130a VwGO als ermessens- oder sonst verfahrensfehlerhaft erweist.
4 a) Das Berufungsgericht hat die Beteiligten zu seiner Absicht, durch Beschluss nach § 130a VwGO zu entscheiden, mit Verfügung vom 20. April 2023 vorab gehört und ihnen dabei eine angemessene Frist zur Stellungnahme von drei Wochen eingeräumt. Dabei hat es auf seine Rechtsprechung hingewiesen, nach der international Schutzberechtigten in Bulgarien derzeit keine Gefahrenlage droht, die zu einem Verstoß gegen Art. 4 GRC, Art. 3 EMRK führt. Der Kläger hat mit Schriftsatz vom 12. Mai 2023 einer Entscheidung durch Beschluss nach § 130a VwGO widersprochen, die Zulassung der Revision nach § 78 Abs. 8 AsylG beantragt und zur Sache vorgetragen. Dem Anspruch des Klägers auf rechtliches Gehör (Art. 103 Abs. 1 GG, § 108 Abs. 2 VwGO) hat das Berufungsgericht dadurch Rechnung getragen, dass es sein Vorbringen zur Kenntnis genommen und bei seiner Entscheidung in Erwägung gezogen hat (vgl. BVerwG, Beschluss vom 24. April 2017 - 6 B 17.17 - juris Rn. 11 unter Bezugnahme auf BVerfG, Beschluss vom 10. Juni 1975 - 2 BvR 1086/74 - BVerfGE 40, 101 <104 f.>).
5 b) Art. 6 Abs. 1 Satz 1 EMRK findet auf den vorliegenden Rechtsstreit keine direkte Anwendung (BVerwG, Beschluss vom 17. Januar 2022 - 1 B 95.21 - juris Rn. 15 m. w. N.). Entgegen der Beschwerde gebietet das Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) vom 9. Januar 2018 - Nr. 35294/11, Gabriela Kaiser/Schweiz - (deutsche Übersetzung in NLMR 2018, 1 ff.) nicht, von der genannten Senatsrechtsprechung abzuweichen. Soweit danach Art. 6 Abs. 1 EMRK unabhängig von der Stellung der Parteien, das heißt von der Natur der Gesetze, die die Streitigkeit regeln, und der zur Entscheidung zuständigen Behörde angewendet wird, gilt dies nur für "zivilrechtliche Ansprüche und Verpflichtungen". Der EGMR erinnert daran, dass Art. 6 Abs. 1 EMRK (nur) eine Rolle spielt, wenn die Klage ein vermögenswertes Ziel hat und sich auf eine angebliche Verletzung von Vermögensrechten stützt oder sofern der Ausgang des Verfahrens für zivilrechtliche Ansprüche und Verpflichtungen entscheidend ist (EGMR, a. a. O., Rn. 34; siehe auch BVerwG, Urteil vom 16. Dezember 1999 - 4 CN 9.98 - BVerwGE 110, 203 m. w. N.). Auch wenn dieser Begriff nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs über das nationale Begriffsverständnis hinausgeht, werden Verfahren aus dem Kernbereich des öffentlichen Rechts, wozu auch das Asylrecht zählt, weiterhin nicht davon erfasst (vgl. BVerwG, Beschluss vom 8. Juni 2020 - 1 B 27.20 - juris Rn. 12). Diese Rechtsprechung ist durch den von der Beschwerde zitierten Beschluss, der die unentgeltliche Rechtsvertretung in einem Verfahren vor einer Schlichtungsstelle für Mietangelegenheiten betrifft, nicht überholt. Davon unberührt bleibt, dass die vom EGMR zu Art. 6 Abs. 1 EMRK entwickelten Anforderungen bei konventionskonformer Anwendung im Rahmen der Ermessensausübung nach § 130a VwGO vom Berufungsgericht zu berücksichtigen sind.
6 c) Das nach nationalem Recht eröffnete Ermessen, ohne mündliche Verhandlung durch Beschluss zu entscheiden, war hier auch weder im Hinblick auf Unionsrecht noch durch Art. 6 Abs. 1 EMRK eingeschränkt oder ausgeschlossen.
7 Weder Art. 46 RL 2013/32/EU noch Art. 47 Abs. 1 und 2 GRC oder eine andere Bestimmung der Charta der Grundrechte der Europäischen Union sehen die Durchführung einer mündlichen Verhandlung vor dem mit dem Rechtsbehelf befassten Gericht zwingend vor. Art. 47 GRC ist im Lichte der Rechtsprechung des EGMR zu Art. 6 Abs. 1 EMRK auszulegen, da Art. 47 Abs. 1 und 2 GRC den Art. 6 Abs. 1 und Art. 13 EMRK entsprechen (Art. 52 Abs. 3 GRC). Insoweit hat der Gerichtshof der Europäischen Union unter Bezugnahme auf den EGMR bereits festgestellt, dass sich aus Art. 6 Abs. 1 EMRK keine absolute Verpflichtung zur Durchführung einer mündlichen Verhandlung ergibt und eine solche Verpflichtung auch nicht aus Art. 47 Abs. 2 GRC oder einer anderen Bestimmung der Charta der Grundrechte der Europäischen Union folgt (EuGH, Urteil vom 26. Juli 2017 - C-348/16 [ECLI:EU:C:2017:591], Moussa Sacko - Rn. 40 m. w. N.). Wenn das Gericht der Auffassung ist, dass es seiner Verpflichtung zur umfassenden Ex-nunc-Prüfung des Rechtsbehelfs nach Art. 46 Abs. 3 RL 2013/32/EU allein auf der Grundlage des Akteninhalts einschließlich der Niederschrift oder des Wortprotokolls der persönlichen Anhörung des Antragstellers nachkommen kann, kann es die Entscheidung treffen, den Antragsteller im Rahmen des Rechtsbehelfs nicht anzuhören und von einer mündlichen Verhandlung abzusehen (BVerwG, Beschluss vom 17. Januar 2022 - 1 B 95.21 - juris Rn. 16 m. w. N.). Eine mündliche Verhandlung muss jedenfalls dann nicht durchgeführt werden, wenn die Rechtssache keine Tatsachen- oder Rechtsfragen aufwirft, die sich nicht unter Heranziehung der Akten und der schriftlichen Erklärungen der Parteien angemessen lösen lassen (EuGH, Urteil vom 26. Juli 2017 - C-348/16 - Rn. 47 m. w. N.). Für die Berufungsinstanz gelten jedenfalls keine strengeren Maßstäbe (vgl. dazu EGMR, Urteil vom 29. Oktober 1991 - Nr. 11826/85, Helmers/Schweden -).
8 Davon ausgehend zeigt die Beschwerde keine Gründe auf, aus denen das Berufungsgericht verpflichtet gewesen wäre, eine mündliche Verhandlung durchzuführen.
9 aa) Zwar verlangt die bei der Ermessensausübung zu beachtende Regelung des Art. 6 Abs. 1 EMRK nach der ständigen, auf der Grundlage der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte entwickelten höchstrichterlichen Rechtsprechung, dass die Beteiligten im gerichtlichen Verfahren mindestens einmal die Gelegenheit erhalten, zu den entscheidungserheblichen Rechts- und Tatsachenfragen in einer mündlichen Verhandlung Stellung zu nehmen (vgl. BVerwG, Beschluss vom 29. Januar 2020 - 1 B 7.20 - juris Rn. 12). Dem wurde hier aber Rechnung getragen, weil das Verwaltungsgericht - entgegen dem Beschwerdevortrag - nicht ohne mündliche Verhandlung (vgl. Beschwerdebegründung vom 21. Mai 2024, Bl. 6), sondern aufgrund einer mündlichen Verhandlung durch Urteil vom 24. November 2022 entschieden hat (vgl. VG Köln-Akte, Protokoll über die mündliche Verhandlung, Bl. 120 ff.).
10 Das Beschwerdevorbringen, im Berufungsverfahren müsse stets verhandelt werden, wenn der Kläger in der ersten Instanz obsiegt habe, gilt nur für den Fall, dass der Kläger ohne mündliche Verhandlung vor dem Verwaltungsgericht durch Gerichtsbescheid nach § 84 Abs. 1 VwGO obsiegt und die Beklagte dagegen die zugelassene Berufung einlegt (vgl. BVerwG, Urteil vom 14. März 2002 - 1 C 15.01 - BVerwGE 116, 123 <127>). Ein solcher Fall liegt hier nicht vor, nachdem das Verwaltungsgericht der Klage in erster Instanz aufgrund mündlicher Verhandlung durch Urteil ganz überwiegend stattgegeben hat.
11 bb) Hinreichende Anhaltspunkte für eine außergewöhnliche tatsächliche oder rechtliche Schwierigkeit des Rechtsstreits legt die Beschwerde nicht dar. Das gilt zunächst hinsichtlich des Vorbringens des Klägers zu dem Zugang zum Arbeitsmarkt und der Erlangung von Aufenthaltstiteln. Der pauschale (und widersprüchliche) Vortrag, der Unzulässigkeitsentscheidung nach § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG habe entgegengestanden, dass der in Bulgarien gestellte Asylantrag des Klägers wegen seiner Minderjährigkeit und fehlender Vormundbestellung unwirksam gewesen sei, legt eine schwierige Rechtsfrage ebenfalls nicht dar. Das Oberverwaltungsgericht hat hierzu nachvollziehbar ausgeführt, Art. 33 Abs. 2 Buchst. a RL 2013/32/EU sehe eine Befugnis der deutschen Gerichte, die im anderen Mitgliedstaat ausgesprochene Schutzgewährung infrage zu stellen oder rechtlich zu überprüfen, nicht vor. Damit setzt sich die Beschwerde nicht auseinander. Soweit der Kläger eine Notwendigkeit geltend macht, seine Bindungen an in Deutschland lebende Verwandte zu würdigen, legt er zu den näheren Umständen dieser vermeintlichen Bindungen und einem insoweit bestehenden Aufklärungsbedarf nichts dar und führt auch nicht aus, weshalb die Feststellung des Berufungsgerichts, der Kläger habe keine Familie zu versorgen, unzutreffend sein könnte.
12 Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO. Gerichtskosten werden gemäß § 83b AsylG nicht erhoben. Der Gegenstandswert ergibt sich aus § 30 Abs. 1 Satz 1 Halbs. 1 RVG. Gründe für eine Abweichung nach § 30 Abs. 2 RVG liegen nicht vor.