Beschluss vom 11.06.2024 -
BVerwG 5 B 19.23ECLI:DE:BVerwG:2024:110624B5B19.23.0

  • Zitiervorschlag

    BVerwG, Beschluss vom 11.06.2024 - 5 B 19.23 - [ECLI:DE:BVerwG:2024:110624B5B19.23.0]

Beschluss

BVerwG 5 B 19.23

  • OVG Bautzen - 27.02.2023 - AZ: 11 F 4/21.EK

In der Verwaltungsstreitsache hat der 5. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
am 11. Juni 2024
durch den Vorsitzenden Richter am Bundesverwaltungsgericht Dr. Störmer,
die Richterin am Bundesverwaltungsgericht Dr. Harms und
den Richter am Bundesverwaltungsgericht Preisner
beschlossen:

  1. Die Beschwerde des Klägers gegen die Nichtzulassung der Revision in dem Urteil des Sächsischen Oberverwaltungsgerichts vom 27. Februar 2023 wird verworfen.
  2. Der Kläger trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.
  3. Der Wert des Streitgegenstandes wird für das Beschwerdeverfahren auf 3 900 € festgesetzt.

Gründe

1 Die Beschwerde des Klägers hat keinen Erfolg.

2 1. Das gilt entgegen der Auffassung des Beklagten allerdings nicht schon deshalb, weil der Kläger gegen die Nichtzulassung der Revision in dem angegriffenen Urteil des Oberverwaltungsgerichts am 22. März 2023 zunächst Nichtzulassungsbeschwerde beim Bundesverwaltungsgericht eingelegt hatte, die er jedoch am 23. März 2023 wieder zurücknahm, sodass das Verfahren beim Bundesverwaltungsgericht durch Beschluss vom 4. April 2023 (5 B 6.23 ) eingestellt wurde. Die Rücknahme der Nichtzulassungsbeschwerde beseitigt zwar deren Rechtshängigkeit. Da die formelle Rechtskraft der angegriffenen Entscheidung aber erst mit Ablauf der Rechtsmittelfrist eintritt, steht sie einer erneuten Erhebung der Nichtzulassungsbeschwerde innerhalb der gesetzlichen Frist nicht im Wege (vgl. Wöckel, in: Eyermann, VwGO, 16. Aufl. 2022, § 121 Rn. 2; Unruh, in: Fehling/​Kastner/​Störmer, Verwaltungsrecht, 5. Aufl. 2021, § 121 VwGO Rn. 4). So liegt es hier. Der Kläger hat zeitgleich mit der Rücknahme beim Bundesverwaltungsgericht rechtzeitig innerhalb der Beschwerdefrist gemäß § 133 Abs. 2 VwGO die Nichtzulassungsbeschwerde beim Oberverwaltungsgericht eingelegt. Dieses hat seinen Nichtabhilfebeschluss vom 2. Juni 2023 am 1. September 2023 an das Bundesverwaltungsgericht übersandt, das gemäß § 133 Abs. 5 VwGO nunmehr in der Sache darüber zu entscheiden hat.

3 2. Die von der Beschwerde als Zulassungsgrund geltend gemachte Divergenz ist nicht in der erforderlichen Weise aufgezeigt worden.

4 Eine die Revision gemäß § 132 Abs. 2 Nr. 2 VwGO eröffnende Divergenz liegt nur vor, wenn das vorinstanzliche Gericht in Anwendung derselben Vorschrift mit einem seine Entscheidung tragenden (abstrakten) Rechtssatz von einem in der Rechtsprechung des übergeordneten Gerichts aufgestellten ebensolchen Rechtssatz abgewichen ist. Die Beschwerdebegründung muss im Sinne von § 133 Abs. 3 Satz 3 VwGO darlegen, dass und inwiefern dies der Fall ist (stRspr, vgl. BVerwG, Beschlüsse vom 19. August 1997 - 7 B 261.97 - Buchholz 310 § 133 <n. F.> VwGO Nr. 26 S. 14 und vom 10. September 2018 - 5 B 20.18 D - juris Rn. 3). Daran fehlt es hier.

5 Die Beschwerde entnimmt der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (BVerwG, Urteil vom 29. Februar 2016 - 5 C 31.15 D - Buchholz 300 § 198 GVG Nr. 5) den Rechtssatz, ob eine Feststellung nach § 198 Abs. 4 Satz 1 GVG ausreichend im Sinne des § 198 Abs. 2 Satz 2 GVG sei, beurteile sich auf der Grundlage einer umfassenden Abwägung sämtlicher Umstände des Einzelfalles. Einen hiervon abweichenden Rechtssatz des Oberverwaltungsgerichts zeigt die Beschwerde jedoch nicht auf. Sie berücksichtigt nicht, dass das Oberverwaltungsgericht seiner Entscheidung sogar ausdrücklich den von der Beschwerde aufgezeigten Rechtssatz des Bundesverwaltungsgerichts zugrunde gelegt hat (vgl. UA Rn. 38). Eine Divergenz könnte daher allenfalls bei einer Abweichung in der Sache vorliegen, wenn sich die Vorinstanz zwar in ihren Obersätzen der höchstrichterlichen Rechtsprechung durch entsprechende Wiedergabe angeschlossen hätte, die Anwendung auf den Einzelfall aber zeigte, dass sie trotzdem von einem anderen Rechtssatz oder Maßstab ausgegangen ist. Für die Darlegung einer derartigen Divergenz müssten jedoch "verdeckte" Rechtssätze in der Beschwerde so deutlich aus dem gedanklichen Zusammenhang der divergierenden Entscheidung herausgearbeitet werden, dass unzweifelhaft feststeht, welcher Rechtssatz aufgestellt beziehungsweise zugrunde gelegt wurde (BVerwG, Beschluss vom 19. Januar 2022 - 1 B 83.21 - NVwZ-RR 2022, 476 Rn. 29 m. w. N.). Dies ist hier nicht der Fall. Die Beschwerde zeigt auch nicht auf, dass und warum den fallbezogenen Ausführungen des Oberverwaltungsgerichts unzweifelhaft ein von dem Rechtssatz des Bundesverwaltungsgerichts abweichender Rechtssatz zu entnehmen sein sollte (vgl. zu diesem Erfordernis auch BVerwG, Beschluss vom 22. September 2022 - 5 B 33.21 - juris Rn. 19 m. w. N.). Der Sache nach beanstandet die Beschwerde vielmehr, dass das Oberverwaltungsgericht über rein abstrakte Erwägungen zur Rechtslage hinaus, die zudem unzutreffend seien, nicht im Einzelnen geprüft habe, welche etwaigen tatsächlichen Vorteile aufgrund einer Aufenthaltsgestattung im Vergleich zur Lage nach deren Auslaufen bestünden. Eine Einzelfallprüfung habe es gar nicht vorgenommen. Dies mag zwar nicht von vornherein von der Hand zu weisen sein. Damit rügt die Beschwerde allerdings lediglich eine fehlerhafte Rechtsanwendung. Das Aufzeigen einer fehlerhaften oder unterbliebenen Anwendung der maßgeblichen Rechtssätze genügt den Darlegungsanforderungen aber nicht und kann die Zulassung der Revision wegen einer Rechtssatzdivergenz nicht rechtfertigen (stRspr, vgl. BVerwG, Beschlüsse vom 19. August 1997 - 7 B 261.97 - Buchholz 310 § 133 <n. F.> VwGO Nr. 26 S. 14, vom 24. November 2009 - 5 B 35.09 - juris Rn. 8 und vom 8. Juli 2011 - 5 B 22.11 - ZOV 2011, 219 Rn. 4).

6 3. Die Revision ist auch nicht wegen der von der Beschwerde weiter geltend gemachten Grundsatzbedeutung der Rechtssache zuzulassen.

7 Grundsätzliche Bedeutung im Sinne von § 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO kommt einer Rechtssache zu, wenn sie eine für die erstrebte Revisionsentscheidung erhebliche Rechtsfrage des revisiblen Rechts aufwirft, die im Interesse der Einheit und der Fortbildung des Rechts revisionsgerichtlicher Klärung bedarf. Eine ausreichende Darlegung der rechtsgrundsätzlichen Bedeutung (§ 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO) einer Rechtssache setzt die Formulierung einer bestimmten, höchstrichterlich noch ungeklärten und für die Revisionsentscheidung erheblichen Frage des revisiblen Rechts und außerdem die Angabe voraus, worin die allgemeine, über den Einzelfall hinausgehende Bedeutung bestehen soll (stRspr, vgl. BVerwG, Beschluss vom 19. August 1997 - 7 B 261.97 - Buchholz 310 § 133 <n. F.> VwGO Nr. 26 S. 14). Dabei verlangt die Begründungspflicht des § 133 Abs. 3 Satz 3 VwGO unter anderem, dass sich die Beschwerde mit den Erwägungen des angefochtenen Urteils, auf die sich die aufgeworfene Frage von angeblich grundsätzlicher Bedeutung bezieht, substantiiert auseinandersetzt und aufzeigt, aus welchen Gründen der Rechtsauffassung, die der aufgeworfenen Frage zugrunde liegt, zu folgen ist (stRspr, vgl. BVerwG, Beschlüsse vom 11. November 2011 - 5 B 45.11 - juris Rn. 3 und vom 12. März 2018 - 5 B 26.17 D - juris Rn. 3 m. w. N.). Soweit sich die Vorinstanz mit der Frage beschäftigt hat, gehört zu der erforderlichen Durchdringung des Prozessstoffes die Erörterung sämtlicher Gesichtspunkte, die im Einzelfall für die erstrebte Zulassung der Revision rechtlich Bedeutung haben könnten (stRspr, vgl. BVerwG, Beschluss vom 27. Juni 2019 - 5 B 40.18 - juris Rn. 3 m. w. N.). Den vorgenannten Anforderungen wird die Beschwerdebegründung nicht gerecht.

8 a) Die Beschwerde hält zunächst die Frage für rechtsgrundsätzlich bedeutsam,
"ob im Asylprozess unter Zugrundelegung der besonderen Merkmale und Prozesssituationen, insbesondere vor dem Hintergrund des auf besondere Beschleunigung bedachten Gesetzes, ein solitärer Ausspruch der überlangen Verfahrensdauer hinreichend eine solche überlange Verfahrensdauer kompensiert."

9 Das Aufwerfen dieser Frage genügt bereits deshalb nicht den Anforderungen an die Darlegung ihrer Grundsatzbedeutung, weil die Beschwerde nicht hinreichend aufzeigt, auf welches in seiner Auslegung in der höchstrichterlichen Rechtsprechung noch ungeklärte Merkmal welcher Rechtsnorm des revisiblen Rechts sie sich bezieht.

10 Auch wenn unter Einbeziehung der Beschwerdebegründung, in der es heißt, aufgrund der besonderen Belastungssituation für den Kläger könne es in einem Asylverfahren "denknotwendig" nicht ausreichend sein, "lediglich die überlange Verfahrensdauer festzustellen", das Vorbringen der Beschwerde dahin verstanden wird, dass sie die Frage zur Klärung stellen möchte, ob eine Wiedergutmachung auf andere Weise gemäß § 198 Abs. 2 Satz 2 GVG stets ausgeschlossen ist, wenn es um die überlange Dauer eines Asylverfahrens geht, genügt die Beschwerde nicht den Darlegungsanforderungen. Denn sie setzt sich in keiner Weise mit den Voraussetzungen auseinander, unter denen gemäß § 198 Abs. 2 Satz 2 GVG eine Entschädigung gewährt wird, und führt auch keinerlei Gründe dafür an, warum es im Falle eines Asylverfahrens entgegen dem Wortlaut des § 198 Abs. 2 Satz 2 GVG für die Widerlegung der Vermutung eines Vermögensnachteils gemäß § 198 Abs. 2 Satz 1 GVG nicht darauf ankommen soll, dass nicht nach den Umständen des Einzelfalles eine Wiedergutmachung auf andere Weise gemäß § 198 Abs. 4 GVG ausreichend ist. Allein der Hinweis, dass sich der Gesetzgeber "im Asylsystem für eine besondere Beschleunigung [...] entschieden" habe, um "unter anderem auch [...] die Belastung eines offenen Asylverfahrens [...] zu minimieren", genügt insofern nicht.

11 b) Soweit die Beschwerde die Frage für rechtsgrundsätzlich klärungsbedürftig hält,
"ob das bloße Vorliegen einer Aufenthaltsgestattung eine Wiedergutmachung auf andere Weise nach den Umständen des Einzelfalles gemäß § 198 Absatz 4 GVG darstellt",
genügt sie den Darlegungsanforderungen schon deshalb nicht, weil sich diese Frage in einem Revisionsverfahren nicht entscheidungserheblich stellen würde. Maßgeblich für eine hinreichende Wiedergutmachung auf andere Weise nach § 198 Abs. 4 Satz 1 GVG, die nach § 198 Abs. 2 Satz 2 GVG einen Entschädigungsanspruch ausschließt, ist nicht die Frage, ob eine Aufenthaltsgestattung vorliegt, sondern ob die Feststellung der Überlänge des Verfahrens durch das Entschädigungsgericht nach den Umständen des Einzelfalles ausreichend ist. Hiervon ist auch das Oberverwaltungsgericht in der angefochtenen Entscheidung ausgegangen.

12 c) Auch für die weitere vermeintliche Grundsatzfrage,
"ob das pauschale Verweisen auf das Vorliegen einer Aufenthaltsgestattung eine ausreichende Feststellung auf der Grundlage einer umfassenden Abwägung sämtlicher Umstände des Einzelfalles im Sinne des § 198 Abs. 2 Satz 2 GVG ist",
fehlt es an der Darlegung der Klärungsbedürftigkeit, weil die aufgeworfene Frage mangels eines konkretisierten Bezugs zur Auslegung eines bestimmten gesetzlichen Merkmals des § 198 Abs. 2 GVG keine hinreichend bestimmte Rechtsfrage darstellt. Der Sache nach rügt die Beschwerde in diesem Zusammenhang, dass das Oberverwaltungsgericht die Rechtsnatur einer Aufenthaltsgestattung nach § 55 AsylG verkannt und die rechtlichen Möglichkeiten einer Arbeitsaufnahme während der Dauer des asylverfahrensabhängigen Bleiberechts falsch beurteilt habe. Außerdem habe es übersehen, dass der Anspruch auf Sozialleistungen nach einem erfolglosen Abschluss des Asylverfahrens nicht geringer sei, als während der Dauer des Verfahrens (Beschwerdebegründung S. 5). Damit wendet die Beschwerde der Sache nach lediglich ein, dass das Oberverwaltungsgericht die maßgeblichen asylrechtlichen Regelungen unrichtig beurteilt habe. Auf einen bloßen Rechtsanwendungsfehler kann eine Grundsatzrüge nach § 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO allerdings nicht erfolgreich gestützt werden (stRspr, vgl. etwa BVerwG, Beschluss vom 19. August 1997 - 7 B 261.97 - Buchholz 310 § 133 <n. F.> VwGO Nr. 26 S. 14).

13 Selbst wenn man außerdem den von der Beschwerde im Zuge der Divergenzrüge erhobenen Einwand berücksichtigt, das Oberverwaltungsgericht habe sich nicht mit der Annahme vermeintlicher abstrakter Rechtsvorteile begnügen dürfen, sondern etwaige tatsächliche Vorteile im Einzelfall feststellen müssen, fehlt es sowohl an einer Darlegung der Klärungsbedürftigkeit wie auch der Klärungsfähigkeit einer so verstandenen Frage. Denn die Beschwerde führt nicht aus, warum sich eine solche Notwendigkeit nicht ohne Weiteres anhand des Wortlauts des § 198 Abs. 2 Satz 1 GVG sowie der hierzu bereits ergangenen höchstrichterlichen Rechtsprechung bejahen lässt und die Rechtsfrage damit bereits als geklärt anzusehen ist. Hierzu hätte insbesondere deshalb Anlass bestanden, weil die Beschwerde selbst mit der Divergenzrüge eine entsprechende Rechtsbehauptung erhoben hat (vgl. oben unter 2.). Abgesehen davon hat die Beschwerde noch nicht einmal behauptet, dass der Kläger von den rechtlichen Möglichkeiten einer Arbeitsaufnahme während der Dauer des Asylverfahrens tatsächlich keinen Gebrauch machen konnte.

14 4. Von einer weiteren Begründung wird gemäß § 133 Abs. 5 Satz 2 Halbs. 2 VwGO abgesehen.

15 5. Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO. Die Festsetzung des Wertes des Streitgegenstandes beruht (in der Höhe der vom Kläger nicht beanstandeten Festsetzung der Vorinstanz folgend) auf § 47 Abs. 1 und 3 i. V. m. § 52 Abs. 1 GKG.