Beschluss vom 11.05.2022 -
BVerwG 1 B 101.21ECLI:DE:BVerwG:2022:110522B1B101.21.0

  • Zitiervorschlag

    BVerwG, Beschluss vom 11.05.2022 - 1 B 101.21 - [ECLI:DE:BVerwG:2022:110522B1B101.21.0]

Beschluss

BVerwG 1 B 101.21

  • VG Magdeburg - 16.04.2021 - AZ: VG 9 A 282/20 MD
  • OVG Magdeburg - 20.10.2021 - AZ: OVG 3 L 115/21

In der Verwaltungsstreitsache hat der 1. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
am 11. Mai 2022
durch den Richter am Bundesverwaltungsgericht Prof. Dr. Fleuß,
den Richter am Bundesverwaltungsgericht Dollinger und
die Richterin am Bundesverwaltungsgericht Fenzl
beschlossen:

  1. Die Beschwerde des Klägers gegen die Nichtzulassung der Revision in dem Urteil des Oberverwaltungsgerichts des Landes Sachsen-Anhalt vom 20. Oktober 2021 wird zurückgewiesen.
  2. Der Kläger trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.

Gründe

1 Die Beschwerde des Klägers gegen die Nichtzulassung der Revision hat keinen Erfolg.

2 1. Die Revision ist nicht wegen der geltend gemachten grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache (§ 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO) zuzulassen.

3 1.1 Grundsätzliche Bedeutung im Sinne von § 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO kommt einer Rechtssache zu, wenn sie eine für die erstrebte Revisionsentscheidung entscheidungserhebliche Rechtsfrage des revisiblen Rechts aufwirft, die im Interesse der Einheit und der Fortbildung des Rechts revisionsgerichtlicher Klärung bedarf. Das Darlegungserfordernis des § 133 Abs. 3 Satz 3 VwGO setzt insoweit die Formulierung einer bestimmten, höchstrichterlich noch ungeklärten und für die Revisionsentscheidung erheblichen Rechtsfrage des revisiblen Rechts und außerdem die Angabe voraus, worin die allgemeine, über den Einzelfall hinausgehende Bedeutung besteht. Die Beschwerde muss daher erläutern, dass und inwiefern die Revisionsentscheidung zur Klärung einer bisher revisionsgerichtlich nicht beantworteten fallübergreifenden Rechtsfrage des revisiblen Rechts führen kann (stRspr, vgl. BVerwG, Beschluss vom 19. August 1997 - 7 B 261.97 - Buchholz 310 § 133 <n.F.> VwGO Nr. 26 S. 14). Die Begründungspflicht verlangt, dass sich die Beschwerde mit den Erwägungen des angefochtenen Urteils, auf die sich die aufgeworfene Frage von angeblich grundsätzlicher Bedeutung bezieht, substantiiert auseinandersetzt und im Einzelnen aufzeigt, aus welchen Gründen der Rechtsauffassung, die der Frage zugrunde liegt, zu folgen ist (vgl. BVerwG, Beschlüsse vom 8. Juni 2006 - 6 B 22.06 - NVwZ 2006, 1073 Rn. 4 f. und vom 10. August 2015 - 5 B 48.15 - juris Rn. 3 m.w.N.).

4 1.2 Nach diesen Grundsätzen ist die Revision nicht wegen der geltend gemachten grundsätzlichen Bedeutung zuzulassen, weil weder ausdrücklich noch sinngemäß eine revisionsrechtlich klärungsfähige Rechtsfrage fallübergreifender Bedeutung dargelegt ist und die Beschwerde daher den Darlegungsanforderungen des § 133 Abs. 3 VwGO nicht genügt.

5 1.2.1 Die von der Beschwerde aufgeworfenen Fragen,
inwieweit eine Beweiserleichterung in Form einer "starken Vermutung" den Prüfungsumfang nach § 108 VwGO im Rahmen der Plausibilitätsprüfung hinsichtlich des Vorliegens einer Verknüpfung nach § 3a Abs. 3 AsylG von zu unterstellender Verfolgungshandlungen im Sinn des § 3a Abs. 1 und 2 AsylG und einem Verfolgungsgrund nach § 3b AsylG einschränkt,
und
ob syrische Wehrdienstverweigerer, die sich dem Wehrdienst entzogen und vor der Flucht in einer Oppositionshochburg gelebt haben, als soziale Gruppe im Sinne der §§ 3 Abs. 1 Nr. 1 i.V.m. § 3b Abs. 1 Nr. 4 AsylG anzusehen sind,
sind für das angefochtene Berufungsurteil nicht entscheidungserheblich gewesen. Das Berufungsgericht hat offengelassen, ob Personen, die sich dem syrischen Militärdienst entziehen, mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine Verfolgungshandlung im Sinne von § 3a Abs. 1 und 2 AsylG drohe, weil es an der gemäß § 3a Abs. 3 AsylG erforderlichen Verknüpfung zwischen Verfolgungshandlung und einem Verfolgungsgrund im Sinne von § 3 Abs. 1 Nr. 1, § 3b AsylG fehle (UA Bl. 28, 37) und weil nach der aktuellen Erkenntnislage eine Verfolgung wegen einer mit Blick auf die Militärdienstentziehung zugeschriebenen oppositionellen politischen Haltung (§ 3b Abs. 1 Nr. 5, Abs. 2 AsylG, UA Bl. 30 f., 36 f.) oder der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe (§ 3b Abs. 1 Nr. 4 AsylG, UA Bl. 35) nicht zu besorgen sei. Auch liege eine beachtliche Wahrscheinlichkeit der Verfolgung wegen einer Wehrdienstentziehung unter Berücksichtigung des in § 3a Abs. 2 Nr. 5 AsylG aufgenommenen Regelbeispiels einer Verfolgungshandlung i.S.d. § 3a Abs. 1 AsylG nicht vor, weil nach dem aktuellen Stand des Konflikt- und Kriegsgeschehens die Voraussetzungen des § 3a Abs. 2 Nr. 5 AsylG im Falle des Wehr- und Reservedienstes in der syrischen Armee infolge eines Wandels des Umgangs des syrischen Staates mit Personen, die sich dem Militärdienst entziehen, nicht (mehr) als erfüllt anzusehen seien (UA Bl. 26 f.). Mit dieser die Entscheidung insoweit selbständig tragenden tatrichterlichen Feststellung setzt sich die Beschwerde nicht auseinander.

6 Die aufgeworfenen Grundsatzfragen setzen stattdessen das - vom Berufungsgericht gerade verneinte - Vorliegen einer Verfolgungshandlung im Sinne des § 3a Abs. 2 Nr. 4 oder Nr. 5 AsylG als gegeben voraus und beziehen sich allein auf die weitere, die Entscheidung ebenfalls selbständig tragende Erwägung ("Ungeachtet der Frage ..." UA Bl. 28, "Dessen ungeachtet ...", UA Bl. 37), dass die Voraussetzungen des § 3a Abs. 2 Nr. 5 AsylG auch deshalb nicht vorlägen, weil es an der erforderlichen Verknüpfung der Strafverfolgung oder Bestrafung wegen der Verweigerung des Militärdienstes mit einem Verfolgungsgrund fehle.

7 Des Weiteren und unabhängig vom Vorstehenden fehlt es auch insoweit an der Entscheidungserheblichkeit, weil das Berufungsgericht die (geänderten) tatsächlichen Verhältnisse (im Ergebnis abweichend von der Rechtsprechung des OVG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 29. Januar 2021 - 3 B 109.18 -) dahin gewürdigt hat, dass die vom Gerichtshof der Europäischen Union postulierte "starke Vermutung" eines Konnexes von (unterstellter) Verfolgungshandlung und Verfolgungsgrund als widerlegt anzusehen sei (UA Bl. 27 f.). Keine andere Beurteilung rechtfertigt daher, dass der Senat mit Beschluss vom 20. Juli 2021 - 1 B 26.21 (1 C 21.21 ) - gegen das vom Berufungsgericht benannte Urteil des Oberverwaltungsgerichts Berlin-Brandenburg wegen grundsätzlicher Bedeutung die Revision zur Klärung der Frage zugelassen hat,
"welche Anforderungen an die Annahme einer 'starken Vermutung' (EuGH, Urteil vom 19. November 2020 - C-238/19 - RN. 57) für eine Verknüpfung zwischen der Verweigerung des Militärdienstes unter den in Art. 9 Abs. 2 Buchst. e der Richtlinie 2011/95/EU (§ 3a Abs. 2 Nr. 5 AsylG) genannten Voraussetzungen mit einem der in Art. 10 der Richtlinie 2011/95/EU (§ 3a Abs. 3 i.V.m. § 3b AsylG) genannten Verfolgungsgründe - sowie deren Widerlegung - zu stellen sind und welche Bedeutung einer solchen 'starken Vermutung' im Rahmen der richterlichen Überzeugungsbildung (§ 108 Abs. 1 VwGO) zukommt."

8 Denn insoweit sind hier nicht Fragen des rechtlichen Maßstabes, sondern der tatrichterlichen Bewertung betroffen.

9 1.2.2 Die von der Beschwerde des Weiteren formulierte Frage,
ob eine Vorverfolgung im Hinblick auf § 3a Abs. 2 Nr. 5 AsylG auch dann vorliegt, wenn sich der Flüchtling, der sich dem Wehrdienst entzieht, in einem Landesteil aufhält, in dem das syrische Regime zeitweise im Rahmen der kriegerischen Auseinandersetzungen die Kontrolle an Rebellen verloren hat,
beinhaltet ein auf die Tatsachenermittlung gestütztes Begehren, das anhand der konkreten tatsächlichen Umstände des Einzelfalls zu beurteilen ist. Es entzieht sich deshalb einer abstrakten Beantwortung unter Aufstellung allgemeiner Maßstäbe. Im Übrigen hat sich die Frage für das Berufungsgericht nicht entscheidungserheblich gestellt, weil es eine Vorverfolgung des Klägers ausgeschlossen hat. Nach der tatrichterlichen Würdigung der vom Kläger geltend gemachten Fluchtgründe ist das Berufungsgericht erstens zu der Überzeugung gelangt, der Kläger sei nicht vorverfolgt ausgereist und habe im Zeitpunkt, in dem er sein Heimatland Syrien verlassen habe, auch nicht jederzeit mit einer Verfolgung rechnen müssen (UA Bl. 11 f.). Zweitens ist das Berufungsgericht bezogen auf die Frage der Militärdienstentziehung - wiederum unter tatrichterlicher Würdigung der in das Verfahren eingeführten Erkenntnismittel - zu dem generellen Ergebnis gelangt, dass der Umstand, dass der Kläger sich durch seinen Auslandsaufenthalt dem syrischen Militärdienst entzogen hat, keine beachtliche Wahrscheinlichkeit einer flüchtlingsrechtlich relevanten Verfolgung durch den syrischen Staat begründe (UA Bl. 12 ff.). Auf die daran anknüpfende Frage, welche Bedeutung dem besonderen Umstand zukommen könnte, dass sich der Kläger vormals in einem Landesteil aufgehalten hat, in dem das syrische Regime zeitweise im Rahmen der kriegerischen Auseinandersetzungen die Kontrolle an Rebellen verloren hat, hat es deshalb vom Standpunkt des Berufungsgerichts nicht ankommen können. Damit ist die Entscheidungserheblichkeit der aufgeworfenen Rechtsfrage für den Fall des Klägers zu verneinen.

10 2. Ein Verfahrensfehler, der zur Zulassung der Revision führte (§ 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO), ist ebenfalls nicht hinreichend dargelegt (§ 133 Abs. 3 Satz 3 VwGO).

11 2.1 Die Rüge, § 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO sei verletzt, weil die richterliche Überzeugungsbildung einschließlich der Sachverhalts- und Beweiswürdigung unter Verkennung der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union im Urteil vom 19. November 2020 zur "starken Vermutung" (EuGH, Urteil vom 19. November 2020 - C-238/19 - Rn. 57) erfolgt sei, legt schon im Ansatz einen Verfahrensfehler nicht dar. Denn Grundsätze der Sachverhalts- und Beweiswürdigung sind in aller Regel revisionsrechtlich dem sachlichen Recht zuzuordnen (stRspr, vgl. BVerwG, Urteil vom 19. Januar 1990 - 4 C 28.89 - BVerwGE 84, 271 <272>; Beschluss vom 4. Mai 2020 - 1 B 17.20 - juris Rn. 4). Ein einen Verfahrensfehler begründender Verstoß gegen den Grundsatz der freien Beweiswürdigung ("Überzeugungsgrundsatz") im Sinne von § 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO kann ausnahmsweise insbesondere dann gegeben sein, wenn die tatrichterliche Beweiswürdigung auf einem Rechtsirrtum beruht, objektiv willkürlich ist oder allgemeine Sachverhalts- und Beweiswürdigungsgrundsätze, insbesondere gesetzliche Beweisregeln, Natur- oder Denkgesetze oder allgemeine Erfahrungssätze missachtet (BVerwG, Beschluss vom 25. April 2018 - 1 B 11.18 - juris Rn. 3 m.w.N.; zum Übergehen eines nach der Rechtsauffassung des Gerichts entscheidungserheblichen Akteninhalts oder zur Annahme aktenwidriger Tatsachen sowie denkgesetzwidriger Schlussfolgerungen s.a. BVerwG, Beschlüsse vom 8. August 2018 - 1 B 25.18 - Buchholz 402.242 § 60 Abs. 2 ff. AufenthG Nr. 58 Rn. 20 und vom 5. Oktober 2021 - 1 B 63.21 - juris Rn. 9). Dies wird mit der Rüge eines falschen Prüfungsmaßstabes und der damit vorgelagerten Rechtsfrage, welcher Maßstab zugrunde zu legen sei, nicht geltend gemacht.

12 2.2 Soweit mit der Beschwerde zugleich eine Verletzung der gerichtlichen Aufklärungspflicht (§ 86 Abs. 1 VwGO) gerügt worden sein sollte, genügt diese Rüge schon nicht den Darlegungsanforderungen des § 133 Abs. 3 Satz 3 VwGO.

13 Die Rüge einer solchen Verletzung erfordert eine substantiierte Darlegung, hinsichtlich welcher tatsächlichen Umstände Aufklärungsbedarf bestanden hat, welche für geeignet und erforderlich gehaltenen Aufklärungsmaßnahmen hierfür in Betracht gekommen wären und welche tatsächlichen Feststellungen bei Durchführung der unterbliebenen Sachverhaltsaufklärung voraussichtlich getroffen worden wären. Weiterhin muss entweder dargelegt werden, dass bereits im Verfahren vor dem Tatsachengericht, insbesondere in der mündlichen Verhandlung, auf die Vornahme der Sachverhaltsaufklärung, deren Unterbleiben nunmehr gerügt wird, durch einen Beweisantrag hingewirkt worden ist und die Ablehnung der Beweiserhebung im Prozessrecht keine Stütze findet, oder aufgrund welcher Anhaltspunkte sich dem Gericht die bezeichneten Ermittlungen auch ohne ein solches Hinwirken hätten aufdrängen müssen (stRspr, vgl. BVerwG, Beschlüsse vom 15. Februar 2013 - 8 B 58.12 - ZOV 2013, 40 und vom 8. August 2018 - 1 B 25.18 - NVwZ 2019, 61 Rn. 20).

14 Diesen Anforderungen genügt die Beschwerde ersichtlich nicht. Sie hat schon die für erforderlich gehaltenen weiteren Aufklärungsmaßnahmen nicht hinreichend konkretisiert und auch nicht vorgetragen, welche tatsächlichen Feststellungen bei deren Vornahme voraussichtlich getroffen worden wären. Zudem ergibt sich aus dem Beschwerdevorbringen nicht, dass der Kläger durch einen Beweisantrag oder eine hinreichend bestimmte Beweisanregung im Berufungsverfahren auf eine Beweiserhebung hingewirkt hätte oder aufgrund welcher Anhaltspunkte sich dem Berufungsgericht eine weitere Sachverhaltsaufklärung hätte aufdrängen müssen.

15 3. Der Senat sieht von einer weiteren Begründung ab (§ 133 Abs. 5 Satz 2 Halbs. 2 VwGO).

16 4. Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO. Gerichtskosten werden gemäß § 83b AsylG nicht erhoben. Der Gegenstandswert ergibt sich aus § 30 Abs. 1 Satz 1 Halbs. 1 RVG. Gründe für eine Abweichung gemäß § 30 Abs. 2 RVG liegen nicht vor.