Beschluss vom 10.05.2023 -
BVerwG 4 B 19.22ECLI:DE:BVerwG:2023:100523B4B19.22.0
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Zitiervorschlag
BVerwG, Beschluss vom 10.05.2023 - 4 B 19.22 - [ECLI:DE:BVerwG:2023:100523B4B19.22.0]
Beschluss
BVerwG 4 B 19.22
- OVG Berlin-Brandenburg - 04.05.2022 - AZ: 6 A 18/21
In der Verwaltungsstreitsache hat der 4. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
am 10. Mai 2023
durch die Vorsitzende Richterin am Bundesverwaltungsgericht Schipper
und die Richter am Bundesverwaltungsgericht Brandt und Dr. Hammer
beschlossen:
- Die Beschwerde der Beklagten gegen die Nichtzulassung der Revision in dem Urteil des Oberverwaltungsgerichts Berlin-Brandenburg vom 4. Mai 2022 wird zurückgewiesen.
- Die Beklagte trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.
- Der Wert des Streitgegenstandes wird für das Beschwerdeverfahren auf 40 428,71 € festgesetzt.
Gründe
1 Die auf die Zulassungsgründe nach § 132 Abs. 2 Nr. 1 und 3 VwGO gestützte Beschwerde hat keinen Erfolg. Sie ist jedenfalls unbegründet.
2 1. Die Rechtssache hat nicht die grundsätzliche Bedeutung, die ihr die Beschwerde beimisst. Grundsätzlich bedeutsam ist eine Rechtssache, wenn in dem angestrebten Revisionsverfahren die Klärung einer bisher höchstrichterlich ungeklärten, in ihrer Bedeutung über den der Beschwerde zu Grunde liegenden Einzelfall hinausgehenden, klärungsbedürftigen und entscheidungserheblichen Rechtsfrage des revisiblen Rechts (§ 137 Abs. 1 VwGO) zu erwarten ist. In der Beschwerdebegründung muss dargelegt (§ 133 Abs. 3 Satz 3 VwGO), also näher ausgeführt werden, dass und inwieweit eine bestimmte Rechtsfrage des revisiblen Rechts im allgemeinen Interesse klärungsbedürftig und warum ihre Klärung in dem beabsichtigten Revisionsverfahren zu erwarten ist (stRspr, vgl. BVerwG, Beschlüsse vom 14. Oktober 2019 - 4 B 27.19 - Buchholz 406.11 § 34 BauGB Nr. 225 Rn. 4 und vom 12. Mai 2020 - 4 BN 3.20 - juris Rn. 3).
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Die von der Beklagten als rechtsgrundsätzlich bedeutsam bezeichnete Frage,
ob eine Planfeststellungsbehörde berechtigt ist, in Abweichung von den Regelungen des Gesetzes zum Schutz gegen Fluglärm in einem Planfeststellungsbeschluss Ansprüche Dritter über die Erstattung von Aufwendungen für bauliche Schallschutzmaßnahmen an Neubauten auf Grundstücken festzulegen, die zum Zeitpunkt der Festsetzung des Lärmschutzbereichs über keine gesicherte Erschließung verfügten,
rechtfertigt nicht die Zulassung der Revision. Die Beschwerde legt weder die Entscheidungserheblichkeit noch die Klärungsbedürftigkeit der Frage dar.
4 Das Oberverwaltungsgericht hat die geltend gemachten Ansprüche auf Gewährung von baulichem Schallschutz für das auf der Grundlage einer Baugenehmigung vom 9. Mai 2017 im Jahr 2018 fertiggestellte Wohngebäude der Kläger allein nach Maßgabe der Lärmschutzauflagen unter Teil A II. Ziffer 5.1.2 und 5.1 .3 des Planfeststellungsbeschlusses "Ausbau des Verkehrsflughafens Berlin-Schönefeld" vom 13. August 2004 geprüft. Zu den von der Beschwerde angeführten Vorschriften der §§ 5 und 9 des Gesetzes zum Schutz gegen Fluglärm i. d. F. der Bekanntmachung vom 31. Oktober 2007 (BGBl. I S. 2550 - FluglärmG) und deren Voraussetzungen bzw. Auslegung hat sich das Urteil dagegen nicht verhalten. Hierzu bestand nach § 13 Abs. 1 FluglärmG auch kein Anlass. § 13 Abs. 1 Satz 1 FluglärmG legt ausdrücklich fest, dass das Fluglärmschutzgesetz die Erstattung von Aufwendungen für bauliche Schallschutzmaßnahmen einschließlich der zugrundeliegenden Schallschutzanforderungen auch mit Wirkung für die Genehmigungs- und Planfeststellungsverfahren nach §§ 6 und 8 LuftVG regelt (BVerwG, Urteil vom 4. April 2012 - 4 C 8.09 u. a. - BVerwGE 142, 234 Rn. 178 ff.; Beschlüsse vom 28. Januar 2016 - 4 B 43.14 - Buchholz 442.40 § 9 LuftVG Nr. 15 Rn. 10 und vom 5. Februar 2020 - 4 B 32.18 - juris Rn. 13 f.). Nach § 13 Abs. 1 Satz 2 FluglärmG bleiben jedoch weitergehende Regelungen, die in einer Genehmigung, Planfeststellung oder Plangenehmigung, die bis zum 6. Juni 2007 erteilt worden ist, getroffen worden sind, unberührt. Diese als Klarstellung verstandene Regelung (BT-Drs. 16/3813 S. 19) hat das Oberverwaltungsgericht seiner Entscheidung zwar nicht ausdrücklich, aber der Sache nach zugrunde gelegt. Sie ist einschlägig, denn der ursprüngliche Planfeststellungsbeschluss ist bereits unter dem 13. August 2004 erlassen worden. Die darin festgesetzten Lärmschutzauflagen zum Nachtschutz (A II. 5.1.3) sind durch den Planergänzungsbeschluss ("Lärmschutzkonzept BBI") vom 20. Oktober 2009 unter Teil A. I.2 nicht zu Ungunsten der Lärmbetroffenen geändert worden (PEB Teil C.V.3 S. 185). Grundsätzlichen Klärungsbedarf zu § 13 Abs. 1 FluglärmG zeigt die Beschwerde nicht auf.
5 Maßgeblich für das Oberverwaltungsgericht war danach nicht die Auslegung des Fluglärmschutzgesetzes, sondern die des Planfeststellungsbeschlusses. An die tatrichterliche Auslegung des in den Lärmschutzauflagen verwendeten Begriffs "bebaubar" ist der Senat gemäß § 137 Abs. 2 VwGO mangels durchgreifender Verfahrensrügen (siehe nachfolgend) gebunden.
6 2. Die Beschwerde dringt auch mit den Verfahrensrügen nicht durch.
7 Ein Verfahrensmangel im Sinne des § 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO ist nur dann bezeichnet, wenn er sowohl in den ihn (vermeintlich) begründenden Tatsachen als auch in seiner rechtlichen Würdigung substantiiert dargetan wird (stRspr, vgl. BVerwG, Beschluss vom 19. August 1997 - 7 B 261.97 - Buchholz 310 § 133 <n. F.> VwGO Nr. 26 S. 14 m. w. N.). Die Frage, ob das vorinstanzliche Verfahren an einem Verfahrensmangel leidet, ist dabei vom materiell-rechtlichen Standpunkt der Tatsacheninstanz aus zu beurteilen, selbst wenn dieser verfehlt sein sollte (stRspr, vgl. etwa Urteil vom 14. Januar 1998 - 11 C 11.96 - BVerwGE 106, 115 <119>; Beschluss vom 3. August 2017 - 4 BN 11.17 - BRS 85 Nr. 184 S. 1214 m. w. N.). Sinn der Revisionszulassung wegen Verfahrensmängeln ist die Kontrolle des Verfahrensgangs, nicht der Rechtsfindung. Inhaltliche Kritik an der Entscheidung führt nicht auf das Vorliegen von Verfahrensfehlern (BVerwG, Beschluss vom 21. Oktober 2020 - 4 BN 16.20 - juris Rn. 6 m. w. N.).
8 (Angebliche) Fehler der Sachverhalts- und Beweiswürdigung des Tatsachengerichts, die dem Überzeugungsgrundsatz gemäß § 108 Abs. 1 VwGO genügen muss, sind regelmäßig nicht dem Verfahrensrecht, sondern dem sachlichen Recht zuzuordnen. Die Grenzen der Freiheit der richterlichen Überzeugungsbildung sind mit der Folge des Vorliegens eines Verfahrensfehlers aber dann überschritten, wenn das Gericht seiner Sachverhalts- und Beweiswürdigung nicht das Gesamtergebnis des Verfahrens zugrunde legt, sondern nach seiner Rechtsauffassung entscheidungserheblichen Akteninhalt übergeht oder aktenwidrige Tatsachen annimmt oder wenn die von ihm gezogenen Schlussfolgerungen gegen die Denkgesetze verstoßen oder sonst von objektiver Willkür geprägt sind (stRspr, vgl. BVerwG, Urteil vom 5. Mai 2015 - 4 CN 4.14 - Buchholz 406.11 § 1 BauGB Nr. 136 Rn. 12 und Beschluss vom 23. August 2021 - 4 BN 7.21 - juris Rn. 3 m. w. N.).
9 a) Die Rüge, das Oberverwaltungsgericht habe zu Unrecht auf eine Inzidentkontrolle des Bebauungsplans in der Fassung von 1996 verzichtet, führt nicht auf einen Verfahrensfehler. Nach der maßgeblichen Rechtsauffassung des Oberverwaltungsgerichts ist eine solche Überprüfung im Rahmen einer Klage auf passiven Schallschutz nach Maßgabe der Nebenbestimmungen eines Planfeststellungsbeschlusses grundsätzlich nicht statthaft (UA S. 13 ff.). Eine weitergehende Sachaufklärung war daher nicht geboten. Hiergegen kann sich die Beklagte nicht mit einer Verfahrensrüge wenden.
10 b) Die Beschwerde macht weiter geltend, das Oberverwaltungsgericht habe seiner Entscheidung widersprüchliche Maßstäbe zugrunde gelegt und entscheidungserheblichen Sachverhalt nicht gewürdigt. Einerseits habe es für die Bebaubarkeit als ausreichend erachtet, dass das Grundstück am Stichtag im Geltungsbereich eines nicht nach § 47 VwGO für unwirksam erklärten Bebauungsplans belegen war. Andererseits habe es zusätzlich verlangt, dass die Baugenehmigung auch auf der Grundlage des am Stichtag geltenden Bebauungsplans erteilt wurde (UA S. 15 f.). Das sei hier aber nicht der Fall.
11 Die Rüge geht fehl. Die Beschwerde missversteht die Ausführungen des Oberverwaltungsgerichts und unterlegt ihnen einen sinnwidrigen Inhalt. Das Oberverwaltungsgericht hat zur Kenntnis genommen, dass der Bebauungsplan von 1996 im Jahr 2003, also nach dem Stichtag und vor Erteilung der Baugenehmigung, geändert worden ist (UA S. 6, 13). Es hat diesem Umstand aber keine rechtliche Bedeutung beigemessen, weil es davon ausgegangen ist, dass bereits der Bebauungsplan von 1996 für das Grundstück der Kläger ein allgemeines Wohngebiet festsetzte. Dies entspricht dem Vorbringen der Beklagten im Verfahren vor dem Oberverwaltungsgericht (vgl. Schriftsatz vom 22. Dezember 2021, S. 2 unter I. 2.). Aus dem Hinweis der Beschwerde auf die Begründung zur 1. Änderung des Bebauungsplans, wonach das Gebiet gegenwärtig als Außenbereich anzusehen ist, folgt nichts Anderes. Damit wird offensichtlich die bauplanungsrechtliche Bewertung vor Erlass des ursprünglichen Bebauungsplans von 1996 wiedergegeben. Soweit sich die Beschwerde auf schon am Stichtag bekannte, eklatante und ein schutzwürdiges Vertrauen der Grundstückseigentümer ausschließende Mängel des ursprünglichen Bebauungsplans beruft, zielt dies der Sache nach wiederum auf die Notwendigkeit einer Inzidentkontrolle, der das Oberverwaltungsgericht eine Absage erteilt hat. Der Aussagegehalt der als widersprüchlich erachteten Formulierung des Oberverwaltungsgerichts erschöpft sich mithin in der Feststellung, dass die bereits durch den ursprünglichen Bebauungsplan begründete Bebaubarkeit durch dessen Änderung nicht entfallen ist, sondern bei Erteilung der Baugenehmigung fortwirkte.
12 c) Die Beschwerde rügt eine unzureichende Sachverhalts- und Beweiswürdigung im Hinblick auf die Erschließung des Grundstücks der Kläger am Stichtag 15. Mai 2000. Auch insoweit übersieht sie jedoch, dass es hierauf nach der Rechtsauffassung des Oberverwaltungsgerichts und dessen Auslegung der Lärmschutzauflagen des Planfeststellungsbeschlusses nicht ankam.
13 Das Vorbringen, dieses Auslegungsergebnis widerspreche der Begründung des Planfeststellungsbeschlusses (S. 656), die hinsichtlich der Bebaubarkeit auf die gesetzlichen Tatbestände der §§ 30, 34 BauGB verweise und damit auch eine gesicherte Erschließung verlange, führt nicht auf einen Verstoß gegen den Überzeugungsgrundsatz. Das Oberverwaltungsgericht hat seine Auffassung, dass der Planfeststellungsbeschluss für die Frage der Bebaubarkeit keine Betrachtung der Erschließungssituation einzelner Grundstücke verlangt, ausführlich begründet (UA S. 16 ff.). Unter anderem hat es darauf verwiesen, dass die §§ 30, 34 BauGB in ihrem unmittelbaren Anwendungsbereich - anders als die Lärmschutzauflagen - nicht die grundsätzliche Bebaubarkeit von Grundstücken, sondern die bauplanungsrechtliche Zulässigkeit einzelner Vorhaben betreffen und hierfür eine gesicherte Erschließung verlangen. Dass die Differenzierung zwischen der Bebaubarkeit im Sinne der Belegenheit des Grundstücks im Geltungsbereich eines Bebauungsplans oder im unbeplanten Innenbereich und der konkreten Vorhabenzulassung gegen die Denkgesetze verstößt oder willkürlich ist, legt die Beschwerde nicht dar. Dafür reicht die Behauptung, die Auslegung des Oberverwaltungsgerichts verstoße gegen § 29 BauGB, der die Vorhabenzulassung in den Blick nimmt, nicht aus.
14 Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO. Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 47 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 3, § 52 Abs. 3 GKG.