Beschluss vom 05.06.2024 -
BVerwG 4 B 23.23ECLI:DE:BVerwG:2024:050624B4B23.23.0

  • Zitiervorschlag

    BVerwG, Beschluss vom 05.06.2024 - 4 B 23.23 - [ECLI:DE:BVerwG:2024:050624B4B23.23.0]

Beschluss

BVerwG 4 B 23.23

  • VG Cottbus - 12.04.2018 - AZ: 3 K 1023/15
  • OVG Berlin-Brandenburg - 21.09.2023 - AZ: 10 B 9.19

In der Verwaltungsstreitsache hat der 4. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
am 5. Juni 2024
durch die Vorsitzende Richterin am Bundesverwaltungsgericht Schipper und die Richter am Bundesverwaltungsgericht Brandt und Dr. Seidel
beschlossen:

  1. Die Beschwerde der Klägerin gegen die Nichtzulassung der Revision in dem Urteil des Oberverwaltungsgerichts Berlin-Brandenburg vom 21. September 2023 wird zurückgewiesen.
  2. Die Klägerin trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.
  3. Der Wert des Streitgegenstandes für das Beschwerdeverfahren wird auf 7 000 € festgesetzt.

Gründe

1 Die auf die Zulassungsgründe nach § 132 Abs. 2 Nr. 1 und 3 VwGO gestützte Beschwerde hat keinen Erfolg.

2 Das Oberverwaltungsgericht hat die Berufung gegen das klageabweisende Urteil des Verwaltungsgerichts über eine bauaufsichtliche Verfügung abgewiesen. Der Klägerin ist darin u. a. die gewerbliche Nutzung eines Grundstücks als Park- bzw. Abstellplatz für die Fahrzeuge ihres Schul-, Behinderten- und Krankenfahrdienstes untersagt worden. Das Oberverwaltungsgericht hat ausgeführt, dass die jetzige Nutzung, die auf eine im Zeitraum von 2004 bis 2008 erfolgte wesentliche Änderung der ursprünglichen, bereits in den Jahren 1989 und 1990 bestehenden Anlage sowie eine damit verbundene Nutzungsänderung zurückgehe, weder durch eine erforderliche Baugenehmigung gedeckt und somit formell illegal sei, noch nach Maßgabe des § 34 Abs. 2 BauGB genehmigungsfähig und damit materiell illegal sei. Auf einen Bestandsschutz auf der Grundlage der nach dem Recht der DDR zu beurteilenden Verhältnisse in den Jahren 1989 und 1990 könne die Klägerin sich keinesfalls berufen.

3 1. Mit ihrem Vorbringen, die Ausführungen des Berufungsgerichts zur baurechtlichen Bewertung der aktuellen Nutzung des Grundstücks beruhten auf einem Verfahrensfehler (§ 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO), dringt die Beschwerde nicht durch.

4 a) Die ausdrücklich erhobene Gehörsrüge ist jedenfalls unbegründet.

5 aa) Eine Überraschungsentscheidung, wie von der Klägerin in erster Linie beanstandet, liegt nicht vor.

6 Eine dem verfassungsrechtlichen Anspruch genügende Gewährung rechtlichen Gehörs setzt voraus, dass der Verfahrensbeteiligte bei Anwendung der von ihm zu verlangenden Sorgfalt zu erkennen vermag, auf welchen Tatsachenvortrag es für die Entscheidung ankommen kann. Art. 103 Abs. 1 GG verlangt jedoch grundsätzlich nicht, dass das Gericht die Beteiligten vorab auf seine Rechtsauffassung hinweist. Denn die tatsächliche und rechtliche Würdigung ergibt sich regelmäßig erst auf Grund der abschließenden Beratung nach der mündlichen Verhandlung. Eine unzulässige Überraschungsentscheidung liegt daher nur dann vor, wenn das Gericht einen bis dahin nicht erörterten rechtlichen oder tatsächlichen Gesichtspunkt zur Grundlage seiner Entscheidung macht und damit dem Rechtsstreit eine Wendung gibt, mit der auch ein gewissenhafter und kundiger Prozessbeteiligter nach dem bisherigen Prozessverlauf - selbst unter Berücksichtigung der Vielfalt vertretbarer Rechtsauffassungen - nicht zu rechnen brauchte (vgl. BVerfG, Beschluss vom 8. November 2022 - 2 BvR 2480/10 u. a. - BVerfGE 163, 363 Rn. 156; BVerwG, Beschluss vom 23. August 2023 ‌- 4 BN 18.23 - juris Rn. 17 m. w. N.). Auf derart unvorhersehbare Gesichtspunkte hat das Oberverwaltungsgericht nicht entscheidungstragend abgestellt.

7 Dies gilt zum einen in Bezug auf die formelle Illegalität der Nutzung. Das Berufungsgericht hat die zwischen den Jahren 2004 und 2008 erfolgten Maßnahmen in einer Gesamtbetrachtung als eine Genehmigungspflicht nach Maßgabe des damals einschlägigen § 54 BbgBO 2003 auslösende bauliche Änderung und Nutzungsänderung eingestuft. Dass sich eine Baugenehmigungspflicht aus solchen Änderungen ergeben kann, ist - wie auch in der aktuell geltenden Fassung des § 59 BbgBO - ausdrücklich in der vom Oberverwaltungsgericht angewandten Vorschrift geregelt. Zudem handelt es sich um eine im Bauordnungsrecht gängige Fragestellung (vgl. z. B. die Rechtsprechungsnachweise im angegriffenen Berufungsurteil - UA S. 12 - sowie BVerwG, Beschluss vom 7. November 2002 - 4 B 64.02 - BRS 66 Nr. 70 S. 327; Urteil vom 18. November 2010 ‌- 4 C 10.09 - BVerwGE 138, 166 Rn. 12 m. w. N.), deren Relevanz die anwaltlich vertretene Klägerin als gewissenhafte Prozessbeteiligte auch ohne ausdrücklichen richterlichen Hinweis in Betracht ziehen musste.

8 Zum anderen war die für die Prüfung der Genehmigungsfähigkeit und folglich der materiellen Illegalität erhebliche Frage nach der zutreffenden Gebietseinordnung bereits im erstinstanzlichen Urteil erörtert worden. Von daher musste die Klägerin damit rechnen, dass sich diese Fragen erneut im Berufungsverfahren in entscheidungserheblicher Weise stellen und erneut nicht in ihrem Sinne beantwortet werden.

9 bb) Hinsichtlich der Ausführungen zur Gebietseinordnung liegt ein Gehörsverstoß auch nicht etwa deswegen vor, weil das Berufungsgericht seiner Pflicht nicht nachgekommen sei, das tatsächliche Vorbringen der Beteiligten zur Kenntnis zu nehmen und bei seiner Entscheidung in Erwägung zu ziehen.

10 Grundsätzlich ist davon auszugehen, dass ein Gericht dieser Pflicht genügt. Es ist namentlich nicht verpflichtet, sich mit jedem Vorbringen in den Entscheidungsgründen ausdrücklich zu befassen. Vielmehr müssen im Einzelfall besondere Umstände deutlich machen, dass das Vorbringen eines Beteiligten entweder überhaupt nicht zur Kenntnis genommen oder doch bei der Entscheidung nicht erwogen worden ist (vgl. BVerfG, Kammerbeschluss vom 23. Juli 2003 ‌- 2 BvR 624/01 - NVwZ-RR 2004, 3 <4>; BVerwG, Beschluss vom 28. Juli 2021 ‌- 4 BN 26.21 - juris Rn. 2).

11 Entgegen der Beschwerde wurde der Vortrag der Klägerin im Berufungsurteil ausdrücklich berücksichtigt. Es begründet keinen Gehörsverstoß, wenn das Gericht dem Vorbringen nicht folgt und sich deren Rechtsauffassung nicht anschließt (stRspr, vgl. nur BVerwG, Beschluss vom 6. Februar 2024 ‌- 9 B 28.23 - juris Rn. 32 m. w. N.).

12 b) Die weiteren Rügen, wonach das Berufungsgericht bestimmte Auffassungen nicht hinreichend begründet habe, führen ebenso wenig auf einen Verfahrensfehler. Es bleibt schon unklar, welche prozessuale Anforderung die Klägerin als verletzt ansieht, zumal die Beschwerdebegründung auch inhaltlich den Darlegungsanforderungen etwa für eine Verletzung des § 108 Abs. 1 VwGO (Überzeugungsgrundsatz, vgl. z. B. BVerwG, Beschluss vom 11. Juli 2023 - 4 B 4.23 - juris Rn. 5), des § 138 Nr. 6 VwGO (vgl. hierzu BVerwG, Beschluss vom 15. März 2021‌ - 4 B 14.20 - juris Rn. 38 f.) oder des § 86 Abs. 1 VwGO (Aufklärungsrüge, vgl. hierzu BVerwG, Beschluss vom 7. Juni 2022 - 4 BN 1.22 - juris Rn. 25) nicht genügt.

13 2. Auf die weiteren Verfahrensrügen und die Grundsatzrüge, die sich auf die Frage eines Bestandsschutzes in Anknüpfung an die in der DDR geltende Rechtslage beziehen, kommt es nicht an. Die darauf bezogenen Ausführungen des Berufungsgerichts sind ausweislich seiner rechtlichen Weichenstellung, gegen die die Beschwerde sich ohne Erfolg wendet, nicht entscheidungserheblich.

14 Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO. Die Festsetzung des Streitwerts folgt aus § 47 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 3, § 52 Abs. 1 GKG. Dabei wurde die Beschränkung der Beschwerde auf die Nutzungsuntersagung berücksichtigt.