Beschluss vom 04.12.2018 -
BVerwG 4 B 3.18ECLI:DE:BVerwG:2018:041218B4B3.18.0
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Zitiervorschlag
BVerwG, Beschluss vom 04.12.2018 - 4 B 3.18 - [ECLI:DE:BVerwG:2018:041218B4B3.18.0]
Beschluss
BVerwG 4 B 3.18
- VG Stuttgart - 09.05.2017 - AZ: VG 13 K 6089/15
- VGH Mannheim - 18.10.2017 - AZ: VGH 3 S 1457/17
In der Verwaltungsstreitsache hat der 4. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
am 4. Dezember 2018
durch den Vorsitzenden Richter am Bundesverwaltungsgericht Prof. Dr. Rubel und die Richter am Bundesverwaltungsgericht Petz und Prof. Dr. Külpmann
beschlossen:
- Die Beschwerde der Kläger gegen die Nichtzulassung der Revision in dem Urteil des Verwaltungsgerichtshofs Baden-Württemberg vom 18. Oktober 2017 wird zurückgewiesen.
- Die Kläger tragen die Kosten des Beschwerdeverfahrens als Gesamtschuldner einschließlich der außergerichtlichen Kosten des Beigeladenen.
- Der Wert des Streitgegenstandes wird für das Beschwerdeverfahren auf 15 000 € festgesetzt.
Gründe
1 Die auf sämtliche Zulassungsgründe nach § 132 Abs. 2 VwGO gestützte Beschwerde bleibt ohne Erfolg.
2 1. Die Rechtssache hat nicht die grundsätzliche Bedeutung (§ 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO), die ihr die Beschwerde beimisst.
3 Grundsätzlich bedeutsam ist eine Rechtssache, wenn in dem angestrebten Revisionsverfahren die Klärung einer bisher höchstrichterlich ungeklärten, in ihrer Bedeutung über den der Beschwerde zu Grunde liegenden Einzelfall hinausgehenden, klärungsbedürftigen und entscheidungserheblichen Rechtsfrage des revisiblen Rechts (§ 137 Abs. 1 VwGO) zu erwarten ist.
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Als rechtsgrundsätzlich klärungsbedürftig wirft die Beschwerde die Frage auf,
ob - bei (unstreitig) bestehender erheblicher Vorbelastung - ohne Ermittlung der Vorbelastung das Irrelevanzkriterium von 2 % Geruchsstunden/Jahr gemäß der Geruchsimmissions-Richtlinie herangezogen und bei deren Unterschreitung vom Nichtvorliegen schädlicher Umwelteinwirkungen im Sinne von § 35 Abs. 3 Satz 1 Nr. 3 BauGB ausgegangen werden kann.
5 Die Frage ist keine in einem Revisionsverfahren klärungsfähige Rechtsfrage, sondern eine an die tatsächlichen Feststellungen des Verwaltungsgerichtshofs anknüpfende Tatsachenfrage.
6 Die rechtlichen Maßstäbe hat der Senat in seinem Urteil vom 27. Juni 2017 - 4 C 3.16 - (BVerwGE 159, 187 Rn. 12 m.w.N.) zusammengefasst: Gemäß § 35 Abs. 1 BauGB stehen einem privilegiert zulässigen Außenbereichsvorhaben öffentliche Belange unter anderem dann entgegen, wenn das Vorhaben schädliche Umwelteinwirkungen im Sinne von § 35 Abs. 3 Satz 1 Nr. 3 BauGB i.V.m. § 3 Abs. 1 BImSchG hervorrufen kann. Hierunter fallen auch Geruchsbelästigungen, die nach Art, Ausmaß oder Dauer geeignet sind, erhebliche Belästigungen für die Allgemeinheit oder die Nachbarschaft herbeizuführen. Ist die Schwelle der Erheblichkeit - wie bei Geruchsimmissionen - nicht durch Gesetz, Rechtsverordnung oder normkonkretisierende Verwaltungsvorschrift bestimmt, kommt es darauf an, ob die Immissionen das nach der gegebenen Situation zumutbare Maß überschreiten. Die Zumutbarkeitsgrenze ist auf Grund einer umfassenden Würdigung aller Umstände des Einzelfalls und insbesondere der speziellen Schutzwürdigkeit des jeweiligen Baugebiets zu bestimmen. Für die Beurteilung der Zumutbarkeit von Gerüchen darf auch auf die Geruchsimmissions-Richtlinie (GIRL) als Orientierungshilfe zurückgegriffen werden, wobei sich aber jede schematische Anwendung der dort bestimmten Immissionswerte verbietet.
7 Der Verwaltungsgerichtshof (UA S. 10) hat sich dieser Rechtsprechung angeschlossen. Er hat angenommen, dass unter den Voraussetzungen der Nr. 3.3 GIRL von einer Ermittlung der Vorbelastung abgesehen werden könne, wenn der von der zu beurteilenden Anlage in ihrer Gesamtheit zu erwartende Immissionsbeitrag auf keiner Beurteilungsfläche, auf der sich Personen nicht nur vorübergehend aufhalten, den Wert 0,02 (2 % der Jahresgeruchsstunden) überschreitet. Bei Einhaltung dieses Wertes sei davon auszugehen, dass die Anlage die belästigende Wirkung der vorhandenen Belastung nicht relevant erhöhe (Irrelevanz der zu erwartenden Zusatzbelastung - Irrelevanzkriterium).
8 Die Geruchsimmissions-Richtlinie ist weder Rechtsnorm, noch kommt ihr die Qualität einer normkonkretisierenden Verwaltungsvorschrift zu. Sie ist ein technisches Regelwerk, das für die Beurteilung der Zumutbarkeit von Gerüchen nicht rechtssatzartig, insbesondere nicht im Sinne einer Grenzwertregelung, sondern lediglich in ihrer Bedeutung eines antizipierten generellen Sachverständigengutachtens (BVerwG, Beschluss vom 5. August 2015 - 4 BN 28.15 - BRS 83 Nr. 43 (2015) Rn. 5) als Orientierungshilfe herangezogen werden darf (BVerwG, Urteil vom 27. Juni 2017 - 4 C 3.16 - BVerwGE 159, 187 Rn. 12 m.w.N.). Auch ihre Auslegung ist deshalb nicht Rechtsanwendung, sondern auf der Grundlage des in der Richtlinie zusammengefassten sachverständigen Wissens Tatsachenfeststellung. Maßgeblich für die Bestimmung der Zumutbarkeitsgrenze bleiben die konkreten Umstände des Einzelfalls, die einer umfassenden Würdigung zu unterziehen sind (BVerwG, Urteil vom 27. Juni 2017 a.a.O.). Das gilt auch für das in der Geruchsimmissions-Richtlinie enthaltene Irrelevanzkriterium von 2 % der Jahresgeruchsstunden. Hierauf bezogene Fragen betreffen ebenfalls nur die gerichtliche Tatsachenfeststellung (vgl. z.B. BVerwG, Beschluss vom 21. Dezember 1999 - 7 B 116.99 - juris) und sind einer revisionsgerichtlichen Überprüfung entzogen.
9 2. Die Revision ist auch nicht nach § 132 Abs. 2 Nr. 2 VwGO wegen der behaupteten Abweichungen des angegriffenen Urteils von Entscheidungen des Bundesverwaltungsgerichts zuzulassen.
10 Eine die Revision eröffnende Divergenz ist nur dann im Sinne von § 133 Abs. 3 Satz 3 VwGO hinreichend bezeichnet, wenn die Beschwerde einen inhaltlich bestimmten, die angefochtene Entscheidung tragenden abstrakten Rechtssatz benennt, mit dem die Vorinstanz einem in der Rechtsprechung (unter anderem) des Bundesverwaltungsgerichts aufgestellten ebensolchen entscheidungstragenden Rechtssatz in Anwendung derselben Rechtsvorschrift widersprochen hat (z.B. BVerwG, Beschluss vom 19. August 1997 - 7 B 261.97 - NJW 1997, 3328).
11 a) Eine Abweichung sieht die Beschwerde zum einen darin, dass sich nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (unter anderem Urteil vom 27. Juni 2017 - 4 C 3.16 - BVerwGE 159, 187) jede schematische Anwendung bestimmter Immissionswerte der Geruchsimmissions-Richtlinie verbiete, während der Verwaltungsgerichtshof entgegen dieser Rechtsprechung den Immissionswert aus der Geruchsimmissions-Richtlinie bezüglich der Irrelevanzgrenze schematisch angewandt bzw. jedenfalls die Tatsache bzw. den Grad der Vorbelastung unterhalb der Grenze zur Gesundheitsgefahr völlig unberücksichtigt gelassen habe. Damit wendet sich die Beschwerde gegen die Anwendung der Geruchsimmissions-Richtlinie. Einen inhaltlich bestimmten, die angefochtene Entscheidung tragenden abstrakten Rechtssatz, mit dem der Verwaltungsgerichtshof dem Bundesverwaltungsgericht die Gefolgschaft verweigert hätte, benennt die Beschwerde nicht. Eine Divergenz im Sinne von § 132 Abs. 2 Nr. 2 VwGO ist damit nicht dargetan (z.B. BVerwG, Beschluss vom 4. April 1997 - 1 B 258.96 - juris Rn. 4 ff., insoweit nicht veröffentlicht in Buchholz 402.5 WaffG Nr. 77).
12 b) Die Beschwerde entnimmt dem vorgenannten Urteil des Bundesverwaltungsgerichts die "Feststellung", dass in einem erheblich vorbelasteten Gebiet ein weiteres emittierendes Vorhaben zugelassen werden könne, wenn hierdurch die vorhandene Immissionssituation verbessert oder aber zumindest nicht verschlechtert werde, sofern die Vorbelastung die Grenze zur Gesundheitsgefahr noch nicht überschritten habe. Sie folgert hieraus, dass die Zulassung eines weiteren Vorhabens nicht ohne Weiteres, jedenfalls nicht ohne Prüfung der Vorbelastung zugelassen werden könne, wenn das hinzukommende Vorhaben die vorhandene Immissionssituation verschlechtere. Das Vorhaben des Beigeladenen verschlechtere aber die vorhandene Immissionssituation, weshalb im Sinne einer umfassenden Würdigung der Umstände des Einzelfalls der Grad der bestehenden Vorbelastung hätte ermittelt werden müssen. Eine Rechtssatzdivergenz ist auch damit nicht dargetan. Denn weder hat der Senat einen Rechtssatz des Inhalts, dass die Zulassung eines weiteren Vorhabens, das die vorhandene Immissionssituation verschlechtere, auch im Fall der Irrelevanz der Zusatzbelastung der Prüfung der Vorbelastung bedürfe, ausdrücklich formuliert oder sachgedanklich vorausgesetzt, noch benennt die Beschwerde einen von der Vorinstanz formulierten, über die Tatsachenwürdigung des konkreten Einzelfalls hinausgehenden abstrakten Rechtssatz.
13 c) Entsprechendes gilt, soweit die Beschwerde eine Abweichung vom Beschluss des Senats vom 28. Juli 2010 - 4 B 29.10 - (ZfBR 2010, 792) rügt. Sie entnimmt dem Beschluss die Aussage, dass es auch unterhalb der Schwelle der Gesundheitsgefährdung als äußerster Grenze dessen, was im Nachbarverhältnis als zumutbar hinzunehmen sei, eine Zumutbarkeitsschwelle gebe, die sich an der konkreten Schutzwürdigkeit und Schutzbedürftigkeit der betreffenden Rechtsgüter auszurichten habe. Abweichend hiervon habe der Verwaltungsgerichtshof (fälschlicherweise) festgestellt, dass die Heranziehung der Irrelevanzregelung ohne Prüfung der Vorbelastung rechtlich unbedenklich sei, weil die Kläger selbst nicht behauptet hätten, dass die Grenze zur Gesundheitsgefahr überschritten werde. Damit habe der Verwaltungsgerichtshof ausgedrückt, dass bei Einhaltung der Irrelevanzgrenze unzumutbare Geruchsimmissionen unterhalb der Schwelle der Gesundheitsgefahr nicht zu befürchten seien und die Vorbelastung nicht betrachtet werden müsse. Indes hat sich das Bundesverwaltungsgericht in diesem Beschluss zum Irrelevanzkriterium nicht geäußert, auf das aber der Verwaltungsgerichtshof im Rahmen seiner Tatsachenwürdigung entscheidungstragend abgestellt hat.
14 3. Die behaupteten Verfahrensfehler (§ 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO) liegen ebenfalls nicht vor.
15 a) Das angegriffene Urteil ist keine unzulässige Überraschungsentscheidung.
16 aa) Aus Sicht der Beschwerde ist das vorinstanzliche Urteil überraschend, weil der Verwaltungsgerichtshof (UA S. 14) davon ausgegangen sei, dass mit der angegriffenen Genehmigung erstmalig eine Anlage genehmigt worden sei, die das Irrelevanzkriterium von 0,02 nicht überschreite und deshalb der klägerseits erhobene Einwand einer unendlichen Kumulation nicht durchgreife. Weder das Gericht noch die Behörde - so die Beschwerde - habe jemals dazu Feststellungen getroffen, wie groß die Immissionsbeiträge der bereits bestehenden Tierhaltungsanlagen seien. Bei der Darstellung im angegriffenen Urteil handele es sich deshalb um eine ins Blaue hinein aufgestellte Vermutung. Auch die Darstellung, dass der in der mündlichen Verhandlung anwesende Kreisbaumeister sowie die Vertreterin des Umweltschutzamtes eine wiederholte Anwendung von Nr. 3.3 GIRL nicht bestätigt hätten, entbehre jeder Grundlage.
17 Eine unzulässige Überraschungsentscheidung ist damit nicht dargetan. Die klägerseits angenommene Gefahr einer "unendlichen Kumulation" zielt auf die Auslegungshinweise (Begründung und Auslegungshinweise zur GIRL) zu Nr. 3.3 GIRL (Überschrift "Anwendung des Irrelevanzkriteriums im Außenbereich", erster Absatz), wo es als "durchaus möglich" beschrieben wird, dass um ein Wohngebiet herum eine Vielzahl von Anlagen existiere bzw. gebaut oder erweitert werde, deren Beitrag zur Geruchsimmissionssituation jeweils irrelevant sei, in der Kumulation aber Immissionswertüberschreitungen nicht auszuschließen seien. Es lag deshalb auf der Hand, dass die vom Verwaltungsgerichtshof (UA S. 14) erörterte Frage, ob Nr. 3.3 GIRL auch in der Vergangenheit (d.h. hinsichtlich der bestehenden Tierhaltungsanlagen) wiederholt angewandt worden ist, entscheidungserheblich war. Die Frage war auch Gegenstand der Erörterungen in der mündlichen Verhandlung, wie die Beschwerde der Sache nach selbst einräumt. Von einer unzulässigen Überraschungsentscheidung (zu den Voraussetzungen z.B. BVerwG, Beschluss vom 3. März 1997 - 2 B 9.97 - juris) kann deshalb keine Rede sein.
18 Die Kritik der Beschwerde gründet vielmehr auf ihrer Behauptung, der Verwaltungsgerichtshof habe zu dieser Frage "ins Blaue hinein" Vermutungen aufgestellt. Diese Kritik zielt - der Sache nach - auf eine Verletzung des Überzeugungsgrundsatzes (§ 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO) und der Amtsermittlungspflicht (§ 86 Abs. 1 VwGO). Sie ist unberechtigt. Denn der Verwaltungsgerichtshof hat seinerseits - auch unter Berücksichtigung der Äußerungen der in der mündlichen Verhandlung anwesenden Behördenvertreter - "keine Anhaltspunkte" dafür gesehen, dass Nr. 3.3 GIRL vom Landratsamt bereits wiederholt angewandt worden sei, "wie dies die Kläger mutmaßen"; die "Mutmaßungen" der Kläger hat der Verwaltungsgerichtshof als "wenig plausibel" angesehen. Er hat deshalb umgekehrt keine Veranlassung gesehen, diesen aus seiner Sicht unsubstantiierten Mutmaßungen der Kläger weiter nachzugehen. Dieses Vorgehen steht mit geltendem Prozessrecht im Einklang (vgl. z.B. BVerwG, Beschluss vom 26. Juni 1975 - 6 B 4.75 - Buchholz 232 § 26 BBG Nr. 17).
19 bb) Damit geht ebenso der Vorwurf ins Leere, das vorinstanzliche Urteil sei auch deshalb überraschend, weil der Verwaltungsgerichtshof die Geruchsimmissions-Richtlinie abweichend von den Auslegungshinweisen angewendet und dabei insbesondere die Auslegungshinweise zu Nr. 3.3 GIRL übergangen habe.
20 b) Auch eine Verletzung des Amtsermittlungsgrundsatzes (§ 86 Abs. 1 VwGO) ist nicht schlüssig dargetan. Der gesamte Bereich der Tatsachenfeststellung ist ausschließlich vom materiell-rechtlichen Standpunkt des vorinstanzlichen Gerichts aus zu beurteilen; das gilt selbst dann, wenn dieser Standpunkt rechtlich verfehlt sein sollte (stRspr, vgl. BVerwG, Beschluss vom 29. August 1998 - 2 B 6.98 - juris m.w.N.). Der Verwaltungsgerichtshof (UA S. 11 ff.) hat festgestellt, dass die Anlage des Beigeladenen das Irrelevanzkriterium nach Nr. 3.3 GIRL einhalte und deshalb die vorhandene Belastung nicht relevant erhöhe. Ausgehend hiervon musste der Verwaltungsgerichtshof der Frage, welcher Vorbelastung das Anwesen der Kläger durch die bereits bestehenden Betriebe und Anlagen ausgesetzt ist, nicht weiter nachgehen (vgl. z.B. BVerwG, Beschluss vom 26. Juni 1975 - 6 B 4.75 - Buchholz 232 § 26 BBG Nr. 17).
21 Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2, § 159 Satz 2, § 162 Abs. 3 VwGO, die Streitwertfestsetzung stützt sich auf § 47 Abs. 1 und 3, § 52 Abs. 1 GKG.