Beschluss vom 04.11.2008 -
BVerwG 2 B 19.08ECLI:DE:BVerwG:2008:041108B2B19.08.0

Beschluss

BVerwG 2 B 19.08

  • OVG für das Land Nordrhein-Westfalen - 14.12.2007 - AZ: OVG 6 A 5173/05

In der Verwaltungsstreitsache hat der 2. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
am 4. November 2008
durch den Vorsitzenden Richter am Bundesverwaltungsgericht Herbert,
den Richter am Bundesverwaltungsgericht Dr. Heitz und
die Richterin am Bundesverwaltungsgericht Thomsen
beschlossen:

  1. Der Beschluss des Oberverwaltungsgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen vom 14. Dezember 2007 wird aufgehoben. Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen zurückverwiesen.
  2. Die Entscheidung über die Kosten bleibt der Schlussentscheidung vorbehalten.
  3. Der Wert des Streitgegenstandes wird für das Beschwerdeverfahren auf die Wertstufe bis 600 € festgesetzt.

Gründe

1 Die Tochter des Klägers leidet an axillärer Hyperhidrose. Gegenstand der Beihilfeklage sind im November 2003 entstandene Kosten in Höhe von 408,02 € für eine Behandlung mit Botulinumtoxin (Botox 100 U), die die Schweißbildung in den Achselhöhlen für etwa ein halbes Jahr unterbindet. Das beklagte Land lehnte Beihilfeleistungen ab, weil es sich um keine Krankheit handele, die Behandlung daher ausschließlich kosmetischen Zwecken diene und das Präparat nicht wissenschaftlich anerkannt sei. Das Verwaltungsgericht verneinte ebenfalls das Vorliegen einer Krankheit. Das Berufungsgericht hat demgegenüber angenommen, dass es sich bei der axillären Hyperhidrose III. Grades um eine Krankheit handele. Auch seien nach den Ausführungen des behandelnden Arztes und der in der Akte enthaltenen medizinischen Fachliteratur die Aufwendungen für das Medikament Botox 100 U notwendig und angemessen.

2 Die Beschwerde ist begründet.

3 1. Ohne Erfolg macht der Beklagte allerdings geltend, der Sache komme grundsätzliche Bedeutung im Sinne des § 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO zu, da die Rechtsprechung bisher noch nicht entschieden habe, ob bei axillärer Hyperhidrosis wegen des gestörten Wärmehaushalts ein regelwidriger Körperzustand bestehe oder lediglich das Aussehen des Menschen beeinträchtigt werde, so dass entstellende Wirkung vorliegen müsse, um von einer Krankheit ausgehen zu können.

4 Hiermit wird keine Rechtsfrage von allgemeiner Bedeutung formuliert, die im Interesse der Fortbildung des Rechts der Klärung durch eine höchstrichterliche Entscheidung bedürfte (vgl. Beschluss vom 2. Oktober 1961 - BVerwG 8 B 78.61 - BVerwGE 13, 90 <91>; stRspr). Es geht vielmehr um die Subsumtion der vom Berufungsgericht festgestellten Tatsachen unter den bereits geklärten beihilferechtlichen Begriff der „Krankheit“, und damit um eine Wertungsfrage im Einzelfall. Das Berufungsgericht hat zur Auslegung des beihilferechtlichen Begriffs der „Krankheit“ im Sinne des § 88 Satz 1 und 2 LBG NRW, § 3 Abs. 1 Nr. 1 BVO NRW ausgeführt, dass Krankheit ein regelwidriger, vom Leitbild des gesunden Menschen abweichender Zustand des Körpers oder des Geistes sei, der der ärztlichen Behandlung bedürfe oder - zugleich oder ausschließlich - Arbeitsunfähigkeit zur Folge habe. Eine Krankheit liege aber nur vor, wenn der Betroffene in seinen Körperfunktionen beeinträchtigt werde oder wenn die anatomische Abweichung entstellend wirke. Sei die körperliche Beeinträchtigung selbst nicht behandlungsbedürftig, weil die Behandlung nicht einmal das Leiden lindere, sondern nur ein anderes Aussehen verschaffe, liege keine Krankheit vor. Diese Auslegung entspricht derjenigen des erkennenden Senats in seinem vom Berufungsgericht zitierten Urteil vom 24. Februar 1982 - BVerwG 6 C 8.77 - (BVerwGE 65, 87 <91>). Ob die Rechtsanwendung des Oberverwaltungsgerichts auf den Einzelfall fehlerfrei ist, ist keine Frage von rechtsgrundsätzlicher Bedeutung. Die Beschwerde legt nicht in einer den Anforderungen des § 133 Abs. 3 Satz 3 VwGO genügenden Weise dar, inwiefern in Bezug auf den Begriff „Krankheit“ im Sinne des Beihilferechts weitere rechtsgrundsätzliche Fragen geklärt werden könnten.

5 2. Auch die in diesem Zusammenhang sinngemäß erhobene Divergenzrüge (§ 132 Abs. 2 Nr. 2 VwGO), mit der der Beklagte geltend macht, das Berufungsgericht habe in Abweichung von den Anforderungen, die der Senat in dem Urteil vom 24. Februar 1982 (a.a.O.) in Anlehnung an die Rechtsprechung des Bundessozialgerichts zum Krankheitsbegriff entwickelt habe, einen viel geringeren Maßstab angelegt, vermag der Beschwerde nicht zum Erfolg zu verhelfen.

6 Ebenso wie der Zulassungsgrund der grundsätzlichen Bedeutung gemäß § 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO soll der Zulassungsgrund der Divergenz die Einheitlichkeit der Rechtsprechung, nicht aber die materielle Richtigkeit verwaltungsgerichtlicher Entscheidungen im Einzelfall gewährleisten. Daher ist dieser Zulassungsgrund nur gegeben, wenn die Vorinstanz in der angefochtenen Entscheidung einen inhaltlich bestimmten, diese Entscheidung tragenden abstrakten Rechtssatz aufgestellt hat, mit dem sie einem Rechtssatz widersprochen hat, den das Bundesverwaltungsgericht in Anwendung derselben Rechtsvorschrift aufgestellt hat. Die Vorinstanz muss einen Rechtssatz des Bundesverwaltungsgerichts ablehnen, weil sie ihn für unrichtig hält. Zwischen beiden Gerichten muss ein prinzipieller Auffassungsunterschied über den Bedeutungsgehalt einer Rechtsvorschrift bestehen. Demzufolge liegt eine Divergenz nicht vor, wenn die Vorinstanz einen Rechtssatz des Bundesverwaltungsgerichts im Einzelfall rechtsfehlerhaft anwendet oder daraus nicht die rechtlichen Folgerungen zieht, die etwa für die Sachverhalts- und Beweiswürdigung geboten sind (stRspr, vgl. nur Beschluss vom 19. August 1997 - BVerwG 7 B 261.97 - Buchholz 310 § 133 <n.F.> VwGO Nr. 26).

7 Hieran gemessen ist festzustellen, dass das Berufungsgericht in dem angegriffenen Urteil unter Darstellung der Rechtsprechung des erkennenden Senats und des Bundessozialgerichts ausdrücklich den danach anzuwendenden Krankheitsbegriff zugrunde gelegt hat. Die Beschwerde zeigt einen prinzipiellen Auffassungsunterschied zwischen dem Berufungsgericht und dem Senat zum Inhalt des beihilferechtlichen Krankheitsbegriffs nicht auf. Vielmehr rügt sie, dass im Einzelfall bei der Prüfung der Voraussetzungen vom Berufungsgericht ein viel geringerer Maßstab angelegt worden sei. Eine möglicherweise unrichtige Anwendung, d.h. rechtsfehlerhafte Würdigung des Zustands der Tochter des Klägers als Krankheit im beihilferechtlichen Sinne vermag aber keine Divergenz zu begründen.

8 3. a) Demgegenüber ist die Verfahrensrüge (§ 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO), mit der in der Sache eine unzureichende Aufklärung des Sachverhalts (§ 86 Abs. 1, § 96 Abs. 1 Satz 1 VwGO) gerügt wird, begründet. Diese Rüge geht aus den Ausführungen in der Beschwerdeschrift hinreichend deutlich im Sinne der Anforderungen des § 133 Abs. 3 Satz 3 VwGO hervor, so dass es auf ihre unzureichende rechtliche Qualifizierung nicht ankommt (vgl. Beschluss vom 22. Dezember 2005 - BVerwG 2 B 50.05 -).

9 Die Beschwerde rügt, dass die Tatsachenfeststellungen des Berufungsgerichts zum Zustand der Tochter des Klägers nicht ausreichend seien, um zu beurteilen, ob es sich um eine Krankheit im beihilferechtlichen Sinne handelt. Die Feststellungen des Berufungsgerichts stützten sich einzig auf ein Schreiben des behandelnden Arztes, dessen Diagnose ausschließlich auf den Angaben der Tochter beruhe, objektive Schweißmessungen seien nicht erfolgt.

10 Diese Ausführungen genügen den Darlegungsanforderungen des § 133 Abs. 3 Satz 3 VwGO. Danach ist ein Aufklärungsmangel dann ordnungsgemäß erhoben, wenn der Beschwerdeführer darlegt, welche tatsächlichen Umstände hätten aufgeklärt werden müssen, welche Ermittlungen sich dem Gericht hierfür hätten aufdrängen müssen, welches mutmaßliche Ergebnis die Sachaufklärung gehabt hätte und inwiefern dieses Ergebnis zu einer ihm günstigeren Entscheidung hätte führen können (Urteil vom 12. Februar 1998 - BVerwG 3 C 55.96 - BVerwGE 106, 177 <182>; stRspr).

11 Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts entscheidet das Tatsachengericht über die Art der heranzuziehenden Beweismittel und den Umfang der Beweisaufnahme im Rahmen seiner Pflicht zur Sachverhaltsermittlung von Amts wegen nach Ermessen. Dies gilt auch für die Einholung von Gutachten oder die Ergänzung vorhandener Gutachten oder Arztberichte und selbst dann, wenn eine solche Maßnahme der Sachverhaltsermittlung von einem Beteiligten angeregt worden ist (z.B. Urteil vom 6. Oktober 1987 - BVerwG 9 C 12.87 - Buchholz 310 § 98 VwGO Nr. 31; Beschluss vom 24. März 2000 - BVerwG 9 B 530.99 - Buchholz 310 § 86 Abs. 1 VwGO Nr. 308). Die unterlassene Einholung eines Gutachtens ist verfahrensfehlerhaft, wenn sich dem Gericht eine weitere Beweiserhebung aufdrängen musste. Das ist wiederum nur dann der Fall, wenn die vorliegenden Unterlagen ihren Zweck nicht zu erfüllen vermögen, dem Gericht die zur Feststellung des entscheidungserheblichen Sachverhalts erforderliche Sachkunde zu vermitteln und ihm dadurch die Bildung der für die Entscheidung notwendigen Überzeugung zu ermöglichen. Liegen dem Gericht bereits sachverständige Äußerungen oder Gutachten vor, so kommt dies etwa dann in Betracht, wenn diese grobe Mängel oder unlösbare Widersprüche aufweisen, von unzutreffenden sachlichen Voraussetzungen ausgehen oder wenn Anlass zu Zweifeln an der Sachkunde oder der Unparteilichkeit besteht (vgl. u.a. Urteile vom 19. Dezember 1968 - BVerwG 8 C 29.67 - BVerwGE 31, 149 <156> und vom 6. Februar 1985 - BVerwG 8 C 15.84 - BVerwGE 71, 38 <45> m.w.N.).

12 Dem Oberverwaltungsgericht musste sich - von seinem Rechtsstandpunkt aus - aufdrängen, die vom Kläger vorgetragenen grundsätzlichen Beschwerden seiner Tochter aufzuklären. Die Beschwerde hat dargelegt, dass das Berufungsgericht nicht allein aufgrund des vom Kläger mit Schriftsatz vom 7. Oktober 2004 vorgelegten Schreibens des behandelnden Arztes vom 23. September 2004 entscheiden konnte, ob es sich bei dem Zustand der Tochter um eine Krankheit im beihilferechtlichen Sinne handelt. Dieser Arztbrief war neben den insbesondere vom Kläger eingereichten Facharztartikeln die einzige Grundlage für die Annahme des Berufungsgerichts, es handele sich um eine Krankheit. Da zwischen den Beteiligten bereits die Diagnose, d.h. der Umfang des Schwitzens streitig war, durfte sich das Berufungsgericht nicht allein auf die Auskunft des behandelnden Arztes stützen. Dem behandelnden Arzt kommt zwar die Bedeutung eines sachverständigen Zeugen zu. Jedoch steht er den Verfahrensbeteiligten nicht gleichermaßen fern. Vielmehr steht er in einem Vertrauensverhältnis zu seinem Patienten, das er womöglich erhalten will. Auch ist seine Arztrechnung Gegenstand der Beihilfeklage. Daher muss das Gericht im Einzelfall sorgfältig prüfen und begründen, ob es eine medizinische Tatsache allein aufgrund der Angaben des behandelnden Arztes für erwiesen erhält (vgl. Urteile vom 9. Oktober 2002 - BVerwG 1 D 3.02 - juris und vom 12. Oktober 2006 - BVerwG 1 D 2.05 - juris Rn. 34, 35). Hier ist aber die Diagnose - worauf die Beschwerde zutreffend hingewiesen hat - vom behandelnden Arzt ausweislich seines Schreibens allein anhand der Angaben der Tochter gestellt worden. Aus seiner Stellungnahme ergeben sich gleichzeitig Hinweise, dass es bei der Tochter in einschlägigen Situationen - Stress, Sommerhitze - zur erhöhten Schweißproduktion kommt. Bereits deshalb drängen sich objektive Schweißmessungen zur weiteren Aufklärung auf. Sie hätten Aufschluss darüber gegeben, ob es sich bei den Schweißausbrüchen der Tochter des Klägers um eine regelwidrige Funktionsstörung des Körpers im Sinne des beihilferechtlichen Krankheitsbegriffs handelt oder ob sich die Schweißausbrüche noch innerhalb der hinnehmbaren Bandbreite der normalen Körperfunktionen halten. Die Notwendigkeit solcher objektiver Schweißmessungen als Diagnosegrundlage ergibt sich, wie die Beschwerde weiter aufzeigt, auch aus dem vom Kläger ebenfalls mit Schriftsatz vom 7. Oktober 2004 vorgelegten Fachartikel in „Der Hautarzt“ 8/2003, S. 769. Dort heißt es: „Die Diagnose ‚Hyperhidrose’ sollte deshalb immer im Zusammenhang von Anamnese, klinischem Befund, objektiven Messwerten und dem subjektiven Empfinden des Patienten gestellt werden.“

13 Da sich deshalb dem Berufungsgericht eine weitere Aufklärung, etwa durch Einholung eines Gutachtens hätte aufdrängen müssen, hat der Beklagte sein Rügerecht auch nicht dadurch verloren, dass er in der Berufungsverhandlung davon abgesehen hat, einen entsprechenden Beweisantrag zu stellen (vgl. Beschlüsse vom 6. März 1995 - BVerwG 6 B 81.94 - Buchholz 310 § 86 Abs. 1 VwGO Nr. 265 und vom 14. Juni 2005 - BVerwG 2 B 108.04 - Buchholz 235.1 § 58 BDG Nr. 1 = NVwZ 2005, 1199). Hinzu kommt hier Folgendes:

14 Das Berufungsgericht hat im Beschlusswege nach § 130a VwGO entschieden, eine mündliche Verhandlung fand also nicht statt. Der Beklagte hat zwar außer in der Klageerwiderung vom 25. August 2004 zu keinem weiteren Zeitpunkt schriftsätzlich eine weitere Aufklärung angeregt oder einen Beweisantrag gestellt. Das Verwaltungsgericht hatte die Klage abgewiesen, weil es die axilläre Hyperhidrosis nicht als Krankheit angesehen hat. Das Berufungsgericht hat wegen ernstlicher Zweifel an der Richtigkeit gemäß § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO die Berufung zugelassen. Es hat aber dann bei seiner Anhörung zur beabsichtigten Verfahrensweise nach § 130a i.V.m. § 125 Abs. 2 Satz 3 VwGO nicht darauf hingewiesen, wie es zu entscheiden beabsichtigt (zur Notwendigkeit eines solchen Hinweises vgl. Beschluss vom 5. September 2007 - BVerwG 3 B 33.07 - Buchholz 310 § 130a VwGO Nr. 75 m.w.N.; stRspr). Dementsprechend musste der Beklagte gerade angesichts der nicht ausreichenden Unterlagen für die Annahme einer Krankheit nicht damit rechnen, dass das Berufungsgericht ohne weitere Hinweise den Sachverhalt abweichend von der Vorinstanz würdigen würde.

15 b) Auf die weitere Rüge zur aktenwidrigen Feststellung eines gestörten Wärmehaushalts (§ 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO) kommt es deshalb nicht mehr an.

16 c) Da nicht auszuschließen ist, dass das angegriffene Urteil auf einer unzureichend ermittelten Tatsachenbasis beruht, hat die Beschwerde Erfolg. Zur Beschleunigung macht der Senat von der Möglichkeit Gebrauch, gemäß § 133 Abs. 6 VwGO das angefochtene Urteil aufzuheben und den Rechtsstreit zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung zurückzuverweisen, um dem Berufungsgericht Gelegenheit zu geben, die entscheidungserheblichen Tatsachen im erforderlichen Maße festzustellen.

17 Die Kostenentscheidung bleibt der Schlussentscheidung vorbehalten. Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 47 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 3 i.V.m. § 52 Abs. 1 und Abs. 2 GKG.