Beschluss vom 04.01.2021 -
BVerwG 2 WDB 11.20ECLI:DE:BVerwG:2021:040121B2WDB11.20.0
Leitsatz:
Bei der Ausübung des durch § 126 Abs. 2 Satz 2 Halbs. 2 WDO eingeräumten Ermessens hinsichtlich der Anordnung einer teilweisen Einbehaltung des Ruhegehalts sind die Belastungen des Betroffenen durch eine vorangegangene teilweise Einbehaltung seiner Dienstbezüge zu berücksichtigen.
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Rechtsquellen
WDO § 126 Abs. 2 Satz 1 und 2, Abs. 5 Satz 3 und 4 -
Zitiervorschlag
BVerwG, Beschluss vom 04.01.2021 - 2 WDB 11.20 - [ECLI:DE:BVerwG:2021:040121B2WDB11.20.0]
Beschluss
BVerwG 2 WDB 11.20
In dem gerichtlichen Disziplinarverfahren hat der 2. Wehrdienstsenat des Bundesverwaltungsgerichts durch
den Vorsitzenden Richter am Bundesverwaltungsgericht Dr. Häußler,
den Richter am Bundesverwaltungsgericht Dr. Langer und
die Richterin am Bundesverwaltungsgericht Dr. Henke
am 4. Januar 2021 beschlossen:
Auf die Beschwerde des früheren Soldaten werden der Bescheid des Kommandeurs ... vom 12. Oktober 2020 und sein Bescheid vom 10. Dezember 2018, soweit darin die Einbehaltung von 30 % des Ruhegehalts des früheren Soldaten in Gestalt seiner Übergangsgebührnisse ab dem 1. Januar 2019 angeordnet wurde, aufgehoben.
Gründe
I
1 Das Verfahren betrifft die vorläufige Einbehaltung von Ruhegehalt.
2 Der ... geborene Beschwerdeführer war von 2007 bis Ende 2018 Zeitsoldat, seit 2011 im Dienstgrad eines Oberstabsgefreiten. Der Kommandeur ... leitete gegen ihn mit Verfügung vom 10. Februar 2014 wegen des Verdachts der entwürdigenden Behandlung und körperlichen Misshandlung eines Kameraden, des Gefreiten ..., ein gerichtliches Disziplinarverfahren ein. Zugleich ordnete er die vorläufige Dienstenthebung des früheren Soldaten, ein Uniformtrageverbot und die Einbehaltung von 50 % seiner Dienstbezüge an. Mit Bescheid vom 28. April 2014 lehnte der Kommandeur ... einen Antrag des früheren Soldaten auf Aufhebung der Nebenentscheidungen ab.
3 Die Wehrdisziplinaranwaltschaft schuldigte den früheren Soldaten am 2. Februar 2017 beim Truppendienstgericht eines aus zahlreichen Einzeltaten zum Nachteil des Gefreiten ... bestehenden Dienstvergehens an.
4 Der Kommandeur ... hob wegen des Dienstzeitendes des früheren Soldaten mit Verfügung vom 10. Dezember 2018 die Anordnung über die Einbehaltung von dessen Dienstbezügen zum Ablauf des 31. Dezember 2018 auf. Zugleich ordnete er die Einbehaltung von 30 % des Ruhegehalts des früheren Soldaten in Gestalt seiner Übergangsgebührnisse ab dem 1. Januar 2019 an.
5 Die Wehrdisziplinaranwaltschaft legte dem früheren Soldaten mit einer Nachtragsanschuldigungsschrift vom 17. Juli 2020 weitere gegen den Gefreiten ... gerichtete Einzeltaten zur Last.
6 Das Truppendienstgericht hat mit Urteil vom 13. August 2020 das gerichtliche Disziplinarverfahren unter Feststellung eines Dienstvergehens eingestellt. Es treffe lediglich zu, dass der frühere Soldat den Gefreiten ... zwischen Oktober 2013 und dem 4. Dezember 2013 während des Dienstes im Büro des Versorgungsunteroffiziers ... mehrfach als "Nichtsnutz" und "Napf" bezeichnet habe. Die weiteren angeschuldigten, schwerwiegenderen Taten seien nicht erwiesen. Zwei festgestellte Vorfälle seien nicht zu berücksichtigen, weil sie sich nicht mit den Anschuldigungen deckten. Hinsichtlich der Bezeichnung "Napf" sei eine Freistellung angezeigt. Bezüglich des Ausdrucks "Nichtsnutz" liege eine schuldhafte Ehrverletzung vor, mit welcher der frühere Soldat seine Pflichten zum treuen Dienen, zur Kameradschaft und zum innerdienstlichen Wohlverhalten verletzt habe. Insoweit sei bei einer Gesamtwürdigung nur eine einfache Disziplinarmaßnahme angezeigt gewesen, die nach § 16 WDO nicht mehr verhängt werden könne.
7 Die Wehrdisziplinaranwaltschaft hat gegen das Urteil Berufung mit dem Ziel der Verhängung der Höchstmaßnahme eingelegt. Sie hält die Beweiswürdigung des Truppendienstgerichts für unzutreffend und dessen Auffassung zur Bindungswirkung der Anschuldigungsschrift für unrichtig. Auch habe das Truppendienstgericht zu Unrecht einen Milderungsgrund in Form der langen Aufrechterhaltung der Nebenentscheidungen anerkannt.
8 Der Kommandeur ... hat einen Antrag des früheren Soldaten vom 30. September 2020 auf Aufhebung der Einbehaltensanordnung vom 10. Dezember 2018 mit Bescheid vom 12. Oktober 2020 abgelehnt, weil im Berufungsverfahren die Verhängung der Höchstmaßnahme zu erwarten sei.
9 Der frühere Soldat hat gegen den ihm am 15. Oktober 2020 zugestellten Bescheid am 10. November 2020 beim Bundesverwaltungsgericht einen Antrag auf gerichtliche Entscheidung gestellt. Er hält die Berufungsbegründung nicht für überzeugend.
10 Der Bundeswehrdisziplinaranwalt ist dem entgegengetreten.
II
11 Der nach § 126 Abs. 5 Satz 3 WDO zulässige Antrag auf gerichtliche Entscheidung, über den der Senat wegen des bei ihm anhängigen Berufungsverfahrens nach § 126 Abs. 5 Satz 4 WDO anstelle des Truppendienstgerichts zu entscheiden hat, ist begründet. Die Anordnung der Einbehaltung von 30 % des Ruhegehalts des früheren Soldaten in Gestalt seiner Übergangsgebührnisse ab dem 1. Januar 2019 in der Verfügung des Kommandeurs ... vom 10. Dezember 2018 und dessen Bescheid vom 12. Oktober 2020, mit dem er die Aufhebung der Einbehaltensanordnung abgelehnt hat, sind rechtswidrig.
12 Nach § 126 Abs. 2 Satz 1 WDO kann die Einleitungsbehörde gleichzeitig mit einer vorläufigen Dienstenthebung eines Soldaten oder später anordnen, dass dem Soldaten ein Teil, höchstens die Hälfte der jeweiligen Dienstbezüge einbehalten wird, wenn im gerichtlichen Disziplinarverfahren voraussichtlich auf Entfernung aus dem Dienstverhältnis oder Aberkennung des Ruhegehalts erkannt werden wird. Tritt der Soldat während des gerichtlichen Disziplinarverfahrens in den Ruhestand, hebt die Einleitungsbehörde gemäß § 126 Abs. 2 Satz 2 WDO ihre Anordnung über die Einbehaltung der Dienstbezüge auf; gleichzeitig kann sie anordnen, dass ein Teil des Ruhegehalts einbehalten wird.
13 Die Anordnung der teilweisen Einbehaltung des Ruhegehalts setzt neben einer wirksamen Einleitungsverfügung die Prognose voraus, dass dem in den Ruhestand getretenen früheren Soldaten im gerichtlichen Disziplinarverfahren voraussichtlich das Ruhegehalt aberkannt werden wird. Bei der Ausübung ihres Ermessens hinsichtlich des Erlasses einer Einbehaltensanordnung hat die Einleitungsbehörde den verfassungsrechtlichen Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zu beachten. Dieser sich als übergreifende Leitregel allen staatlichen Handelns aus dem Rechtsstaatsprinzip ergebende Grundsatz besagt, dass das gewählte Mittel und der gewollte Zweck in einem vernünftigen Verhältnis zueinander stehen müssen. Daraus folgt, dass ein durch eine Einbehaltensanordnung bewirkter Eingriff in die Rechtsposition des Betroffenen nicht länger dauern darf, als er sachlich geboten erscheint (vgl. BVerwG, Beschluss vom 17. Februar 2020 - 2 WDB 6.19 - NVwZ-RR 2020, 646 Rn. 10 m.w.N. zu § 126 Abs. 3 WDO). Da die Anordnung der teilweisen Einbehaltung des Ruhegehalts an die vorangegangene Anordnung der teilweisen Einbehaltung der Dienstbezüge anknüpft, sind bei der Ausübung des der Einleitungsbehörde durch § 126 Abs. 2 Satz 2 Halbs. 2 WDO eingeräumten Ermessens auch die bereits eingetretenen Belastungen des Betroffenen durch die teilweise Einbehaltung seiner Dienstbezüge zu berücksichtigen.
14 Die gesetzlich vorgesehene Einbehaltensanordnung ist nur in Ansehung eines ordnungsgemäß durchzuführenden Disziplinarverfahrens unter Beachtung des Beschleunigungsgrundsatzes eine im Allgemeinen verfassungsrechtlich unbedenkliche Maßnahme. Mit zunehmender Verzögerung des Abschlusses des Disziplinarverfahrens gerät die Aufrechterhaltung einer teilweisen Einbehaltung von Dienstbezügen oder von Ruhegehalt notwendigerweise immer stärker in einen Widerstreit mit dem Prinzip der Verhältnismäßigkeit. Da innerhalb einer stetig verlaufenden zeitlichen Entwicklung der präzise Zeitpunkt, zu dem eine noch verhältnismäßige, durch die Einbehaltung verursachte Belastung in eine unverhältnismäßige Belastung umschlägt, nicht feststellbar ist, bedarf es zur hinreichenden Begründung der Unverhältnismäßigkeit ihrer sich aus den konkreten Umständen des Einzelfalls ergebenden Evidenz (vgl. BVerfG, Beschluss vom 8. September 1993 - 2 BvR 1517/92 - NVwZ 1994, 574 <574>, BVerwG, Beschluss vom 17. Februar 2020 - 2 WDB 6.19 - NVwZ-RR 2020, 646 Rn. 11 m.w.N.).
15 Eine solche das Entscheidungsermessen der Einleitungsbehörde begrenzende Unverhältnismäßigkeit ist hier bereits ab dem Wirksamwerden der teilweisen Einbehaltung des Ruhegehalts am 1. Januar 2019 gegeben. Denn bis zu diesem Zeitpunkt waren durch die Verfügung vom 10. Februar 2014 die Dienstbezüge des früheren Soldaten schon seit mehr als vier Jahren in Höhe des gesetzlich zulässigen Höchstmaßes von 50 % einbehalten worden. Das gerichtliche Disziplinarverfahren ist nicht mit der möglichen und gebotenen Beschleunigung betrieben worden. Es gibt keinen rechtfertigenden Grund dafür, dass das Truppendienstgericht das seit dem 2. Februar 2017 bei ihm anhängige Verfahren nicht binnen eines guten Jahres zum Abschluss gebracht hat. Dies wäre trotz der erforderlichen Zeugenvernehmung wegen des langen Zurückliegens der Tatvorwürfe, der durchschnittlichen Schwierigkeit und der erheblichen Bedeutung des Verfahrens geboten gewesen. Wie das Truppendienstgericht in seinem Urteil vom 13. August 2020 ausgeführt hat, hat es das Verfahren nach Eingang nicht mehr wesentlich gefördert. Aus seinem Schreiben an das Bundesministerium der Verteidigung vom 5. Oktober 2017 ergibt sich, dass die Verfahrensdauer auf einer Überlastung des Gerichts beruhte. Diesen strukturellen Mangel hat der frühere Soldat nicht zu verantworten. Angesichts dessen erweist sich die Einbehaltensanordnung vom 10. Dezember 2018 als unverhältnismäßig, zumal ein zeitnaher Abschluss des gerichtlichen Disziplinarverfahrens weder bei ihrem Erlass absehbar war, noch absehbar ist.
16 Einer Entscheidung über die Kosten des Verfahrens bedurfte es nicht. Diese werden von der zur Hauptsache ergehenden Kostenentscheidung des gerichtlichen Disziplinarverfahrens mit erfasst (vgl. BVerwG, Beschluss vom 4. Dezember 2009 - 2 WDB 4.09 - Rn. 17). Ebenso wenig bedarf es einer vom früheren Soldaten beantragten Entscheidung über die Notwendigkeit der Hinzuziehung eines Bevollmächtigten, die im Verfahren nach § 126 Abs. 5 Satz 3 und 4 WDO nicht vorgesehen ist.