Urteil vom 03.05.2007 -
BVerwG 5 C 5.06ECLI:DE:BVerwG:2007:030507U5C5.06.0
Leitsatz:
Zum Verstoß gegen die Grundsätze der Menschlichkeit oder Rechtsstaatlichkeit i.S.v. § 1 Abs. 4 AusglLeistG bei Denunziationen, die das Opfer der Willkür eines staatlichen Verfolgungsapparates ausliefern.
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Rechtsquellen
AusglLeistG § 1 Abs. 4 -
Instanzenzug
VG Berlin - 10.11.2005 - AZ: VG 22 A 506.02
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Zitiervorschlag
BVerwG, Urteil vom 03.05.2007 - 5 C 5.06 - [ECLI:DE:BVerwG:2007:030507U5C5.06.0]
Urteil
BVerwG 5 C 5.06
- VG Berlin - 10.11.2005 - AZ: VG 22 A 506.02
In der Verwaltungsstreitsache hat der 5. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
auf die mündliche Verhandlung vom 3. Mai 2007
durch den Vorsitzenden Richter am Bundesverwaltungsgerichts Hund
und die Richter am Bundesverwaltungsgericht Schmidt, Dr. Franke, Dr. Brunn und Prof. Dr. Berlit
für Recht erkannt:
- Die Revision des Klägers (früher: Kläger zu 3) gegen des Urteil des Verwaltungsgerichts Berlin vom 10. November 2005 wird zurückgewiesen.
- Der Kläger trägt die Kosten des Revisionsverfahrens.
Gründe
I
1 Der Kläger begehrt eine Ausgleichsleistung für das ehemalige Betriebsvermögen der Firma C. L. in B.
2 Die Firma C. L. (nach dem Firmengründer) wurde ab 1907 von seinem Sohn H. L. (sen.) als alleinigem Inhaber weitergeführt. Gegenstand des Unternehmens war eine Möbelfabrik, die sich auf die Herstellung von Küchenmöbeln und Holzleisten spezialisiert hatte. In dem Betrieb wurden zumindest im Jahre 1944 Ostarbeiter und Ostarbeiterinnen sowie 1945 auch Kriegsgefangene beschäftigt. Nach dem Ende des 2. Weltkriegs war der Betrieb zunächst von russischen Soldaten besetzt. Im August 1945 wurde er beschlagnahmt und befand sich damit in Treuhandverwaltung. 1949 wurde der Betrieb enteignet und als volkseigener Betrieb fortgeführt; für das Betriebsgrundstück wurde im Grundbuch „Eigentum des Volkes“ eingetragen.
3 Der Firmeninhaber H. L. sen. wurde durch Angehörige der russischen Armee am 18. Mai 1945 gefangen genommen und befand sich bis zu seinem Tode im Dezember 1945 in einem Sonderlager des NKWD. Der Kläger ist Erbe nach H. L. sen. zu 9/64 (zu 1/8 direkt nach seinem Großvater H. L. sen., zu 1/64 mittelbar nach seinem Onkel H. L. jun.).
4 Den Antrag des Klägers und weiterer Erben und Erbeserben nach H. L. sen. auf Ausgleichsleistungen für den Verlust des Betriebsvermögens lehnte der Beklagte durch Bescheid vom 25. November 2002 ab. Ihre Klage dagegen mit dem Verpflichtungsbegehren, ihnen als Erben für den Verlust der Eigentumsrechte an dem Unternehmen C. L. eine Ausgleichsleistung nach Maßgabe des § 2 AusglLeistG zuzuerkennen, wies das Verwaltungsgericht mit Urteil vom 10. November 2005 mit im Wesentlichen folgender Begründung ab:
5 Ansprüche auf Ausgleichsleistungen seien nach § 1 Abs. 4 AusglLeistG ausgeschlossen, weil das Unternehmen C. L. gegen die Grundsätze der Menschlichkeit oder Rechtsstaatlichkeit verstoßen habe. Das Unternehmen habe sich über Jahre hinweg und auch noch in den letzten Kriegstagen durch gezielte und politisch motivierte Denunziationen als Zuträger und Unterstützer des Systems betätigt, ohne Rücksicht auf mögliche Konsequenzen für die Betroffenen zu nehmen, obwohl bekannt gewesen sei, welche rechtsstaatswidrige und unmenschliche Behandlung den Betroffenen gedroht habe.
6 Mit seiner Revision gegen dieses Urteil rügt der Kläger, dass § 1 Abs. 4 AusglLeistG falsch angewandt worden sei und das Verwaltungsgericht seine Pflicht zur Amtsermittlung verletzt habe, weil es dem starken Verdacht von Fälschungen nicht weiter nachgegangen sei.
7 Der Beklagte verteidigt das angefochtene Urteil.
8 Nach Auffassung des Vertreters des Bundesinteresses beim Bundesverwaltungsgericht begegnet das Urteil des Verwaltungsgerichts keinen rechtlichen Bedenken.
II
9 Die Revision des Klägers ist nicht begründet. Das Urteil des Verwaltungsgerichts verletzt nicht Bundesrecht (§ 137 Abs. 1 Nr. 1 VwGO).
10 Bei seiner Auslegung des Ausschlusstatbestandes des Verstoßes gegen die Grundsätze der Menschlichkeit oder Rechtsstaatlichkeit in § 1 Abs. 4 AusglLeistG hat das Verwaltungsgericht zu Recht an die Rechtsprechung zu entsprechenden Ausschlussklauseln in anderen Rechtsvorschriften angeknüpft (ebenso Urteil vom 28. Februar 2007 - BVerwG 3 C 38.05 - Rn. 34 ff. m.w.N.). Zutreffend ist es davon ausgegangen, dass sich die Grundsätze der Menschlichkeit oder Rechtsstaatlichkeit aus dem Sittengesetz und den jeder Rechtsordnung vorgegebenen natürlichen Rechten jedes Einzelnen ergeben, die auch in der Zeit der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft auch gegen die Anordnungen der Machthaber Geltung hatten, und dass ein Leistungen ausschließender Verstoß ein zurechenbares - schuldhaftes - erhebliches Zuwiderhandeln gegen die Grundsätze der Menschlichkeit oder Rechtsstaatlichkeit voraussetzt (Urteile vom 28. Februar 1963 - BVerwG 8 C 67.62 - BVerwGE 15, 336, vom 16. Januar 1964 - BVerwG 8 C 60.62 - BVerwGE 19, 1 und zuletzt vom 28. Februar 2007 - BVerwG 3 C 38.05 - Rn. 35 ff.).
11 Gestützt auf die Entscheidungen des Bundesverwaltungsgerichts vom 28. Februar 1963 a.a.O. und vom 16. Januar 1964 a.a.O. ist das Verwaltungsgericht zu Recht der Auffassung, dass ein zurechenbares - schuldhaftes - erhebliches Zuwiderhandeln gegen die Grundsätze der Menschlichkeit oder Rechtsstaatlichkeit regelmäßig dann angenommen werden kann, wenn der Täter sich bewusst zum Vollstrecker nationalsozialistischer Unrechtsmaßnahmen gemacht hat, und dass auch Denunziationen, die das Opfer der Willkür eines staatlichen Verfolgungsapparates ausgeliefert haben, als relevanter Verstoß gegen die Grundsätze der Menschlichkeit oder Rechtsstaatlichkeit zu bewerten sein können, auch wenn der Denunziant selbst sein Opfer nicht unmittelbar rechtsstaatswidrig oder unmenschlich behandelt, sondern sich als Zuträger für ein politisches System beteiligt hat, in welchem unter dem Deckmantel der Strafrechtspflege oder der Aufrechterhaltung der öffentlichen Sicherheit die Grundsätze der Menschlichkeit oder Rechtsstaatlichkeit missachtet wurden.
12 Auf der Grundlage dieser Auslegung des § 1 Abs. 4 AusglLeistG und der vom Verwaltungsgericht festgestellten Tatsachen ist die Wertung des Verwaltungsgerichts, dass das (später enteignete) Unternehmen C. L. im Dritten Reich gegen die Grundsätze der Menschlichkeit oder Rechtsstaatlichkeit verstoßen hat, nicht zu beanstanden. Maßgebend für diese Wertung war nicht der Umstand, dass das Unternehmen überhaupt Zwangsarbeiter und Kriegsgefangene beschäftigt hat (vgl. dazu Urteil vom 28. Februar 2007 a.a.O.), sondern dass es sich über Jahre hinweg und auch noch in den letzten Kriegstagen durch gezielte und politisch motivierte Denunziationen als Zuträger und Unterstützer des Systems betätigt habe, ohne Rücksicht auf die möglichen Konsequenzen für die Betroffenen zu nehmen, obwohl bekannt gewesen sei, welche rechtsstaatswidrige und unmenschliche Behandlung ihnen gedroht habe.
13 Nach den tatsächlichen Festgestellungen des Verwaltungsgerichts hat sich das Unternehmen C. L. im Sommer und Herbst 1940 sowohl an die normale Polizei als auch an die Gestapo mit der Bitte gewandt, gegen nicht zur Arbeit erschienene Arbeiter „energisch durchzugreifen“ bzw. sie „zwangsweise vorzuführen“, hat das Unternehmen zumindest von März bis Dezember 1944 gegenüber den bei ihm beschäftigten Ostarbeitern und Ostarbeiterinnen auch für geringste Vergehen drakonische Strafen verhängt (z.B. wegen Arbeitsverweigerung und Faulheit Lohn- und Abendbrotentzug für einen Tag und vierzehntägige Ausgangssperre für fünf Ostarbeiter; wegen Anbettelns von Passanten nach Brotmarken Ausgangssperre für das gesamte Ostarbeitslager mit der Ankündigung, dass vor strengsten Strafen nicht zurückgeschreckt werde, wenn sich die Leistungen und die Führung der Ostarbeiter in dieser Zeit nicht erheblich verbesserten) und hat das Unternehmen in einem Schreiben vom 10. April 1945 dem Polizeirevier mitgeteilt, dass zwei französische Kriegsgefangene ihr Arbeitstempo verlangsamt und Arbeitssabotage betrieben hätten, wobei das Schreiben mit dem Satz geendet hat: „Ich habe daher um Abholung und Weiterleitung derselben gebeten“. Diese Vorkommnisse reichen nach Art, Zahl und Gewicht - jedenfalls in der Gesamtschau - aus, um den Ausschlussgrund eines Verstoßes gegen die Grundsätze der Menschlichkeit oder Rechtsstaatlichkeit auszufüllen.
14 Die Tatsachenfeststellung und -würdigung des Verwaltungsgerichts beruht nicht auf einer Verletzung von Verfahrensvorschriften. Der Kläger rügt zwar die Annahme des Verwaltungsgerichts, der Fälschungsvorwurf des Klägers sei nur eine durch nichts belegte Vermutung, als schlichtweg falsch, bezeichnet aber auch im Revisionsverfahren keine konkreten Anhaltspunkte für Fälschungen der vom Verwaltungsgericht für seine Wertung herangezogenen Unterlagen, die das Verwaltungsgericht übersehen hätte. Das Verwaltungsgericht hat vielmehr in seinem Urteil ausgeführt, dass die „Unterlagen aus den Jahren 1940 bis 1944 aus dem Unternehmen selbst stammen und keine Ermittlungsergebnisse der Deutschen Treuhandverwaltung darstellen, die möglicherweise nur eingeschränkt verwertet werden können“ (UA S. 8 Abs. 1 a. E.). Zum Schreiben vom 10. April 1945 hat das Verwaltungsgericht ausgeführt, es habe „keinen Zweifel daran, dass dieses Schreiben, das sowohl mit einem Firmenstempel als auch mit dem Namensstempel (des Firmengründers) und mit einer Paraphe unterzeichnet ist, dem Unternehmen zuzurechnen ist.“ Dafür, dass dieses Schreiben von jemandem gefertigt wurde, der mit dem Betrieb nichts zu tun hatte, bestanden für das Verwaltungsgericht keine Anhaltspunkte. Entgegen der Auffassung der Kläger ist es im Rahmen des § 1 Abs. 4 AusglLeistG auch nicht erforderlich, den Verstoß auf eine einzelne Person, z.B. den Betriebsinhaber oder seine Söhne, zurückzuführen, denn nach dem Wortlaut der Norm scheidet eine Ausgleichsleistung auch dann aus, wenn das Unternehmen als solches gegen die Grundsätze der Menschlichkeit oder Rechtsstaatlichkeit verstoßen hat. Bei dieser Ausgangslage, wonach es genügt, dass das Schreiben dem Unternehmen zugeordnet werden kann, bedurfte es nicht des vom Kläger angeregten graphologischen Gutachtens, mit dem er nachweisen wollte, dass das Schreiben nicht von H. L. stamme.
15 Die Würdigung des Verwaltungsgerichts, aus den genannten Schreiben und Vermerken sei deutlich zu sehen, dass sich der Betrieb über Jahre hinweg und auch noch in den letzten Kriegstagen durch gezielte und politisch motivierte Denunziationen als Zuträger und Unterstützer des Systems betätigt habe, ohne Rücksicht auf die möglichen Konsequenzen für die Betroffenen zu nehmen, und dass das Unternehmen, obwohl bekannt gewesen sei, welche rechtsstaatswidrige und unmenschliche Behandlung den Betroffenen drohte, dennoch aus politischen, aber auch aus eigennützigen Beweggründen nicht von seinem Vorhaben abgesehen habe, ist revisionsgerichtlich nicht zu beanstanden. Bei seiner Würdigung ist das Verwaltungsgericht zu Recht davon ausgegangen, dass insoweit nicht nur ein unmittelbares Handeln der Unternehmensleitung selbst dem Unternehmen zuzurechnen ist, sondern auch das Handeln der Personen im Unternehmen, die befugt und damit verantwortlich gewesen sind, für das Unternehmen zu handeln.
16 Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO.