Beschluss vom 03.05.2002 -
BVerwG 4 B 1.02ECLI:DE:BVerwG:2002:030502B4B1.02.0
Beschluss
BVerwG 4 B 1.02
- OVG für das Land Nordrhein-Westfalen - 19.09.2001 - AZ: OVG 11 D 90/96.AK
In der Verwaltungsstreitsache hat der 4. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
am 3. Mai 2002
durch den Vorsitzenden Richter am Bundesverwaltungsgericht
Dr. P a e t o w und die Richter am Bundesverwaltungsgericht
Prof. Dr. Dr. B e r k e m a n n und G a t z
beschlossen:
- I. Auf die Beschwerde des Klägers wird das Urteil des Oberverwaltungsgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen vom 19. September 2001 aufgehoben.
- Die Sache wird zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das Oberverwaltungsgericht zurückverwiesen.
- Die Entscheidung über die Kosten einschließlich der außergerichtlichen Kosten der Beigeladenen bleibt der Schlussentscheidung vorbehalten.
- II. Der Wert des Streitgegenstandes wird für das Beschwerdeverfahren auf 10 000 € festgesetzt.
I
Der Kläger ist Eigentümer eines mit einem Wohnhaus bebauten Grundstückes im Gebiet der Stadt M., der Beigeladenen zu 2. Mit seiner Klage wendet er sich gegen den Planfeststellungsbeschluss des Beklagten vom 7. Februar 1996 in Verbindung mit dem Ergänzungs- und Änderungsbeschluss vom 24. November 1997 für den Neubau der Bundesautobahn 44 zwischen dem Autobahnkreuz S. und der Anschlussstelle M. in D. Er will vor allem einen verbesserten Lärmschutz erreichen.
Das Oberverwaltungsgericht hat die Klage als unbegründet abgewiesen. Es ist davon ausgegangen, dass der angegriffene Planfeststellungsbeschluss die Lärmgrenzwerte der 16. BImSchV einhalte. Hierbei hat das vorinstanzliche Gericht eine Untersuchung über das Verkehrsaufkommen zugrunde gelegt, die als projektbezogene Untersuchung die Verkehrsstärke abweichend von den Vorgaben der 16. BImSchV ermittelt hat.
Gegen das vorinstanzliche Urteil richtet sich die Beschwerde des Klägers, mit der die Zulassung der Revision begehrt wird. Das angegriffene Urteil werfe Fragen von grundsätzlicher Bedeutung auf. Es sei auch verfahrensfehlerhaft zustande gekommen. Das Berufungsgericht habe Erkenntnisse aus einem anderen Streitverfahren (23 D 57/96.AK, Bl. 216 ff.) zugrunde gelegt. Diese seien ihm, dem Kläger, nicht bekannt gewesen. Das Erstgericht hat der Beschwerde nicht abgeholfen.
Der Beklagte ist der Beschwerde in rechtlicher und in tatsächlicher Hinsicht entgegengetreten. Die Beigeladenen sind gehört worden. Sie haben sich dem Vorbringen des Beklagten angeschlossen.
Das Beschwerdegericht hat die vom vorinstanzlichen Gericht in den Entscheidungsgründen seines Urteils angeführte Akte 23 D 57/96.AK (Bl. 216 ff.) beigezogen.
II
Die Beschwerde ist begründet.
Das Urteil des Berufungsgerichts leidet unter einem Verfahrensmangel im Sinne des § 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO. Zum Zwecke der Verfahrensbeschleunigung macht der beschließende Senat von der Möglichkeit der Zurückverweisung der Sache gemäß § 133 Abs. 6 VwGO Gebrauch.
1. Die Beschwerde ist mit dem Vorbringen zulässig, dass das Berufungsurteil seiner Entscheidung Tatsachen zugrunde gelegt habe, zu denen sich der Kläger nicht hat äußern können (vgl. § 108 Abs. 2 VwGO). Die Beschwerde hat dies schlüssig dargelegt (vgl. § 133 Abs. 3 Satz 3 VwGO). Der Verfahrensmangel liegt auch vor.
a) Nach § 108 Abs. 2 VwGO darf ein Urteil nur auf Tatsachen und Beweisergebnisse gestützt werden, zu denen sich die Beteiligten äußern konnten. § 108 Abs. 2 VwGO schließt nicht aus, dass das Gericht im Rahmen seiner Untersuchungspflicht Erkenntnisse aus anderen Verfahren verwertet. Es muss dann aber die Beteiligten von diesen Erkenntnisquellen vorab unterrichten und ihnen Gelegenheit zur Stellungnahme geben (vgl. BVerfGE 10, 177 <183>; BVerwG, Urteil vom 8. Februar 1983 - BVerwG 9 C 847.82 - Buchholz 310 § 108 VwGO Nr. 132 = NVwZ 1984, 169; Urteil vom 22. März 1983 - BVerwG 9 C 860.82 - BVerwGE 67, 83 <84>; VGH Kassel vom 7. Februar 1995 - 13 UZ 3167/94 - MDR 1995, 524). Es genügt auch nicht, dass derartige Erkenntnisse den Beteiligten möglicherweise anderweitig bekannt sind. Denn dadurch werden sie ohne entsprechenden Hinweis des Gerichtes nicht zum Gegenstand des Verfahrens (vgl. BVerwG, Urteil vom 27. Mai 1986 - BVerwG 9 C 34.86 - Buchholz 402.25 § 1 AsylVfG Nr. 48; Beschluss vom 7. September 1981 - BVerwG 9 B 375.81 - Buchholz 402.24 § 28 AuslG Nr. 30).
Das Gericht kann sich dieser Pflicht zur Offenlegung, die sich mittelbar aus § 108 Abs. 2 VwGO ergibt, auch nicht durch eine allgemeine Bezugnahme gemäß § 117 Abs. 3 Satz 2 VwGO entziehen. Die Bezugnahme dient der Vereinfachung der Darstellung, ersetzt jedoch nicht die gebotene gerichtliche Erörterung.
b) Der angegriffene Planfeststellungsbeschluss legt der Lärmberechnung eine projektbezogene Untersuchung über die Verkehrsstärke zugrunde. Das vorinstanzliche Gericht hat dies als sachlich zutreffend gebilligt. Es hat sich hierzu tragend auf Erkenntnisse aus einer Akte des Beklagten gestützt, die es im gerichtlichen Verfahren 23 D 57/96.AK, an dem der Kläger nicht beteiligt war, beigezogen hatte. Das ergeben die Urteilsgründe (vgl. Urteilsabdruck S. 13). Diese Akte des Beklagten - im Verfahren 23 D 57/96.AK als Beiakte 9 bezeichnet - wurde im vorliegenden Streitverfahren nicht beigezogen.
Die Akte des Beklagten ist auch nicht anderweitig zum Gegenstand der mündlichen Verhandlung gemacht worden. Der Prozessbevollmächtigte des Klägers - Rechtsanwalt B. - trägt diesen Umstand mit der Beschwerdeschrift als eigenes Wissen vor. Diesem Vortrag folgt das Beschwerdegericht im Sinne des Freibeweises in tatsächlicher Hinsicht. Es sieht keinen Anlass zu weiteren Ermittlungen. Die Niederschrift über die mündliche Verhandlung vom 19. September 2001 enthält keinen Hinweis da-
rauf, dass in ihr auf die Beiakte des Verfahrens 23 D 57/96.AK hingewiesen wurde. Allerdings sind derartige Hinweise nicht zwingend vorgeschrieben (vgl. § 105 VwGO in Verbindung mit § 160 Abs. 3 ZPO), mag dies im Einzelfall auch ratsam sein. Der Prozessbevollmächtigte des Klägers war in der mündlichen Verhandlung vom 19. September 2001 anwesend. Das ergibt die Niederschrift. Das Erstgericht hat im Verfahren der Abhilfe keinen Anlass gesehen, dem Vorbringen der Beschwerde, das sein eigenes Verfahren betrifft, entgegenzutreten. Auch der Beklagte hat dem tatsächlichen Vorbringen der Beschwerde in seiner Beschwerdeerwiderung nicht widersprochen. Der Vertreter des Beklagten, der die Beschwerdeerwiderung unterzeichnet hat, war ebenfalls in der mündlichen Verhandlung vom 19. September 2001 anwesend. Auch die im Beschwerdeverfahren angehörten Beigeladenen haben einen abweichenden Geschehensablauf nicht vorgetragen.
Die Frage der maßgebenden Verkehrsstärke war im vorinstanzlichen Verfahren eine gewichtige Frage. Die Klagebegründung vom 28. Juni 1996 hat sie bereits als maßgebend aufgeworfen. Auch der Gerichtsbescheid vom 4. Februar 2000 war - wenngleich in einem anderem Zusammenhang - auf sie eingegangen. Die Kläger hatten die Fragestellung in ihrem Schriftsatz vom 11. April 2001 nebst vorgelegter fachlicher Stellungnahme vertieft.
c) Das vorinstanzliche Urteil beruht auch auf dem geltend gemachten Verfahrensfehler. Die Beschwerde legt näher dar, was der Kläger im Falle eines richterlichen Hinweises vorgetragen hätte. Die Einsicht des Beschwerdegerichtes in die Beiakte Nr. 9 des vorinstanzlichen Verfahrens 23 D 57/96.AK (Bl. 216 ff.) ergibt, dass sich ein Erörterungsbedarf des dort vorgelegten Tatsachenmaterials für die Frage, ob eine geeignete projektbezogene Untersuchung vorhanden ist, nicht von vornherein von der Hand weisen lässt. Ob dem Vorbringen der Beschwerde vor dem Erstgericht letztlich Erfolg beschieden sein wird, hat das Beschwerdegericht nicht zu entscheiden. Bei einer Verletzung des Anspruchs auf Gewährung rechtlichen Gehörs ist dem Beschwerdegericht ohnehin eine eigene Kausalitätsprüfung gemäß § 138 Nr. 3 VwGO versagt.
2. Auf weitere geltend gemachte Zulassungsgründe kommt es für den Erfolg der Beschwerde nicht an. Das Beschwerdegericht macht hierzu die Beteiligten auf den Beschluss vom heutigen Tage in der Sache BVerwG 4 B 2.02 aufmerksam. Der Beschluss ist nachrichtlich beigefügt.
3. Die Festsetzung des Streitwertes beruht auf § 14 Abs. 1, § 13 Abs. 1 Satz 1, § 73 Abs. 1 GKG. Dem Berufungsgericht bleibt eine abschließende Kostenentscheidung vorbehalten.