Beschluss vom 03.01.2003 -
BVerwG 7 B 57.02ECLI:DE:BVerwG:2003:030103B7B57.02.0

Leitsatz:

Die Veräußerung eines Grundstücks, das zum Nachlass eines verstorbenen Juden gehörte, durch den Nachlasspfleger im Jahr 1939 stellt einen Zwangsverkauf i.S. von § 1 Abs. 6 Satz 2 VermG i.V.m. Art. 3 Abs. 1 REAO dar, wenn die Erben ebenfalls Verfolgte i.S. von § 1 Abs. 6 Satz 1 VermG waren.

  • Rechtsquellen
    VermG § 1 Abs. 6 Satz 2
    REAO Art. 3 Abs. 1

  • VG Berlin - 28.02.2002 - AZ: VG 31 A 329.99

  • Zitiervorschlag

    BVerwG, Beschluss vom 03.01.2003 - 7 B 57.02 - [ECLI:DE:BVerwG:2003:030103B7B57.02.0]

Beschluss

BVerwG 7 B 57.02

  • VG Berlin - 28.02.2002 - AZ: VG 31 A 329.99

In der Verwaltungsstreitsache hat der 7. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
am 3. Januar 2003
durch den Vorsitzenden Richter am Bundesverwaltungsgericht
S a i l e r und die Richter am Bundesverwaltungsgericht
H e r b e r t und N e u m a n n
beschlossen:

  1. Das Urteil des Verwaltungsgerichts Berlin vom 28. Februar 2002 wird aufgehoben.
  2. Die Sache wird zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das Verwaltungsgericht zurückverwiesen.
  3. Die Entscheidung über die Kosten bleibt der Schlussentscheidung vorbehalten.
  4. Der Wert des Streitgegenstandes wird für das Beschwerdeverfahren auf 500 000 € festgesetzt.

I


Der Kläger wendet sich gegen die vermögensrechtliche Rückübertragung eines Grundstücks an die Beigeladene. Miteigentümer des Grundstücks zu je ein Halb waren zunächst die Juden Leo A. und Ivan B. Nach dem Tod des Miteigentümers Leo A. am 30. August 1936 wurde für dessen unbekannte Erben ein Nachlasspfleger bestellt. Der Nachlasspfleger veräußerte zusammen mit dem Miteigentümer Ivan B. das Grundstück durch Kaufvertrag vom 22. Dezember 1939 an den Rechtsvorgänger des Klägers. Auf den Antrag der Beigeladenen übertrug der Beklagte das Grundstück auf sie zurück. Die hiergegen erhobene Klage hat das Verwaltungsgericht abgewiesen, weil nach § 1 Abs. 6 Satz 2 VermG, Art. 3 Abs. 1 der Anordnung BK/O (49) 180 der Alliierten Kommandantur Berlin vom 26. Juli 1949 (REAO) ein verfolgungsbedingter Zwangsverkauf zu vermuten und diese Vermutung nicht nach Art. 3 Abs. 3 REAO widerlegt sei. Das Verwaltungsgericht hat die Revision gegen sein Urteil nicht zugelassen. Hiergegen richtet sich die Beschwerde des Klägers.

II


Die Beschwerde ist begründet. Der Rechtssache kommt zwar nicht die geltend gemachte grundsätzliche Bedeutung im Sinne des § 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO zu (1.). Jedoch beruht das angefochtene Urteil auf dem geltend gemachten Verfahrensfehler im Sinne des § 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO (2.).
1. Der Kläger hält die Rechtsfrage für grundsätzlich bedeutsam,
ob die Vermutung eines verfolgungsbedingten Zwangsverkaufs nach Art. 3 Abs. 1 REAO auch auf die Veräußerung des Vermögenswertes durch einen Nachlasspfleger Anwendung findet.
Diese Frage rechtfertigt die Zulassung der Revision nicht. Sie beantwortet sich, soweit eine Antwort losgelöst von den Umständen des Einzelfalles möglich ist, unmittelbar aus dem Gesetz und der hierzu bereits vorliegenden Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts. Danach ist es grundsätzlich unerheblich, ob der Vermögenswert durch einen Nachlasspfleger verkauft worden ist. Entscheidend ist allein, dass der Eigentümer den Vermögenswert aus verfolgungsbedingten Gründen verloren hat. Er muss hierfür den Kaufvertrag nicht höchstpersönlich abgeschlossen haben (so für eine Veräußerung durch den Testamentsvollstrecker: BVerwG, Beschluss vom 27. November 2001 - BVerwG 8 B 176.01 - VIZ 2002, 280). Ein Zwangsverkauf kann auch dann vorliegen, wenn für den verfolgten Eigentümer ein rechtsgeschäftlich bestellter oder gesetzlicher Vertreter gehandelt hat, mag dieser auch selbst nicht verfolgt gewesen sein.
Entgegen der Auffassung des Klägers wird die Vermutungsregelung nicht über ihren Wortlaut hinaus erweiternd ausgelegt, wenn in sie auch die durch einen Vertreter abgeschlossenen Geschäfte mit einbezogen werden. Ein Nachlasspfleger handelt mit Wirkung für und gegen die Erben. Der Wortlaut des Art. 3 Abs. 1 REAO erfasst ohne weiteres auch diesen Fall. Eine Veräußerung „durch jemanden", der zum Kreis der individuell oder kollektiv verfolgten Personen gehörte, liegt auch dann vor, wenn für den Verfolgten ein Vertreter gehandelt hat, dessen Handeln dem Verfolgten zugerechnet wird.
Der Zweck der Vermutungsregelung verlangt keine Eingrenzung auf die Fälle, in denen der Verfolgte den Vermögenswert höchstpersönlich (oder durch einen seinerseits verfolgten rechtsgeschäftlichen Vertreter) veräußert hat. Gegenstand der Vermutung ist der Umstand, dass die Veräußerung auf verfolgungsbedingten Gründen beruhte, der Verfolgte also in seinem Entschluss zur Veräußerung des Vermögenswertes durch seine Verfolgung bestimmt worden ist und in diesem Sinne in seinem Entschluss nicht frei war. Auch der Nachlasspfleger als gesetzlicher Vertreter der unbekannten Erben kann aufgrund der verfolgungsbedingten Lage der Erben zu dem Entschluss gelangt sein, den Vermögensgegenstand zu veräußern. Gerade weil er die Interessen der Erben zu wahren hatte, kann er in seinen Entschlüssen von denselben Motiven bestimmt gewesen sein, welche den Erben selbst zur Veräußerung ihres Vermögens hätten Anlass geben können. Anders als der Kläger offenbar meint, ist ein Vermögensverlust mithin nicht erst dann durch die Verfolgung bedingt, wenn der Nachlasspfleger seine Pflichten zum Nachteil des verfolgten Erben verletzt, etwa indem er mit der Veräußerung von Vermögenswerten Wünschen des verfolgenden Staates nachgibt.
Entgegen der Ansicht des Klägers ist es schließlich nicht deshalb gerechtfertigt, die Fälle einer Veräußerung des Vermögenswertes durch einen Vertreter aus der Vermutungsregel herauszunehmen, weil der Verfolgte zwar die eigenen inneren Gründe für den Abschluss eines Vertrages nur schwer beweisen kann, im Falle des Handelns eines Vertreters aber dieser als Zeuge zu den Gründen aussagen kann, die ihn zum Abschluss des Vertrages bewogen haben. Schon aus tatsächlichen Gründen trifft dies weitgehend für die Zeit nicht mehr zu, zu welcher der Gesetzgeber die Vermutungsregelung auch für die nachgezogene Rückerstattung von Vermögenswerten auf dem Gebiet der DDR für anwendbar erklärt hat. Im Übrigen soll die Vermutungsregelung des Art. 3 Abs. 1 REAO nicht nur Beweisschwierigkeiten bei der Feststellung einer inneren Tatsache überwinden helfen, sondern allgemein die Schwierigkeiten ausgleichen, die sich dem Berechtigten bei der Aufklärung länger zurückliegender Vorgänge auftun, die nicht selten auch durch den (verfolgungs- oder kriegsbedingten) Verlust von Unterlagen zusätzlich erschwert wird.
Zwar können sich aus der Rechtsstellung des Nachlasspflegers und seinem Rechtsverhältnis zum Erben einerseits, zum Nach-lassgericht andererseits Besonderheiten ergeben, wie dem Kläger einzuräumen ist. Wie sich diese Besonderheiten im Einzelfall bei der Bewertung einer Veräußerung auswirken, gehört indes zu der Frage, ob das Rechtsgeschäft seinem wesentlichen Inhalt nach auch ohne die Herrschaft des Nationalsozialismus abgeschlossen worden wäre (Art. 3 Abs. 3 Buchst. a REAO).
2. Der geltend gemachte Verfahrensfehler liegt vor. Das Verwaltungsgericht hat seine Pflicht verletzt, den Sachverhalt von Amts wegen aufzuklären (§ 86 Abs. 1 VwGO).
a) Das Verwaltungsgericht durfte nicht ohne weitere Bemühungen um eine Klärung des Sachverhalts seiner Entscheidung die Annahme zugrundelegen, das streitige Grundstück habe zum Zeitpunkt seiner Veräußerung vollständig im Eigentum von Personen gestanden, die dem Kreis der im Dritten Reich rassisch Verfolgten zuzurechnen seien (Art. 3 Abs. 1 REAO).
Das Verwaltungsgericht räumt selbst ein, es sei nicht bekannt, wer seinerzeit nach dem verstorbenen Miteigentümer Leo A. als dessen Erbe Miteigentümer des Grundstücks gewesen sei. Das Verwaltungsgericht geht insoweit zu Gunsten des Klägers von der nach Lage der Akten nahe liegenden Annahme aus, dass sowohl die Ehefrau des Erblassers, die testamentarisch als Erbin berufen war, als auch dessen Schwestern, die in der weiteren Folge als gesetzliche Erben in Betracht gekommen wären, das Erbe nach Leo A. ausgeschlagen haben. Im Kaufvertrag selbst hat der Nachlasspfleger offenbar mit Blick auf § 8 der Verordnung über den Einsatz des jüdischen Vermögens vom 3. Dezember 1938 (RGBl I S. 1709) erklärt, ihm seien die Erben nach Leo A. unbekannt; er könne daher keine Erklärung darüber abgeben, ob sie Juden im Sinne der Nürnberger Rassengesetze seien.
Das Verwaltungsgericht stützt sich für seine Annahme, die Erben nach Leo A. hätten zum Kreis der rassisch Verfolgten gehört, auf das spätere Schreiben des Nachlasspflegers an das Nachlassgericht vom 7. November 1941. Mit ihm hat der Nachlasspfleger eine Aufforderung des Nachlassgerichts beantwortet, die möglichen Erben zu ermitteln und das Nachlassgericht hiervon zu benachrichtigen. In diesem Schreiben vom 7. November 1941 hat der Nachlasspfleger angegeben, sämtliche in Betracht kommenden Erben seien Juden und befänden sich zum größten Teil unbekannten Aufenthalts im Ausland. Es mag sein, dass diese Mitteilung auf einem besseren Erkenntnisstand des Nachlasspflegers beruhte als dessen Erklärung in dem zwei Jahre zuvor abgeschlossenen Kaufvertrag, wie das Verwaltungsgericht vermutet. Denkbar ist aber auch, wie der Kläger einwendet, dass der Nachlasspfleger mit dieser Mitteilung nur die Angelegenheit zu einem einfachen Abschluss bringen wollte, zumal nach seinen weiteren Angaben in jenem Schreiben die Aktiva und Schulden des Nachlasses sich vollständig ausgeglichen hätten und deshalb keine Vermögenswerte aus der Erbschaft an die Erben zur Verteilung gelangen könnten.
In dieser Lage durfte das Verwaltungsgericht seine Überzeugung davon, dass im Zeitpunkt der Veräußerung des Grundstücks nur rassisch Verfolgte als dessen Eigentümer in Betracht kamen, auf das spätere Schreiben des Nachlasspflegers erst dann stützen, wenn zuvor die Möglichkeiten einer weiteren Aufklärung des Sachverhalts erschöpft waren. Das war indes nicht der Fall. Der Kläger hatte nach Verzicht auf eine mündliche Verhandlung, aber vor der Entscheidung des Verwaltungsgerichts unter Angabe der Aktenzeichen die Beiziehung von Akten beantragt, die aus Anlass von Rückerstattungsverfahren Anfang der fünfziger Jahre angefallen waren. Diese Rückerstattungsverfahren hatten andere Grundstücke betroffen, deren Eigentümer (oder Miteigentümer) ebenfalls Leo A. gewesen war, die also ebenfalls in seinen Nachlass gefallen waren. Insoweit ist nicht ausgeschlossen, dass aus den Rückerstattungsakten sich zeitnahe, auch für das vorliegende Verfahren bedeutsame Erkenntnisse dazu ergeben, wer nach Leo A. Eigentümer der Grundstücke geworden ist.
Das Verwaltungsgericht hat diese Möglichkeit mit einer unzutreffenden Begründung verneint. Es nimmt ohne Beiziehung der Akten an, in den Rückerstattungsverfahren sei davon ausgegangen worden, Alleinerbin nach Leo A. sei dessen Ehefrau gewesen. Das Verwaltungsgericht stützt sich hierfür auf ein Schreiben der Frau Lydia Br. vom 1. März 1958 an die Wiedergutmachungskammer beim Landgericht Berlin. Das Schreiben trägt den daraus gezogenen Schluss des Verwaltungsgerichts nicht. Es stammt aus einem Wiedergutmachungsverfahren, das die Rückerstattung von Vermögenswerten zum Gegenstand hatte, die der Witwe von Leo A. entzogen worden waren. Die Grundstücke, deren Eigentümer Leo A. gewesen war, waren nicht Gegenstand dieses Rückerstattungsverfahrens. Das ist gerade dann folgerichtig, wenn auch in dem Rückerstattungsverfahren nach der Witwe Leo A.s davon ausgegangen worden ist, dass diese Grundstücke der Witwe Leo A.s nicht gehört hatten, weil sie die Erbschaft ausgeschlagen hatte. Frau Br., die sich erfolglos einer Erbenstellung nach der Witwe Leo A.s berühmt hatte, hatte mit jenem vom Verwaltungsgericht erwähnten Schreiben (erfolglos) die Einbeziehung dieser Grundstücke in das Rückerstattungsverfahren beantragt, unter Hinweis auf die seinerzeit wegen dieser Grundstücke bereits anhängigen anderen Rückerstattungsverfahren, über die sonst (mangels Beiziehung der Akten) nichts bekannt ist. Dem Schreiben lässt sich also allenfalls entnehmen, dass die nicht zu den Rückerstattungsberechtigten gehörende Frau Br. (aus welchen Gründen auch immer) angenommen hat, zum Nachlass der Witwe Leo A.s hätten auch die Grundstücke gehört, die ehedem in seinem (Mit-)Eigentum gestanden hätten.
b) Das Verwaltungsgericht durfte ferner nicht ohne weitere Bemühungen um eine Klärung des Sachverhalts seiner Entscheidung die Annahme zugrundelegen, es sei nicht nachgewiesen, dass der Erlös aus der Veräußerung des Grundstücks in die freie Verfügbarkeit des Veräußerers gelangt ist (Art. 3 Abs. 2 und 3 REAO).
Das Verwaltungsgericht hätte zur Klärung auch dieser Frage die Akten der früheren Rückerstattungsverfahren beiziehen müssen. Soweit der Miteigentumsanteil betroffen ist, der ursprünglich Leo A. gehört hatte, lässt das Verwaltungsgericht offen, ob es insoweit auf die freie Verfügung des Nachlasspflegers oder der unbekannten Erben ankommt. Es geht selbst davon aus, dass eine freie Verfügbarkeit über den Kaufpreis auch dann gegeben ist, wenn dieser zur Tilgung nicht diskriminierender Verbindlichkeiten verwendet worden ist. Nach der Mitteilung des Nachlasspflegers vom 7. November 1941 war der Nachlass ausgeglichen. Das Verwaltungsgericht hat sich in anderem Zusammenhang auf dieses Schreiben gestützt und ist von dessen Richtigkeit ausgegangen. Es ist nicht auszuschließen, dass die Rückerstattungsakten, welche die anderen in den Nachlass gefallenen Grundstücke betreffen, Aufschluss über die Tätigkeit des Nachlasspflegers sowie über den Vermögensstand des Nachlasses als solchem und damit auch über etwaige Zahlungen aus dem Nachlass geben. Dass hierfür von vornherein keine Anhaltspunkte bestehen, durfte das Verwaltungsgericht nicht ohne Beiziehung dieser Akten annehmen.
c) Das Verwaltungsgericht durfte schließlich nicht ohne weitere Bemühungen um eine Klärung des Sachverhalts seiner Entscheidung die Annahme zugrundelegen, es sei nicht nachgewiesen, dass das Rechtsgeschäft seinem wesentlichen Inhalt nach auch ohne die Herrschaft des Nationalsozialismus abgeschlossen worden wäre (Art. 3 Abs. 3 Buchst. a REAO).
Die Akten über die früheren Rückerstattungsverfahren, deren Beiziehung der Kläger auch insoweit beantragt hatte, könnten Aufschluss auch über die Gründe geben, aus denen der Nachlasspfleger an der Veräußerung des hier streitigen Grundstücks mitgewirkt hat. Die Voraussetzungen des Art. 3 Abs. 3 Buchst. a REAO könnten erfüllt sein, wenn die Nachlassverbindlichkeiten zu ihrer Begleichung eine Verwertung des Grundstücks erforderten. Im Übrigen ist der Nachlasspfleger im Zeitpunkt der Veräußerung des Grundstücks ausweislich seiner Erklärung im Kaufvertrag nicht davon ausgegangen, dass die unbekannten Erben Juden im Sinne der Nürnberger Rassengesetze waren. Das legt in diesem Zusammenhang die Überlegung nahe, dass er den Kaufvertrag aus Gründen abgeschlossen hat, die mit der Verfolgungslage der Juden unter der Herrschaft des Nationalsozialismus nicht in Zusammenhang standen.
Der Senat macht von der Möglichkeit Gebrauch, wegen des Verfahrensfehlers die Sache zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das Verwaltungsgericht zurückzuverweisen (§ 133 Abs. 6 VwGO).
Die Festsetzung des Streitwerts beruht auf § 14 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 3, § 13 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 3 GKG.