Verfahrensinformation

Generalpräventive inlandsbezogene Ausweisung und isolierte Titelerteilungssperre


Der Kläger ist iranischer Staatsangehöriger, dem im März 2017 der Flüchtlingsstatus zuerkannt wurde. 2019 wurde er wegen Betäubungsmitteldelikten rechtskräftig zu einer Freiheitsstrafe von zwei Jahren und neun Monaten verurteilt, woraufhin das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge im Juni 2020 die Flüchtlingsanerkennung widerrief, die Gewährung subsidiären Schutzes ablehnte und ein Abschiebungsverbot bezüglich des Iran feststellte. Im Juli 2021 wies die Beklagte den Kläger aus dem Bundesgebiet aus, ordnete gegen ihn ein auf drei Jahre befristetes Einreise- und Aufenthaltsverbot an, lehnte seinen Antrag auf Verlängerung einer Aufenthaltserlaubnis ab und drohte dem Kläger nachträglich die Abschiebung in einen aufnahmebereiten Staat mit Ausnahme des Iran an.


Das Verwaltungsgericht hat die Beklagte zur Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis an den Kläger wegen Vorliegens eines Abschiebungsverbots (§ 25 Abs. 3 AufenthG) verpflichtet und seine Klage im Übrigen abgewiesen. Das Oberverwaltungsgericht hat die Berufung des Klägers zurückgewiesen und auf die Berufung der Beklagten diese zur Neubescheidung des Antrages des Klägers auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis verpflichtet. Die Ausweisung des Klägers sei im Hinblick auf die von ihm verwirklichten Straftaten aus generalpräventiven Gründen gerechtfertigt und diese habe auch "inlandsbezogen" ergehen dürfen, obwohl der Kläger nicht abgeschoben werden könne. Die von der Beklagten erlassene Abschiebungsandrohung sei mangels Bezeichnung eines Abschiebezielstaates rechtswidrig. Deshalb erweise sich auch das Einreise- und Aufenthaltsverbot als (unions-)rechtswidrig. Aus Letzterem folge auch keine isolierte Titelerteilungssperre, weil hierfür keine Rechtsgrundlage bestehe. Der Kläger habe einen Anspruch auf Neubescheidung seines Antrages auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis bei bestehender Ausreisepflicht (§ 25 Abs. 5 AuslG), wobei eine Ermessensentscheidung über das Absehen von den Regelerteilungsvoraussetzungen zu treffen sei.


Mit der Revision wendet sich der Kläger weiter gegen die ihn verfügte inlandsbezogene Ausweisung aus generalpräventiven Gründen und die Beklagte gegen die ihr gegenüber durch das Berufungsgericht ausgesprochene Verpflichtung zur Neubescheidung des Antrages des Klägers auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis.


Pressemitteilung Nr. 20/2025 vom 24.03.2025

Interessenabwägung bei einer generalpräventiven Ausweisung trotz bestehenden Abschiebungsverbots; keine isolierte Titelerteilungssperre

In die bei einer Ausweisung vorzunehmende Interessenabwägung sind Bleibeinteressen auch dann einzustellen, wenn zugunsten des Ausländers ein zielstaatsbezogenes Abschiebungsverbot festgestellt wurde. Für eine isolierte Titelerteilungssperre besteht keine Rechtsgrundlage. Dies hat das Bundesverwaltungsgericht in Leipzig heute entschieden.


Der Kläger ist iranischer Staatsangehöriger, dem im März 2017 der Flüchtlingsstatus zuerkannt wurde. 2019 wurde er wegen Betäubungsmitteldelikten rechtskräftig zu einer Freiheitsstrafe von zwei Jahren und drei Monaten verurteilt, woraufhin das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge im Juni 2020 die Flüchtlingsanerkennung widerrief, die Gewährung subsidiären Schutzes ablehnte und ein Abschiebungsverbot bezüglich des Irans feststellte. Im Juli 2021 wies die Beklagte den Kläger aus dem Bundesgebiet aus, ordnete gegen ihn ein auf drei Jahre befristetes Einreise- und Aufenthaltsverbot an, lehnte seinen Antrag auf Verlängerung einer Aufenthaltserlaubnis ab und drohte ihm nachträglich die Abschiebung in einen aufnahmebereiten Staat mit Ausnahme des Irans an.


Das Verwaltungsgericht hat die Beklagte zur Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis an den Kläger wegen Vorliegens eines Abschiebungsverbots (§ 25 Abs. 3 AufenthG) verpflichtet und seine Klage im Übrigen abgewiesen. Das Oberverwaltungsgericht hat die Berufung des Klägers zurückgewiesen und auf die Berufung der Beklagten diese zur Neubescheidung des Antrags des Klägers auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis verpflichtet. Die Ausweisung des Klägers sei im Hinblick auf die von ihm verwirklichten Straftaten aus generalpräventiven Gründen gerechtfertigt. Sie habe auch "inlandsbezogen" ergehen dürfen, obwohl der Kläger nicht abgeschoben werden könne. Die von der Beklagten erlassene Abschiebungsandrohung sei mangels Bezeichnung eines Zielstaates rechtswidrig. Deshalb erweise sich auch das Einreise- und Aufenthaltsverbot als (unions-)rechtswidrig. Aus Letzterem folge auch keine isolierte Titelerteilungssperre, weil hierfür keine Rechtsgrundlage bestehe. Der Kläger habe einen Anspruch auf Neubescheidung seines Antrags auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 5 AufenthG, wobei eine Ermessensentscheidung über das Absehen von den Regelerteilungsvoraussetzungen zu treffen sei.


Der 1. Senat des Bundesverwaltungsgerichts hat das Berufungsurteil im Wesentlichen bestätigt und die Revisionen des Klägers und der Beklagten zurückgewiesen. Ein Ausländer, der wegen eines zielstaatsbezogenen Abschiebungsverbotes nicht abgeschoben werden kann, kann auch aus rein generalpräventiven Gründen ausgewiesen werden. In die bei der Ausweisung vorzunehmende Abwägung der öffentlichen Interessen an einer Ausreise und der Interessen des Ausländers an einem Verbleib im Bundesgebiet (§ 53 Abs. 1 AufenthG) sind Beeinträchtigungen im Herkunftsstaat nur einzustellen, soweit sie nicht das Gewicht eines zielstaatsbezogenen Abschiebungsverbotes erreichen. Im Übrigen sind Bleibeinteressen auch dann mit unvermindertem Gewicht zu berücksichtigen, wenn eine Abschiebung des Ausländers wegen eines Abschiebungsverbotes auf absehbare Zeit nicht vollzogen werden kann.


Unter Geltung der Rückführungsrichtlinie (RL 2008/115/EG) gibt es keinen Raum für ein nationalrechtliches Einreise- und Aufenthaltsverbot ohne Rückkehrentscheidung. Eine Titelerteilungssperre besteht nur als Rechtsfolge eines wirksam verhängten Einreise- und Aufenthaltsverbots (§ 11 Abs. 1 Satz 3 AufenthG); eine (isolierte) Titelerteilungssperre ohne Einreise- und Aufenthaltsverbot findet dagegen im derzeit geltenden Aufenthaltsrecht keine Rechtsgrundlage.


Auch wenn wegen der Begehung einer Straftat von erheblicher Bedeutung die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 3 AufenthG ausgeschlossen ist (§ 25 Abs. 3 Satz 3 Nr. 2 AufenthG), kann einem vollziehbar ausreisepflichtigen Ausländer eine Aufenthaltserlaubnis im Ermessenswege (§ 25 Abs. 5 AufenthG) unter Absehung von Regelerteilungsvoraussetzungen (§ 5 Abs. 3 Satz 2 AufenthG) erteilt werden.


BVerwG 1 C 15.23 - Urteil vom 24. März 2025

Vorinstanzen:

VG Bremen, VG 2 K 1366/21 - Urteil vom 14. April 2023 -

OVG Bremen, OVG 2 LC 116/23 - Urteil vom 30. August 2023 -


Beschluss vom 22.01.2024 -
BVerwG 1 C 15.23ECLI:DE:BVerwG:2024:220124B1C15.23.0

  • Zitiervorschlag

    BVerwG, Beschluss vom 22.01.2024 - 1 C 15.23 - [ECLI:DE:BVerwG:2024:220124B1C15.23.0]

Beschluss

BVerwG 1 C 15.23

  • VG Bremen - 14.04.2023 - AZ: 2 K 1366/21
  • OVG Bremen - 30.08.2023 - AZ: 2 LC 116/23

In der Verwaltungsstreitsache hat der 1. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
am 22. Januar 2024
durch den Vorsitzenden Richter am Bundesverwaltungsgericht Dr. Keller
und die Richter am Bundesverwaltungsgericht Dollinger und Böhmann
beschlossen:

  1. Die Beschwerde des Klägers gegen die Nichtzulassung der Revision in dem Urteil des Oberverwaltungsgerichts der Freien Hansestadt Bremen vom 30. August 2023 wird zurückgewiesen.
  2. Der Kläger trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.
  3. Der Wert des Streitgegenstandes wird für das Beschwerdeverfahren auf 5 000 € festgesetzt.

Gründe

1 Die Beschwerde, mit der allein eine grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache (§ 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO) geltend gemacht wird, richtet sich bei sachgerechter Auslegung allein dagegen, dass das Oberverwaltungsgericht die Revision nicht zugelassen hat, soweit die auf Verpflichtung der Beklagten zur Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis gerichtete Klage erfolglos geblieben ist. Sie hat keinen Erfolg.

2 1. Einer Rechtssache kommt grundsätzliche Bedeutung nur zu, wenn sie eine für die erstrebte Revisionsentscheidung erhebliche Frage des revisiblen Rechts aufwirft, die im Interesse der Einheit und Fortbildung des Rechts revisionsgerichtlicher Klärung bedarf. Das Darlegungserfordernis des § 133 Abs. 3 Satz 3 VwGO setzt insoweit die Formulierung einer bestimmten, höchstrichterlich noch ungeklärten und für die Revisionsentscheidung erheblichen Rechtsfrage des revisiblen Rechts und außerdem die Angabe voraus, worin die allgemeine, über den Einzelfall hinausgehende Bedeutung besteht. Die Beschwerde muss erläutern, dass und inwiefern die Revisionsentscheidung zur Klärung einer bisher revisionsgerichtlich nicht beantworteten fallübergreifenden Rechtsfrage des revisiblen Rechts führen kann (BVerwG, Beschluss vom 19. August 1997 - 7 B 261.97 - Buchholz 310 § 133 <n. F.> VwGO Nr. 26 S. 14). Die Begründungspflicht verlangt, dass sich die Beschwerde mit den Erwägungen des angefochtenen Urteils, auf die sich die aufgeworfene Frage von angeblich grundsätzlicher Bedeutung bezieht, substantiiert auseinandersetzt (BVerwG, Beschluss vom 4. April 2012 - 5 B 58.11 - juris Rn. 2 m. w. N.).

3 2. Danach rechtfertigt die vom Kläger für grundsätzlich bedeutsam erachtete Frage,
"ob die Auslegung und Handhabung des § 25 Abs. 3 Nr. 2 AufenthG unter Außerachtlassung der Frage nach einer aktuell, also im Entscheidungszeitpunkt noch von dem Antragsteller ausgehenden Gefährdung für die Allgemeinheit oder der Sicherheit der Bundesrepublik oder der öffentlichen Sicherheit und Ordnung oder der freiheitlichen demokratischen Grundordnung oder sonstiger erheblicher Interessen der Bundesrepublik Deutschland mit Art. 6 Richtlinie 2008/115/EG vereinbar ist,"
nicht die Zulassung der Revision, da sie bereits geklärt ist.

4 Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union kann keine Bestimmung der Richtlinie 2008/115/EG dahin ausgelegt werden, dass sie verlangte, dass ein Mitgliedstaat einem illegal in seinem Hoheitsgebiet aufhältigen Drittstaatsangehörigen einen Aufenthaltstitel gewährt, wenn gegen diesen Drittstaatsangehörigen weder eine Rückkehrentscheidung noch eine aufenthaltsbeendende Maßnahme ergehen kann (EuGH, Urteil vom 22. November 2022 - C-69/21 [ECLI:​​EU:​​C:​​2022:​​913] - Rn. 85). Der Richtlinie lässt sich daher in einer Fallkonstellation wie der vorliegenden kein Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis entnehmen. Schon gar nicht schreibt das Unionsrecht eine bestimmte Form eines Aufenthaltstitels vor, sodass die Auslegung des § 25 Abs. 3 Satz 3 Nr. 2 AufenthG in dem Berufungsurteil mit Art. 6 der Richtlinie 2008/115/EG vereinbar ist, zumal das Oberverwaltungsgericht die Beklagte zur Neubescheidung des Antrags auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 5 AufenthG an den Kläger verpflichtet hat.

5 3. Die weiteren Fragen,
"ob die Auslegung und Handhabung des § 25 Abs. 3 Nr. 2 AufenthG unter Außerachtlassung der Frage nach einer aktuell, also im Entscheidungszeitpunkt noch von dem Antragsteller ausgehenden Gefährdung für die Allgemeinheit oder der Sicherheit der Bundesrepublik oder der öffentlichen Sicherheit und Ordnung oder der freiheitlichen demokratischen Grundordnung oder sonstiger erheblicher Interessen der Bundesrepublik Deutschland mit dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz vereinbar ist, und
ob die(se) Auslegung (...) unter Berücksichtigung dessen, dass das angerufene Gericht zur Erörterung und Erklärung des § 25 Abs. 3 Nr. 2 AufenthG auf Art. 17 Abs. 1 lit. b Richtlinie 2011/95/EU verweist und verweisen muss, zulässig ist,"
sind ebenfalls bereits geklärt. Für das Vorliegen des Ausschlussgrundes des § 25 Abs. 3 Satz 3 Nr. 2 AufenthG kommt es nicht darauf an, ob eine gegenwärtige Wiederholungsgefahr für eine Straftat von erheblicher Bedeutung besteht. Der Ausschlussgrund ist nicht gefahren- oder präventionsabhängig konzipiert, sondern als dauerhaft wirkender Ausschlusstatbestand. Im Anschluss an Art. 17 Abs. 1 Buchst. b RL 2011/95/EU bezeichnet er Fälle, in denen der Ausländer einer Aufenthaltsgewährung als unwürdig erachtet wird. Diese aus der Begehung einer schweren Straftat folgende "Unwürdigkeit", einen qualifizierten Aufenthaltstitel zu erlangen, besteht auch dann fort, wenn keine Wiederholungsgefahr (mehr) besteht und von dem Ausländer auch sonst keine aktuellen Gefahren für den Aufenthaltsstaat ausgehen (BVerwG, Urteil vom 25. März 2015 - 1 C 16.14 - Buchholz 402.242 § 25 AufenthG Nr. 22, Rn. 29, zum gleichlautenden § 25 Abs. 3 Satz 2 Nr. 2 AufenthG i. d. F. vom 28. August 2013 m. w. N.).

6 In der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union ist zudem geklärt, dass der Ausschlussgrund des Art. 17 Abs. 1 Buchst. b RL 2011/95/EU für sich genommen den Ausschluss von der Schutzgewährung zur Folge hat (EuGH, Urteil vom 6. Juli 2023 - C-8/22 [ECLI:​​EU:​​C:​​2023:​​542] - Rn. 37). Die Ausschlussgründe wurden mit dem Ziel geschaffen, Personen auszuschließen, die als des sich aus ihr ergebenden Schutzes unwürdig angesehen werden, und zu verhindern, dass diese Anerkennung den Urhebern bestimmter schwerwiegender Straftaten ermöglicht, sich einer strafrechtlichen Verantwortung zu entziehen. Es entspräche daher nicht dieser doppelten Zielsetzung, den Ausschluss von der Flüchtlingsanerkennung vom Bestehen einer gegenwärtigen Gefahr für den Aufnahmemitgliedstaat abhängig zu machen (EuGH, Urteil vom 9. November 2010 - C-57/09 und C-101/09 [ECLI:​​EU:​​C:​​2010:​​661], BRD/B. und D. - Rn. 100, 104). Diese zu den Ausschlussgründen des Art. 12 Abs. 2 Buchst. b und c RL 2004/83/EG für die Flüchtlingsanerkennung ergangene Rechtsprechung ist unter dem Gesichtspunkt der durch die Begehung der schweren Straftat bzw. Straftat von erheblicher Bedeutung begründeten Unwürdigkeit auf den Ausschlussgrund des § 25 Abs. 3 Satz 3 Nr. 2 AufenthG übertragbar.

7 Den von der Beschwerde erhobenen Bedenken gegen die Verhältnismäßigkeit einer Auslegung des § 25 Abs. 3 Satz 3 Nr. 2 AufenthG ohne Berücksichtigung der Aktualität einer Gefährdung ist mit der - vom Oberverwaltungsgericht mit der entsprechenden Verpflichtung zur Neubescheidung bestätigten - Möglichkeit der Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 5 AufenthG zu begegnen. Damit erscheint die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis in der vorliegenden Fallkonstellation nicht "faktisch lebenslang" (Beschwerdebegründung, Bl. 4) ausgeschlossen.

8 4. Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO. Die Festsetzung des Streitwertes ergibt sich aus § 47 Abs. 1 und 3, § 52 Abs. 2 GKG.