Beschluss vom 14.03.2024 -
BVerwG 2 WNB 2.23ECLI:DE:BVerwG:2024:140324B2WNB2.23.0

Disziplinarbefugnis bei Zeugenstellung

Leitsatz:

Die Zuständigkeit des nächsten Disziplinarvorgesetzten erlischt nicht nach § 30 Abs. 1 Nr. 1 WDO, wenn er ein Dienstvergehen lediglich als Zeuge wahrgenommen hat.

  • Rechtsquellen
    WBO § 22a Nr. 1
    WDO § 30 Abs. 1 Nr. 1, Abs. 2 Nr. 2

  • TDG Nord 2. Kammer - 02.02.2023 - AZ: N 2 BLc 7/22 und N 2 RL 1/23

  • Zitiervorschlag

    BVerwG, Beschluss vom 14.03.2024 - 2 WNB 2.23 - [ECLI:DE:BVerwG:2024:140324B2WNB2.23.0]

Beschluss

BVerwG 2 WNB 2.23

  • TDG Nord 2. Kammer - 02.02.2023 - AZ: N 2 BLc 7/22 und N 2 RL 1/23

In der Disziplinarsache hat der 2. Wehrdienstsenat des Bundesverwaltungsgerichts durch
den Vorsitzenden Richter am Bundesverwaltungsgericht Dr. Häußler,
den Richter am Bundesverwaltungsgericht Prof. Dr. Burmeister und
die Richterin am Bundesverwaltungsgericht Dr. Henke,
am 14. März 2024 beschlossen:

  1. Die Beschwerde des früheren Soldaten gegen die Nichtzulassung der Rechtsbeschwerde in dem Beschluss des Truppendienstgerichts ... vom 2. Februar 2023 wird zurückgewiesen.
  2. Der frühere Soldat trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.

Gründe

I

1 Die Nichtzulassungsbeschwerde betrifft einen Verweis wegen Ungehorsams.

2 1. Der Disziplinarvorgesetzte hatte den früheren Soldaten am 4. Februar 2022 in Textform angewiesen, dass er in Zukunft immer ihn, den Abteilungsleiter, den Dezernatsleiter und den stellvertretenden Dezernatsleiter bei seinen Abwesenheiten für mobiles Arbeiten beteilige. Aufgrund einer alleine an seinen Dezernatsleiter gerichteten E-Mail vom 24. Februar 2022 erhielt der frühere Soldat die Genehmigung zum mobilen Arbeiten, um seinen Sohn in einer schulfreien Zeit zu Hause betreuen zu können. Daraufhin verhängte der Disziplinarvorgesetzte am 29. April 2022 gegen den früheren Soldaten einen Verweis. Er habe gegen den schriftlichen Befehl, alle Vorgänge seine Person betreffend immer mit allen vier Vorgesetzten zu kommunizieren, verstoßen, indem er einen Vorgang nur seinem Dezernatsleiter zugeleitet habe.

3 2. Hiergegen legte der frühere Soldat Beschwerde mit der Begründung ein, er sei nach der mit seiner Dienststelle getroffenen Individualvereinbarung vom 21. Februar 2022 berechtigt gewesen, eine Abwesenheit am Arbeitsplatz im Einzelfall durch seinen Dezernatsleiter genehmigen zu lassen. Der Rechtsbehelf wurde mit Bescheid vom 19. Mai 2022 zurückgewiesen. Die Individualvereinbarung enthalte nur eine Aussage darüber, wer mobiles Arbeiten genehmigen könne, nicht hingegen, welche Stellen hierüber zu informieren seien. Diese Informationspflicht sei mit dem Befehl des Disziplinarvorgesetzten vom 4. Februar 2022 festgelegt worden.

4 3. Die weitere Beschwerde wurde unter anderem darauf gestützt, dass der Disziplinarvorgesetzte als Beteiligter den Verweis nicht hätte aussprechen dürfen.

5 4. Mit Beschluss vom 2. Februar 2023 hat das Truppendienstgericht ... die weitere Beschwerde als unbegründet zurückgewiesen. Der Disziplinarvorgesetzte sei zur Verhängung des Verweises berechtigt gewesen. Eine Tatbeteiligung liege nicht vor, da er nach der strafrechtlichen Begriffsbildung weder Mittäter, Gehilfe oder Anstifter der Tat sei. Er sei durch die Tat auch nicht persönlich verletzt, da lediglich dienstliche Befugnisse und keine Individualinteressen des Disziplinarvorgesetzten betroffen seien. Auch habe ein Befehl des Disziplinarvorgesetzten vorgelegen, gegen den der frühere Soldat verstoßen habe. Die Handlungsanweisung habe im Kontext des Mailverkehrs nur so verstanden werden können, dass eine Kommunikation zukünftig immer unter Beteiligung des genannten Personenkreises zu erfolgen habe. Die Rechtsbeschwerde wurde nicht zugelassen.

II

6 Die Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Rechtsbeschwerde ist zulässig, jedoch unbegründet. Der geltend gemachte Zulassungsgrund der grundsätzlichen Bedeutung (§ 22a Abs. 2 Nr. 1 WBO) liegt nicht vor.

7 1. Die Darlegung der grundsätzlichen Bedeutung einer Rechtssache erfordert die Formulierung einer bestimmten, höchstrichterlich noch ungeklärten und für die Rechtsbeschwerde entscheidungserheblichen Rechtsfrage des revisiblen Rechts, der eine allgemeine, über den Einzelfall hinausgehende Bedeutung zukommt (BVerwG, Beschlüsse vom 23. November 2011 - 1 WNB 5.11 - Rn. 2 und vom 12. April 2018 - 2 WNB 1.18 - juris Rn. 5, jeweils m. w. N.). Eine Rechtsfrage ist dann nicht klärungsbedürftig, wenn sie sich auch ohne Durchführung eines Rechtsbeschwerdeverfahrens auf der Grundlage des Gesetzeswortlauts mithilfe der üblichen Regeln sachgerechter Interpretation und auf der Grundlage der vorhandenen Rechtsprechung und Literatur ohne Weiteres beantworten lässt (stRspr, vgl. z. B. BVerwG, Beschluss vom 13. Juni 2014 - 1 WNB 1.14 - juris Rn. 4 m. w. N.). Nicht im Rechtsbeschwerdeverfahren klärungsfähig sind zudem Rechtsfragen, die sich nicht in verallgemeinerungsfähiger Form beantworten lassen, weil es maßgeblich auf konkrete Umstände des Einzelfalles ankommt (vgl. BVerwG, Beschlüsse vom 23. November 2011 - 1 WNB 5.11 - Rn. 5 und vom 3. Mai 2019 - 1 WNB 3.18 - juris Rn. 11 und 13).

8 2. Nach diesen Maßstäben bedarf die in der Beschwerde aufgeworfene Frage,
"ob der nächsthöhere Disziplinarvorgesetzte nach § 30 Abs. 1 Nr. 1 WDO zuständig und der nächste Disziplinarvorgesetzte damit unzuständig ist, wenn gegen einen von dem nächsten Disziplinarvorgesetzten erteilten Befehl verstoßen worden sein soll, ob der Begriff "selbst an der Tat beteiligt" in § 30 Abs. 1 Nr. 1 WDO auch die Mitwirkung als Zeuge umfasst",
keiner grundsätzlichen Klärung in einem Rechtsbeschwerdeverfahren. Sie kann auf der Grundlage der vorhandenen Rechtsprechung und Literatur nach den üblichen Regeln sachgerechter Interpretation beantwortet werden.

9 § 30 WDO behandelt den Fall des Übergangs der Disziplinarbefugnis auf den nächsthöheren Disziplinarvorgesetzten. Der Übergang erfolgt nach § 30 Abs. 1 Nr. 1 WDO kraft Gesetzes, wenn der Disziplinarvorgesetzte "selbst an der Tat beteiligt ist". Die Norm bringt durch die Verwendung des strafrechtlichen Begriffs der "Tat" anstelle des im Disziplinarrecht üblichen Begriffs des Dienstvergehens zum Ausdruck, dass auch die "Beteiligung" nach den strafrechtlichen Kategorien von Täterschaft und Teilnahme (Mittäter, Anstifter, Gehilfe etc.) zu bestimmen ist. Eine solche Beteiligung stellt disziplinarrechtlich selbst ein Dienstvergehen dar (BVerwG, Urteil vom 27. Juni 1995 - 2 WD 3.95 - BVerwGE 103, 246 <247>). Der Sinn und Zweck der Regelung wird daher darin gesehen, Disziplinarvorgesetzte kraft Gesetztes von disziplinarrechtlichen Ermittlungen und Entscheidungen auszuschließen, die selbst in das Geschehen durch eine schuldhafte Pflichtverletzung verstrickt sind oder bei denen ein entsprechender Tatverdacht besteht (vgl. Dau/Schütz, WDO, 8. Aufl. 2022, § 30 Rn. 9 f.). Denn sie können die disziplinare Aufsicht nicht in eigener Sache ausüben.

10 Außerhalb des Verdachts eines Dienstvergehens stehende Disziplinarvorgesetzte werden vom Normzweck nicht erfasst, auch wenn sie als Zeugen in Betracht kommen (vgl. Baden/v. Mitzlaff, WDO, 1. Aufl. 1957, § 19 Rn. 3). Zeugen sind schon nach dem allgemeinen Begriffsverständnis außenstehende Beobachter und nicht im Sinne von § 30 Abs. 1 Nr. 1 WDO "selbst an der Tat beteiligt". Der Einwand der Beschwerde, dass auch der Zeuge nicht die für einen Richter notwendige Distanz zur Sache habe, geht fehl. Der Disziplinarvorgesetzte hat nicht die Rolle des neutralen Richters, sondern des im Bereich der vollziehenden Gewalt tätigen Personalverantwortlichen, der die ihm unterstellten Soldaten führen, beaufsichtigen und kontrollieren muss. Er wird dadurch typischerweise Zeuge von deren Dienstpflichtverletzungen, ähnlich wie ein Polizeibeamter typischerweise Zeuge von Verkehrsverstößen wird, für die er Geldbußen verhängt. Dass § 29 Abs. 1 WDO den nächsten Disziplinarvorgesetzten in ähnlicher Weise mit der Ahndung von Dienstvergehen betraut, beruht auf der Erwägung, dass der nächste Disziplinarvorgesetzte seine Untergebenen am besten kennt und in erster Linie für ihre militärische Ausbildung, Erziehung und Disziplin verantwortlich ist (BT-Drs. 02/2181, zu § 18 S. 41). Wäre der befehlende Disziplinarvorgesetzte als Zeuge von der Zuständigkeit ausgeschlossen, würde dieser vom Gesetzgeber aufgestellte Grundsatz konterkariert.

11 3. Auch die weitere vom früheren Soldaten gestellte Frage,
ob der nächsthöhere Disziplinarvorgesetzte nach § 30 Abs. 2 Nr. 2 WDO zuständig ist und der nächste Disziplinarvorgesetzte damit unzuständig ist, wenn gegen einen von dem nächsten Disziplinarvorgesetzten erteilten Befehl verstoßen worden sein soll, ob (also) der Begriff "meldet" in § 30 Abs. 2 WDO auch das "melden müssen" umfasst,
rechtfertigt die Zulassung der Rechtsbeschwerde nicht, weil sich deren Beantwortung unmittelbar aus dem Gesetz ergibt. Nach § 30 Abs. 2 WDO sieht das Gesetz eine Zuständigkeit des nächsthöheren Disziplinarvorgesetzten vor, wenn der nächste Disziplinarvorgesetzte meldet, dass seine Disziplinarbefugnis nicht ausreicht (Nr. 1), er persönlich durch die Tat verletzt ist (Nr. 2) oder er sich für befangen hält (Nr. 3). Der eindeutige Wortlaut der Vorschrift knüpft den Wechsel der Disziplinarbefugnis somit an die Meldung an. Dafür spricht auch die Systematik des Gesetzes. Während § 30 Abs. 1 WDO eine unmittelbare Zuständigkeit des nächsthöheren Disziplinarvorgesetzten begründet, hängt dessen Zuständigkeit in den Fällen des § 30 Abs. 2 WDO vom zusätzlichen Erfordernis der Meldung ab. Dies verfolgt den Zweck, dass die notwendige objektive Rechtsklarheit über den Zuständigkeitswechsel und dessen Zeitpunkt in den Fällen gegeben ist, bei denen die Kompetenzverlagerung von einer subjektiven Bewertung, Betroffenheit oder Einschätzung des nächsten Disziplinarvorgesetzten abhängt. Im Umkehrschluss bedeutet dies, dass ein bloßes "melden müssen" nicht genügt. Dies entspricht auch dem Willen des Gesetzgebers. Die Regelung beruht auf einem Änderungsvorschlag des Bundesrats. Das Erfordernis der Meldung sollte verhindern, dass in diesen Fällen der nächsthöhere Disziplinarvorgesetzte gegen den Willen des nächsten Disziplinarvorgesetzten das Verfahren an sich zieht (BT-Drs. 02/2181, zu § 19 S. 68).

12 4. Die des Weiteren aufgeworfene Frage,
ob nach § 30 Abs. 2 Nr. 3 WDO der nächsthöhere Disziplinarvorgesetzte für die Verhängung einfacher Disziplinarmaßnahmen zuständig ist, wenn ein Grund vorliegt, der geeignet ist, Misstrauen gegen die Unparteilichkeit des nächsten Disziplinarvorgesetzten zu rechtfertigen,
würde sich in einem Rechtsbeschwerdeverfahren nicht stellen. Nach den nicht mit Verfahrensrügen angegriffenen Tatsachenfeststellungen des Truppendienstgerichts sind keine Gründe ersichtlich, die ein Misstrauen gegen die Unparteilichkeit des Disziplinarvorgesetzten begründen können. Es führt insbesondere aus, der Disziplinarvorgesetzte habe selbst nicht pflichtwidrig gehandelt. Im Übrigen hat der frühere Soldat den Disziplinarvorgesetzten auch nicht wegen Befangenheit abgelehnt.

13 5. Schließlich sind die Fragen,
ob die Formulierung "es wird immer [...] beteiligt" einen Befehl darstellen kann und ob ein Befehl im grammatikalischen Passiv erteilt werden kann,
im Rechtsbeschwerdeverfahren keiner verallgemeinerungsfähigen, über den Einzelfall hinausgehenden Klärung zugänglich. Nach § 2 Nr. 2 WStG ist als Befehl eine Anweisung zu einem bestimmten Verhalten anzusehen, die ein militärischer Vorgesetzter (§ 1 Abs. 3 SG) einem (militärischen) Untergebenen schriftlich, mündlich oder in sonstiger Weise, allgemein oder für den Einzelfall und mit dem Anspruch auf Gehorsam erteilt. Dabei ist nicht erforderlich, dass vom Anweisenden der Ausdruck "Befehl" verwendet wird (BVerwG, Beschluss vom 12. Oktober 1983 - 1 WB 128.82 - BVerwGE 76, 122). Maßgeblich ist der Erklärungsgehalt nach dem Empfängerhorizont eines objektiven Betrachters (BVerwG, Urteile vom 17. Januar 2013 - 2 WD 25.11 - juris Rn. 45 und vom 21. September 2023 - 2 WD 5.23 - NVwZ-RR 2024, 110 Rn. 16). Ob es sich bei der Anweisung vom 4. Februar 2022 aus der Sicht eines objektiven Dritten nach den Gesamtumständen um einen Befehl gehandelt hat, ist eine Frage der Anwendung dieses grundsätzlich geklärten Maßstabs im Einzelfall. Das Truppendienstgericht hat im vorliegenden Fall ausgeführt, dass es sich bei der Formulierung im Kontext des Schriftverkehrs um eine hinreichend konkrete Handlungsanweisung mit Anspruch auf Gehorsam und damit um einen Befehl gehandelt habe. Dies lässt keine grundsätzliche Verkennung des Befehlsbegriffs erkennen.

14 6. Die Kostenentscheidung beruht auf § 23a Abs. 2 Satz 1 WBO i. V. m. § 154 Abs. 2 VwGO.